© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    15/03 04. April 2003

 
Das Gift der Bequemlichkeit
von Doris Neujahr

Zugegeben, der Unterhaltungswert von Sätzen wie: "Deutschland jammert auf hohem Niveau", oder: "Unsere Sorgen möchten andere haben!", hält sich längst in Grenzen. Trotzdem muß man sie zitieren, weil sie zum Teil erklären, warum die Situation, über die jeder klagt, bisher kaum jemanden aktiviert hat.

Wer nicht an das Schlimmste denken will, ist dazu nicht gezwungen, wobei hinter der Denkverweigerung häufig die heimliche Furcht steckt, daß dieses Schlimmste noch dramatischer sein könnte, als man es sich vorzustellen wagt. Jeder weiß für sich, daß es im Prinzip bergab geht, doch den meisten einzelnen geht es noch lange nicht so schlecht, als daß sie nicht glauben könnten, sie selber seien eine Ausnahme.

Der überraschende Erfolg der "New Economy" hatte diesen Illusionismus noch bestärkt, so wie ihr Zusammenbruch ihn jetzt zusätzlich verlängert. Das ist paradox, aber erklärbar: Ein traditionell börsenresistentes Volk, das sich zögernd aufgerafft hatte, der angemahnten Eigenverantwortung gerecht zu werden und Aktien zu kaufen, mußte einsehen, daß es einem Weihnachtsmärchen aufgesessen war. Die "New-Economy"-Pleite wird als ein Vertrauensbruch von Politik und Wirtschaft empfunden. Nun sagt das Publikum sich erst recht: Was man hat, das hat man, während Veränderungen auf jeden Fall Betrug und Verschlechterung bedeuten!

Aus dieser Perspektive werden die Symptome der sozial-ökonomischen Krise wahrgenommen. Gewiß, die Krankenkassen sind nicht mehr so großzügig wie ehedem, doch wer ernsthaft erkrankt, bekommt natürlich die notwendige Behandlung. Rente? Arbeitslosigkeit? Das eine hat noch Zeit, und das andere bedeutet nicht zwangsläufig existentielle Not. Deutschlands internationales Prestige sinkt zwar, aber das Hotelpersonal an der kroatischen Adriaküste läßt sich davon nichts anmerken. Kurzum: Es ist eine wattierte Krise, und sie verführt zur Bequemlichkeit. Vernünftigerweise müßte sie als Ansporn wirken, denn selten ließ sich so komfortabel über einen Ausweg aus der selbstdurchlebten Krise nachdenken.

Warum ergibt man sich der Trägheit, statt die Zeitreserven offensiv zu nutzen? Die Frage primär auf der Ebene der Individualpsychologie zu beantworten, geht fehl. Auch der entschlossenste Ausnahmepolitiker sieht sich heute in die Position eines Laokoon versetzt, der von den vorgefundenen Entscheidungsstrukturen schlangengleich in Fesseln geschlagen wird. Das heißt, die wirtschaftlich-soziale muß zunächst auf eine politisch-institutionelle Krise zurückgeführt werden.

Diese äußert sich vor allem in der Unfähigkeit der politischen Institutionen zu Entscheidungen. Sabine Christiansen sei der Erfolg ihrer Talkshow gegönnt, doch das unverbindliche Palaver am Sonntag erinnert die Bürger daran, daß der Bundestag als zentrales und halbwegs niveauvolles Diskussionsforum ausgedient hat. Schon unter Helmut Kohl hatte sich die Entscheidungsgewalt vom Parlament und der Regierung in die Kommissionen, Experten-, Koalitions-, Kamin- und Kanzlerrunden verlagert, wo Lobbygruppen die gewählten Volksvertreter zu Statisten degradierten. Heute bilden die Gewerkschaften ein von der Verfassung nicht vorgesehenes faktisches Oberhaus mit Vetomacht. Hinzu kommt ein Föderalismus, der statt zur Gestaltung nur noch zu Blockade und Umverteilung gut ist, weil die meisten Bundesländer gar nicht lebensfähig sind.

Vorschläge zur Abhilfe liegen seit Jahrzehnten auf dem Tisch. Zum Beispiel die Einführung des Mehrheitswahlrechts, das erstens für klare Mehrheiten und zweitens für selbstbewußte Parlamentarier sorgen könnte, die drittens weniger auf ihre Parteien und dafür stärker auf ihre Wähler verpflichtet sind. Erforderlich wäre ein Neuzuschnitt der Länder, damit diese ihre Politik selber finanzieren und verantworten könnten. Ihre Abhängigkeit vom Bund würde sich verringern, und umgekehrt würden sie sich weniger in dessen Kompetenzen verkeilen. Bei der Rekrutierung der politischen Eliten müssen Verfahren entwickelt werden, welche verhindern, daß vorzugsweise diejenigen in hohe Ämter einrücken, die bereits als 15jährige begonnen haben, Netzwerke zu knüpfen, und in der Folge ohne Berufs- und Lebenserfahrung außerhalb des inzestuösen Politikbetriebs sind.

Nichts davon hat absehbar die Chance, verwirklicht zu werden. "Emanzipation", "Fortschritt" und "Modernisierung" finden hierzulande nur reguliert, quotiert, etatisiert, ideologisiert statt. Kaum haben die Landtagswahlergebnisse in Hessen und Niedersachsen eine zweite Amtsperiode von Bundespräsident Rau unwahrscheinlich gemacht, verfängt ausgerechet CSU-Chef Stoiber sich im postfeministischen Quotengestrüpp und fordert, es müsse eine Frau sein, die ihm nachfolge. Widerspruch gegen die Eingrenzung der Kandidatenauswahl wird nicht gewagt, allenfalls ergänzt man, die Frau müsse "aus dem Osten" komme. Warum nicht, wenn sie die beste ist? Was aber, wenn weder eine West- noch eine Ostfrau einem männlichen Kandidaten das Wasser reichen kann? Die Kandidatenfrage müßte politisch (nicht parteipolitisch!) diskutiert werden: Wer verkörpert die Wunschkombination aus politischem Takt, intellektuellem Format und Charisma am besten? Doch nichts da, das Präsidentenamt bleibt im Sumpf aus Zeitgeistigkeit und parteipolitischer Pfründewirtschaft stecken.

Als kürzlich Politiker parteiübergreifend forderten, die Zahl der Bundesländer entscheidend zu senken, erhob sich in der Regionalpresse vom Saarland bis Sachsen ein einhelliges Geschrei. Berlin und Brandenburg, zwischen denen die Separierung am meisten unsinnig und unhistorisch ist, gehen frühestens 2009 zusammen. Inzwischen läßt die enorme Verschuldung der Hauptstadt selbst diesen Termin wieder als unsicher erscheinen. Das sind die Zeiträume, über die man sich beim Stichwort "Reform" realistischerweise unterhält.

Kohärente Politikansätze sind zur Zeit nicht in Sicht. 1998 war noch von einem "Rotgrünen Reformprojekt" die Rede, das sich als eine Ansammlung von Verbesserungsphantasien herausstellte, die zum Glück im politischen Alltag versandeten. Die Gegenseite fordert - wenn überhaupt - die Rückkehr zu bürgerlichen Werten, doch auch diese Begriffe schillern im demagogischen Halblicht. Wenn ein Hauptverantwortlicher des Milliardenbankrotts der Berliner Landesbank und ehemaliger CDU-Boß, der jetzt ungeniert eine Pension von 20.000 Euro monatlich einstreicht, einer "bürgerlichen" Zeitung unwidersprochen erklären kann, die Hauptstadt müsse, um aus der Krise herauszufinden, eben die "Bürgertugenden" wiederentdecken, signalisiert dies ein geistig-moralisches Desaster und einen Zynismus, der den von Rotgrün noch übertrifft.

Parteien sind nicht alles, doch wo sind die anderen? Die Wahrheit ist, daß die wirtschaftlich-soziale und politisch-institutionelle Krise einer konzeptionellen Ratlosigkeit und geistig-mentalen Lähmung in der Gesellschaft entspricht. Wichtiger als negative Konjunkturdaten oder einzelne Fehler im politischen Handwerk sind der unfaßbare Kleinmut und das fehlende Selbstvertrauen, mit denen ihnen begegnet wird. Es gibt nach wie vor viel ökonomische, finanzielle, soziale, geistige usw. Substanz in diesem Land, die darauf wartet, aktiviert zu werden. Das Ausbleiben eines Weckrufs ist um so merkwürdiger ist, weil Deutschland mit dem Wiederaufbau und dem "Wirtschaftswunder" nach dem Zweiten Weltkrieg über geschichtliche Beispiele verfügt, die anschaulich machen, daß Stabilität ohne Dynamik nicht zu haben und Dynamik möglich ist, und daß ihre Risiken sich begrenzen und steuern lassen. Obwohl das "Wirtschaftswunder" zu den offiziellen Gründungsmythen der Bundesrepublik gehört, wird von ihm kein Gebrauch gemacht. Warum?

Zwei Gründe scheinen dafür maßgeblich zu sein. Erstens handelt es sich um einen versachlichten, materialistischen, kapitalistischen Mythos, der geistig neutral, kulturell glanzlos und in ästhetischer Hinsicht "kleinbürgerlich" wirkt. Einer sich postmateriell definierenden Gesellschaft fällt es schwer, ihn als ein verpflichtendes und identitätstiftendes Erbe zu begreifen. Der Wiederaufbau, je weiter er zurückliegt, wird als ein geschäftsmäßiger Vorgang erinnert, der sich auf die nachfolgenden Generationen naturgesetzlich fortzuschreiben hat. Als motivierender Bezugspunkt ist er nicht mehr abrufbar. Eher verbindet sich mit ihm ein Gefühl von Peinlichkeit. Die verwöhnten Kinder neureicher Eltern schämen sich der plebejischen Wurzeln ihrer Familie!

Das "Wirtschaftswunder" wurde in den letzten zwanzig, dreißig Jahren vorwiegend als ein Verdrängungsakt amnesiesüchtiger Kriegsverlierer beschrieben. Appellen von der Art: "Wir sind und bleiben das Tätervolk", ist jener starke emotionale und moralische Impuls zu eigen, den das "Wirtschaftswunder" nicht besitzt. Hier liegt der zweite Grund für den allgemeinen Mißmut. Das Negative steht so gebieterisch im Mittelpunkt, daß der Blick auf jeden positiven Traditionsbezug verstellt ist. Verbaut ist aber auch eine streng rationalisierte, kommunitaristische Alternative. Die Identität, die für Deutschland propagiert wurde, ist negativ, singulär, hypernationalistisch und in der Summe destruktiv.

Die Reformanstrengungen, zu denen die Deutschen jetzt innerlich bereit sein müßten, bedeuten, in die Sprache der Soziologie übertragen, eine Steigerung der Selbstzwänge und Versagungen, zu der Mitglieder einer zivilisierten Gesellschaft generell gezwungen sind. Solche individuellen Zwänge bedürfen, um erträglich zu sein, der Kompensation durch eine kollektive "Lustprämie", konkret: einer "Belohnung durch das Gefühl des besonderen Wertes, ein Bundesdeutscher zu sein"(Norbert Elias). Die große Hilfsbereitschaft während der Flutkatastrophe im vergangenen Sommer hat gezeigt, daß motivierte Menschen nicht nur dazu bereit sind, sondern sogar eine große Befriedigung daraus ziehen, den Horizont des Eigeninteresses zu überschreiten.

Im Sommer 2002 war der Notfall konkret und anschaulich. Die Notwendigkeit komplexer Reformen aber läßt sich nur abstrakt vermitteln, eine kurzfristige Belohnung für den gesteigerten Selbstzwang in Form von Verzicht kann nicht in Aussicht gestellt werden. Das lohnende "Gefühl eines besonderen Wertes" müßte folglich nicht bloß situationsgebunden, dafür längerfristig fundiert sein. Doch welche Belohnung kann darin liegen, unentrinnbar der Abkömmling eines "Tätervolkes" zu sein? Bequemer ist es allemal, sich die Zukunft der Gesellschaft als die bloße Verlängerung der Gegenwart vorzustellen und "Selbstverantwortung" in Form von Egoismus wahrzunehmen. Der Reformstau in Deutschland ist der Beweis, daß eine vergiftete kollektive Psyche die Individuen zu keinem verantwortlichen und moralischen Handeln führt, sondern zu einer "weichlichen Humanität, in der die Humanitas verloren ist (und ) mit blutleeren Idealen das Elendeste und Zufälligste" rechtfertigt. (Karl Jaspers)

Es rächt sich, daß die kollektive Sinnfrage, die im Zuge der Wiedervereinigung bereits anstand, denunziert und unterdrückt wurde. Mit der Freude, die 1989/90 diesseits und jenseits der Elbe herrschte, wurde auch die Reformdynamik gedeckelt. Die einzige Idee, die heute jenseits der Sonntagsreden lebhaft diskutiert wird, ist der hundertprozentige Westlohn für die Ex-DDR.

In diesem mentalen Zustand hat eine vernünftige Politik es schwer. Das politische und gesellschaftliche Leben wird ja nicht nur durch den Buchstaben von Verfassung und Gesetz geprägt, sondern auch vom herrschenden Geist. Ein positives Wir-Gefühl meint keinen nationalen Dünkel, es meint den Frieden und die Balance im Innern, die für rationale Problemlösungen unerläßlich sind. Es meint Vertrauen. Vertrauen heißt, daß alle konkurrierenden Gruppen und Lager verinnerlicht haben, daß sie in jedem Fall auf die anderen Konfliktparteien angewiesen bleiben und sie zusammen eine Schicksals- und Überlebensgemeinschaft bilden. Die stärkere Partei darf die Konflikte nicht über einen gewissen Punkt verschleppen bzw. treiben lassen, und die schwächere muß darauf vertrauen können, daß sie keinesfalls unterjocht oder eliminiert wird.

Die Anfälle von Hysterie, die dieses Land schubweise befallen, zeigen, wie weit Deutschland von einer Kultur souveräner Konfliktaustragung entfernt ist. Die abstruse Rhetorik der Gewerkschaften, die die kleinsten Änderungsvorschläge an Gesetzen, welche nachweislich die Zementierung von Massenarbeitslosigkeit bewirken, sofort als Ausdruck von "sozialer Kälte" oder "Neoliberalismus" brandmarken, findet hier zumindest eine Teilerklärung. Mit Klientelpolitik oder Realitätsblindheit läßt dieser Standpunkt sich nicht hinreichend begründen.

Es wirkt nicht nur verantwortungslos, sondern schon selbstzerstörerisch, wenn der DGB zur Vermeidung finanzieller Engpässe in den Sozialsystemen eine weitere Erhöhung der Staatsverschuldung fordert, weil er damit für zukünftige Generationen den Sozialstaat (und damit seine eigene Berechtigung) unterminiert. Diese Unbeweglichkeit ist das Echo einer - nach geschichtlichen Katastrophen einigermaßen verständlichen - Urangst der Gewerkschaften, eines Tages wieder schwach und wehrlos zu sein. Weil ein gesellschaftliches Grundvertrauen in den "Geist" des Landes nicht ausreichend verhanden ist, soll die politische und ökonomische Zukunft in Buchstaben gegossen, formalisiert und bürokratisiert werden. Die vielbeklagte Bürokratie in Deutschland ist die Kehrseite einer allgemeinen Furcht, einer kollektiven Verunsicherung, die fast sechzig Jahre nach Kriegsende nicht überwunden worden ist.

Die nötige Mentalitätsänderung braucht Zeit, die man nicht hat, und wer soll ihr Motor sein? Die etablierten Institutionen, Parteien und Organisationen sind dazu erkennbar nicht in der Lage, ihre Strukturen sind das, was Karl Jaspers auf dem Höhepunkt einer weitaus schlimmeren Krise Anfang der dreißiger Jahre als "Formen" der "Verkehrung der Freiheit" bezeichnete, die das Individuum wie das Politische korrumpieren: "Sie haben eine Atmosphäre geschaffen, welche das Dasein des Einzelnen verführt, in einer anerkannten Gestalt des Tuns zum allgemeinen Besten sich selbst zu entfliehen. (...) Entscheidungslosigkeit wurde zur Form des Friedens."

Der Politikwissenschaftler Franz Walter hat daher kürzlich in der Welt die Frage gestellt, ob dies nicht die Stunde der charismatischen Persönlichkeiten sei. Das ist eine ebenso reizvolle wie riskante Denkfigur. Das Beispiel Gerhard Schröders zeigt, daß dieses Charisma mehr sein muß als ein affektiertes Mediencharisma, es muß aus einer inneren, geistigen Stärke kommen.

Der Charismatiker muß auf Geist und Buchstaben der Demokratie verpflichtet sein und gleichzeitig über genug intellektuelle Schärfe und charakterliches Format verfügen, um die Essenz der Demokratie von ihren korrumpierten und manipulierten Formen zu unterscheiden und für das Publikum unterscheidbar zu machen. Nötig wäre der Mut zur vorübergehenden Einflußlosigkeit, zum "Wagnis der Isolierung", wie Jaspers es nennt: "Die Distanz zur Welt gibt ihm seine Freiheit, die Einsenkung sein Sein." Und weiter: "Fragt man heute verzweifelt, was in dieser Welt denn noch übrigbleibe, so ist für jeden die Antwort: was du bist, weil du kannst. Die geistige Situation erzwingt heute den bewußten Kampf des Menschen, jedes einzelnen, um sein eigentliches Wesen."

Bis dieser Kampf im Innern gewonnen ist, werden die Dinge draußen weiter ihren schlechten Gang gehen. Ab einem bestimmten Punkt aber würde dem Ruf des echten Charismatikers Vertrauen geschenkt werden.

 

Doris Neujahr schrieb zuletzt über DDR-Nostalgie im Kinofilm "Good bye, Lenin" (JF 11/03).


 
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