© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/03 11. April 2003


Warten auf den Kollaps

Der Kanzler will die Wirtschaftskrise Deutschlands aussitzen
Paul Rosen

Der Krieg dominiert die Medienberichterstattung. Nach den Nachrichten aus dem Irak folgt oft ohne andere Mitteilungen der Wetterbericht. Doch der Eindruck, es herrsche Ruhe in Deutschland und die Bundesrepublik gehe unauffällig ihren Weg, ist falsch. Vielmehr trudelt das Staatsschiff führungslos dahin. Der Kapitän redet zwar von seiner "Agenda 2010", läßt aber weitgehend offen, was damit gemeint ist.

Nur einige wenige Beispiele vom Anfang dieser Woche zeigen, daß die Welt in Deutschland nicht in Ordnung ist. Der Chef-Wirtschaftsberater der Bundesregierung, Bert Rürup, der in die Fußstapfen des inzwischen aus der Mode gekommenen VW-Personalchefs Hartz getreten ist, läßt wissen, daß eine neue Rentenformel noch in diesem Jahr dringend notwendig wäre, um einen weiteren Anstieg der Rentenbeiträge zu verhindern. Schon jetzt sind die Kosten durch die Sozialbeiträge in Deutschland so hoch, daß viele junge Leute das Land verlassen, weil sie selbst im einstmals armen Irland heute als Gastarbeiter netto mehr verdienen als hierzulande. Mitte der siebziger Jahre lagen die Sozialabgaben noch bei 25 Prozent der Bruttolöhne, heute sind es über 40 Prozent.

Nur mit Produktivitätssteigerung und höherem Wachstum lassen sich die hohen deutschen Arbeitskosten nicht mehr auffangen. Höheres Wachstum haben heute die Schwellen- und Entwicklungsländer von einst, wie Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber bei seinem jüngsten Besuch in der Volksrepublik China erfahren durfte. Ein Deutscher hatte zwar den Computer erfunden, aber die meisten Bauteile für die in der Bundesrepublik laufenden Rechner kommen heute aus asiatischen Ländern.

Um noch etwas bei Rürup zu bleiben: Der Darmstädter Finanzwissenschaftler bestätigte auch zum Wochenanfang, was die Opposition schon seit längerem behauptet: Die offizielle Wachstumsprognose von einem Prozent ist nicht mehr zu halten. Rürup geht von einem deutlich geringeren Wachstum aus, was bedeutet, daß der von Bundeskanzler Gerhard Schröder vollmundig angekündigte Abbau der Arbeitslosigkeit nicht zu schaffen ist. Schon läßt die deutsche Wirtschaft wissen, man habe das Jahr 2003 eigentlich schon abgeschrieben. Die Zahl der Arbeitslosen verharrt - trotz statistischer Tricks - bei 4,6 Millionen.

Weiter liest man allenfalls in kurzen Zeitungsnotizen, daß der Bundeshaushalt durch falsche Annahmen bezüglich der Kosten der Arbeitslosigkeit und des Wirtschaftswachstums die Grenzen des Maastrichter Stabilitätspaktes verfehlen wird. Der Euro wird, und daran ändert auch seine gegenwertige Stärke im Verhältnis zum US-Dollar nichts, zur Weichwährung. Niemanden scheint es zu interessieren, daß die Vorgaben der Europäischen Zentralbank für die Höhe der Preissteigerungsrate nicht eingehalten werden können. Bundesfinanzminister Hans Eichel, der sich einst als SPD-Sparkönig feiern ließ, nimmt alles gelassen hin. Nachfragen gibt es nicht, der Krieg im Irak zieht das öffentliche Interesse auf sich.

Bei den Sozialsystemen krankt nicht nur die Rentenversicherung. Die Rücklagen der zu Zeiten von CDU-Sozialminister Norbert Blüm eingeführten Pflegeversicherung werden schneller als erwartet reduziert. Es ist nur eine Frage von wenigen Jahren, wann dieser neue Zweig der Sozialversicherung den Offenbarungseid leisten muß und die Beiträge angehoben werden müssen, wenn man die Leistungen nicht reduzieren will. Doch keine Hand der Berliner Politiker rührt sich.

Die Krankenversicherten werden mit einer Reihe von schlechten Nachrichten überflutet, die sich aber auch nur auf den hinteren Zeitungsseiten finden. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) verwirrt mit einer Serie von Vorschlägen, die sich teilweise widersprechen. Festzustehen scheint bisher, daß das Krankengeld aus dem Katalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gestrichen werden soll. Die deutschen Arbeitnehmer wären damit bei längerer Krankheit auf die Sozialhilfe angewiesen, es sei denn, sie versichern sich für bis zu 60 Euro im Monat bei einer privaten Versicherung.

Ältere Arbeitnehmer müssen sich darauf einstellen, daß es bei einer Entlassung nicht mehr so lange Arbeitslosengeld gibt. Und jüngere Arbeitnehmer sollen davon ausgehen, daß der Kündigungsschutz für sie nicht mehr oder nur noch eingeschränkt gelten könnte. Jede dieser Nachrichten hätte für sich alleine zu Helmut Kohls Zeiten einen von der SPD unterstützten Marsch der Gewerkschaften auf Bonn bedeutet. Hunderttausende wären in den Hofgarten gekommen. Und heute? Der Krieg, beziehungsweise die Berichterstattung über ihn, läßt die Nachrichten auf Meldungsgröße schrumpfen. Außerdem kann nicht einmal gesagt werden, welche Reformen überhaupt durch die parlamentarischen Gremien gehen oder durch die Selbstblockade des politischen Betriebs versanden.

Schröder kommt diese Entwicklung nicht ungelegen. Schon immer bestand das Spiel des Niedersachsen darin, auf günstige Gelegenheiten zu warten und diese dann auszunutzen, um Zeit zu gewinnen. Eigentlich regierte Schröder jahrelang in Niedersachsen mit dem Prinzip der Ablenkung. Für jede schlechte Entwicklung war die Bundesregierung verantwortlich. Da er in Berlin nun selbst an der Macht ist, bringt er andere Faktoren ins Spiel, beziehungsweise nutzt sie aus: Erst war es die CDU-Spendenaffäre, mit der er sich über die Runden rettete. Im letzten Bundestagswahlkampf zauberte er erst die Hartz-Kommission wie ein Kaninchen aus dem Hut, dann half ihm die Elbeflut und schließlich die Pazifismus-Debatte, mit der er knapp die Bundestagswahl 2002 gewann.

Jetzt profitiert Schröder wieder, so bitter es klingt, von einem Krieg, den er nie wollte, und den er nicht verhindern konnte, obwohl er das wollte. Würden die USA nicht Bagdad bombardieren, würde sich die deutsche Öffentlichkeit mit einem Kanzler beschäftigen, der kein stimmiges Konzept hat, um den Marsch in den Schuldenstaat aufzuhalten, den Kollaps der Sozialsysteme zu verhindern und die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen. In der SPD läuft nicht nur der linke Parteiflügel Sturm gegen die Pläne des Kanzlers. Der weitverbreitete Unmut führt inzwischen zu einer großen Zahl von Parteiaustritten.

Aber auch die Opposition profitiert ein wenig vom Krieg. Die Möllemann-Affäre bei der FDP ist in Vergessenheit geraten, und die Tatsache, daß die CDU unter Führung von Angela Merkel auch nicht richtig weiß, wie es weitergehen soll, interessiert niemanden. Aber der Krieg ist eines Tages vorbei, und dann wird sich das Publikum die Augen reiben und erstaunt feststellen, daß Deutschland immer noch ein Sanierungsfall ist.


 
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