© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/03 11. April 2003

 
"So war das nicht gedacht"
Interview: Harlan Ullman, Erfinder der amerikanischen "Shock and Awe"-Strategie, über die falsche Umsetzung seines Konzeptes im Krieg gegen den Irak
Moritz Schwarz

Herr Dr. Ullman, Sie gelten als einer der wichtigsten Vordenker amerikanischer Militärtheorie. Zu Ihren Schülern gehörte unter anderem auch der kommandierende US-General im 2. Golfkrieg von 1991 und heutige amerikanische Außenminister Colin Powell. Für den nunmehr drei Wochen andauernden Feldzug gegen den Irak hatte das Pentagon ursprünglich mit einem einfachen Durchmarsch durch die Wüste und mit einer schweren Schlacht um Bagdad gerechnet. Bislang war aber eher der Marsch durch die Wüste von Hindernissen geprägt, während die ersten Vorstöße in die Hauptstadt, gar bis ins Zentrum Bagdads, auf vergleichsweise geringen Widerstand gestoßen sind.

Ullman: Nein, an sich lief unser Vormarsch von Anfang an gut. Sicher, es ist nicht gelungen, die irakische Führung auf Anhieb auszuschalten, aber trotz des Sandsturms und der Widerstandsnester überall im Land haben wir in ganz außergewöhnlich kurzer Zeit Bagdad erreicht. Weitere Gesichtspunkte unserer Planung waren, einen Beschuß Israels durch Saddam zu verhindern, die Ölquellen des Irak vor dem in-Brand-stecken zu bewahren und die Zivilbevölkerung zu schonen. Alles Planziele, die weitgehend erreicht worden sind. Natürlich ist es richtig, daß mit der Verweigerung eines Durchmarsches durch die Türkei ein wesentliches Element unserer Planung - der Aufbau einer Nordfront - nicht in die Tat umgesetzt werden konnte, was uns die Sache natürlich nicht leichter macht. Außerdem haben wir den Krieg zwei Tage früher begonnen, als ursprünglich geplant, weil wir Informationen darüber erhalten hatten, wo sich Saddam Hussein zum damaligen Zeitpunkt aufgehalten hat. In der Hoffnung, ihn zu erwischen, haben wir vorzeitig losgeschlagen. Auch hatten wir Kontakte zu irakischen Generälen und hofften, diese würden im Moment des ersten Angriffs unter dem Eindruck unserer Wucht kapitulieren. Als wir also den Kampf eröffneten, taten wir das nicht mit aller Macht, weil wir noch auf erste Kapitulationen hofften. Daß diese dann ausblieben, bedeutet aber nicht, daß unser Plan fehlgeschlagen ist. Denn der Plan ist flexibel genug konzipiert, um nun die Ziele auf konventionellem militärischen Wege zu erreichen. Die Offensive lief und läuft prächtig - was dagegen allerdings gar nicht prächtig läuft, ist unsere PR-Kampagne.

Dennoch üben Sie auch an der militärischen Strategie Kritik.

Ullman: Nun, ich stelle Fragen: Zum Beispiel gelang es während des Sandsturms in der ersten Woche schweren irakischen Einheiten, in den Süden des Landes vorzustoßen. Wir haben Luftaufklärungsflugzeuge mit Infrarotsensoren, die können auch durch Sandstürme hindurchsehen, und wir haben die absolute Luftherrschaft. Ich hätte erwartet, daß man eine Formation mit mehreren tausend Fahrzeugen, die sich offen über eine weite Strecke bewegt, ausschalten kann. Überhaupt haben die Luftangriffe ihren Zweck nicht erfüllt. So blieben zum Beispiel in Basra, immerhin die zweitgrößte Stadt des Irak, die Zentrale der Baath-Partei ebenso wie die Hauptwache der Polizei zunächst unzerstört. Und warum wurde die Medina-Division nicht sofort von unserer Luftwaffe auseinandergenommen? Dagegen richteten sich die Bombenangriffe hauptsächlich auf die Hauptstadt Bagdad - so war das aber nicht gedacht.

Sie sind der Verfasser des Konzeptes "Shock and Awe" - zu Deutsch "Schock und Entsetzen" - der Strategie der US-Streitkräfte zur Eroberung des Irak. Allerdings legen stellen Sie klar, daß es sich beim Vormarsch im Irak mitnichten um die Verwirklichung des von Ihnen entwickelten Konzeptes handelt.

Ullman: Entwickelt hat das Konzept meine Arbeitsgruppe, nicht ich alleine. Doch in der Tat, als mir zu Ohren kam, daß das, was wir da im Irak veranstalteten, "Schock und Entsetzen" sein sollte, war der einzige, der wirklich schockiert und entsetzt war, ich selbst.

Was ist falsch gelaufen?

Ullman: Nichts, es handelt sich schlicht nicht um die Umsetzung unseres Konzeptes. Journalisten haben "Schock und Entsetzen" oft als eine moderne Art des "moral bombing" - der Strategie, mit der die Royal Air Force im Zweiten Weltkrieg Deutschland in Schutt und Asche legte, um die Zivilbevölkerung zu demoralisieren - dargestellt. Daß heißt, es wird nahegelegt, es gehe darum, die Iraker mit einem massiven Bombardement solange zu terrorisieren, bis sie klein beigeben. Genau darum geht es aber bei "Schock und Entsetzen" gerade nicht. Aber die Menschen in aller Welt, die die Bilder von Bagdad im Bombenhagel gesehen haben, nehmen das natürlich als Bestätigung, daß nur das mit "Schock und Entsetzen" gemeint gewesen sein kann. Allerdings muß ich zugeben, daß wir diesem Mißverständnis natürlich noch weiter Vorschub geleistet haben, indem der amerikanische Pressedienst parallel zu den Bildern aus Bagdad die Formel "Schock und Entsetzen" in Umlauf gebracht hat. Das hat natürlich diejenigen in aller Welt erst recht aufgebracht, die den USA gegenüber sowieso nicht freundlich gesonnen sind.

Was verbirgt sich dann hinter der von Ihnen entwickelten Strategie?

Ullman: Es geht darum, die militärische Struktur des Gegners so zu erschüttern, daß diese beim ersten Anprall unserer Streitkräfte kollabiert und militärisches Chaos ausbricht. Es geht nicht darum, der Zivilbevölkerung die Macht unserer Waffen in gewitterartigen Bombardements zu zeigen und auf diese Weise ihre Moral zu brechen. Nicht die Zivilisten, sondern die Militärs sind das Ziel. Wenn es gelungen wäre, Saddams militärische und politische Machtstruktur zu zerbrechen, dann wäre es vielleicht zum Putsch gegen ihn gekommen, der uns einen längeren Krieg auf Kosten der Zivilbevölkerung erspart hätte. Voraussetzung für "Schock und Entsetzen" ist, den Feind zunächst völlig zu verstehen: Was sind seine Motive? Was denkt und fühlt er? Wie funktioniert er? Um die Klärung dieser Fragen haben wir uns nicht wirklich bemüht, sonst hätten wir nicht den Widerstandswillen der Iraker so falsch eingeschätzt. Weiter ist Geschwindigkeit ein ganz entscheidender Faktor, es geht darum, den Gegner völlig zu überraschen, doch das ist nicht gelungen. Drittens muß man die totale Kontrolle über das gesamte Kampffeld ausüben, daß heißt, in der Lage sein, Bewegung und Kommunikation des Gegners völlig zu unterbinden. Wir aber hatten anfangs nicht einmal das irakische Fernsehen ausgeschaltet und so die Kommunikation Saddams mit dem irakischen Volk nicht verhindert. Und in Anbetracht der Faustregel, daß das "was sich bewegt, tot ist", kann man bei den bereits erwähnten irakischen Bewegungen während des Sandsturms nicht von einer Einhaltung der Grundregeln des Konzeptes "Schock und Entsetzen" sprechen.

Kritiker haben gespottet, die amerikanischen Soldaten seien schockiert und entsetzt gewesen, als sich der Widerstand der Iraker als stärker erwies, als ursprünglich angenommen.

Ullman: Das ist eine Übertreibung. Wenn es Saddam allerdings gelingt, sich zurückzuziehen und in Sicherheit zu bringen, dann ist es nicht ausgeschlossen, daß der Irak trotz der Einnahme Bagdads eine Kombination aus Tschetschenien, dem Libanon und Nord-Irland werden wird: Man sitzt in einer feindseligen Umgebung, es gibt häßliche Anschläge und man hat ein Schlamassel am Hals, das noch lange Zeit enorme Kräfte binden wird. Es wurde aber ebenfalls gesagt, das Pentagon hätte zu wenig Kräfte für den Krieg zu Lande angesetzt. Das ist schlichtweg Unsinn, das Feldheer ist auf jeden Fall groß genug, um den Krieg zu gewinnen. Wozu es allerdings zu klein ist, ist, den Frieden zu gewinnen. Es liegt eine gewisse Ironie darin, daß wir auf dem Schlachtfeld immer weniger Soldaten brauchen, weil unsere Waffentechnologie immer fortschrittlicher wird. Gleichzeitig aber brauchen wir immer mehr Soldaten, um den Frieden, den wir zuvor erkämpft haben, auch zu bewahren. Da liegt das Problem.

Sie haben das Konzept "Schock und Entsetzen" vom "moral bombing" der Briten während des Zweiten Weltkrieges abgegrenzt, Hiroshima zählen Sie allerdings zu den Vorläufern von "Schock und Entsetzen".

Ullman: Ich habe, "Schock und Entsetzen" insofern vom "moral bombing" unterschieden, als die Briten einen anderen Ansatz hatten - zivile Ziele statt militärische. Aber natürlich hat "Schock und Entsetzen" seine Vorläufer. Dazu gehört ebenso die brillante Blitzkriegtaktik der deutschen Wehrmacht wie auch Hiroshima. Wenn man allerdings versucht, zu erklären warum, dann reagieren die meisten Leute sofort entsetzt und rufen: "Sie können doch nicht Bagdad atomisieren!" - Nein, natürlich nicht! 1945 hatten wir es in Japan mit einem Volk zu tun, das eher bereit war zu sterben, als sich besetzen zu lassen. Wir belagerten bereits das japanische Mutterland von See aus und sandten jede Nacht unsere B-29 Superfortress-Bomber aus, die die japanische Zivilbevölkerung bei konventionellen Bombenangriffen zu Hunderttausenden töteten - wir haben mehr japanische Zivilisten mit Brandbomben als mit den beiden Atombombe umgebracht - alles ohne Erfolg. Bei der Eroberung der Insel Saipan mußten wir nicht nur fast alle japanischen Verteidiger töten, obendrein begingen auch viele Zivilisten Selbstmord. Für die Invasion Japans schätzen wir die Verluste auf unserer Seite auf eine Million Mann, und Gott weiß, ob auf japanischer Seite überhaupt jemand überlebt hätte. Das war die Situation. Also warfen wir die Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki - da gaben sie auf. Warum? Weil es uns gelang, die japanische Mentalität des Widerstands bis zum Tod in Resignation zu verwandeln. Wie? Zwar haben wir zuvor viel mehr Japaner getötet, aber wir brauchten dazu viele Flugzeuge, viele Bomben, viele Angriffe. Plötzlich aber hieß die Formel: Ein Flugzeug, eine Bombe, eine Stadt! - Und ihr Wille brach. Denn darauf waren sie nicht vorbereitet, sie waren so schockiert und entsetzt, daß ihr Widerstandswille kollabierte. Es ist das Prinzip von damals, das wir für "Schock und Entsetzen" übernommen haben. Es geht nicht darum, Atombomben auf Bagdad zu werfen, sondern zu lernen, was die völlige Schockierung des Gegners bedeutet und wie das zu erreichen ist. Dabei geht es nicht um die Mittel von 1945 - vergessen Sie die Atombombe! -, es geht um den Effekt, diesen gilt es nun mit modernen Mitteln und in angemessener Weise zu induzieren. Das Ideal ist, ohne einen Schuß die Kapitulation des Gegners zu bewirken, weil der Feind vor Angst und Konfusion in sich zusammenfällt.

Die Briten verwandten dieses Konzept, aus dem sich später das "moral bombing" entwickelte, in ihren Kolonien, um nach dem Ersten Weltkrieg ihr Empire zu stabilisieren.

Ullman: Dennoch handelt es sich nicht um ein imperiales Konzept, wie Sie vielleicht nahelegen wollen.

Sondern?

Ullman: Nach dem 2. Golfkrieg von 1991 habe ich mich mit Kollegen zusammengesetzt und überlegt, wie ein Krieg, wie der damals gerade gefochtene, in der Hälfte der Zeit und mit der Hälfte der Soldaten - wenn möglich sogar nur mit einem Zehntel - erfolgreich geführt werden könne. Als wir dann den Begriff "Schock und Entsetzen" prägten, war das nur zur internen Verwendung gedacht, um die Kollegen im Pentagon von unserem Konzept zu überzeugen. Niemals sollte der Begriff an die Öffentlichkeit dringen, weil uns klar war, daß solch ein Name natürlich nur zu Mißverständnissen führen würde. Und so ist es auch gekommen.

Wenn Sie den Angriff vom 11. September 2001 auf das New Yorker Welthandelszentrum analysieren, stoßen Sie dann auf Verwandtschaften zu "Schock und Entsetzen"?

Ullman: Natürlich, allerdings gibt es auch Unterschiede, nicht nur im Hinblick auf die Mittel, sondern auch im Hinblick auf die Ziele. Die Islamisten wollen uns nicht zerstören, sondern erreichen, daß wir uns aus der arabischen Weltregion zurückziehen. Uns droht nicht mehr, wie zu Zeiten des Kalten Krieges, die Vernichtung unserer Gesellschaft, sondern "nur" noch schmerzhafte Einschnitte in ihr Fleisch. Das aber können wir - so kalt das klingen mag - verwinden. Aber ich verstehe, was Sie mit Ihrer Frage andeuten wollen: In der Tat kann nämlich auch eine amerikanische 2.000-Pfund Fliegerbombe oder ein Tomahawk-Marschflugkörper eine Terrorwaffe sein. Das hängt ganz davon ab, wo Sie sich gerade befinden, am Ort des Abschusses oder im Zielgebiet. Deshalb sollten wir Amerikaner auch machmal zögerlicher bei der Verwendung solcher Waffen sein, als wir das bislang zumeist gewesen sind.

 

Dr. Harlan K. Ullman, US-Regierungsberater, begann seine Karriere als Marineoffizier und Kommandant eines Zerstörers und befehligte Kampfeinsätze in Vietnam und im Persischen Golf. Mittlerweile ist er Aufsichtsratsvorsitzender mehrerer Hochtechnologie-Firmen in den USA und Asien sowie Mitarbeiter am "Center for Strategic & International Studies" in Washington und berät in Sicherheits-, Verteidigungs- sowie in außenpolitischen Fragen. Er ist Verfasser des strategischen Konzeptes "Shock and Awe", das vom Pentagon für den laufenden Feldzug gegen den Irak adaptiert wurde.

 

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