© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/03 11. April 2003

 
Eine fundamentale Umwälzung
Nicht erst seit dem Irak-Krieg droht das Völkerrecht hinter die Aufklärung zurückzufallen
ALexander Griesbach

Zahlreiche Rechtsexperten in Deutschland und anderswo auf der Welt betrachten den Angriff der USA auf den Irak als eindeutigen Bruch des Völkerrechts. So wies vor kurzem die Internationale Juristenkommission (ICJ) in Genf darauf hin, daß die Sicherheitsratsresolution 1441 vom 8. November 2002 die Anwendung von Gewalt nicht autorisiere. Damit widersprach diese offen den Wortführern der "Koalition der Willigen", die diese Resolution immer wieder als Rechtfertigung für den Angriffskrieg gegen den Irak anführen. Die von den Regierungen der USA, Großbritanniens und Spaniens vorgelegten "Beweise", mit denen eine Bedrohung der internationalen Sicherheit nachgewiesen werden sollte, seien laut IJC "alles andere als überzeugend".

Neben der ICJ haben auch deutsche Völkerrechtler den Angriff auf den Irak als eindeutigen Rechtsbruch angeprangert. In diesem Zusammenhang wird immer wieder auf den nervus rerum des modernen Völkerrechts verwiesen, nämlich das Gewaltverbot, das in Artikel 2 Absatz IV der UN-Charta niedergelegt ist. Darin heißt es unter anderem: "Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete Androhung oder Anwendung von Gewalt." Diese Charta kennt nur zwei Ausnahmen: zum einen das Selbstverteidigungsrecht und zum anderen die Befugnis des Sicherheitsrats, den Weltfrieden auch mit militärischer Gewalt wiederherzustellen.

Auf umfassende Weise hat sich der Freiburger Staats- und Völkerrechtler Dietrich Murswiek mit diesem Thema auseinandergesetzt, der jüngst einen einschlägigen Beitrag, der allerdings vor Ausbruch des Krieges beendet worden ist, in der Neuen Juristischen Wochenzeitung (NJW, 4/2003) veröffentlichte. Murswiek läßt an den destabilisierenden Folgen, die der laufende Irak-Krieg für die Völkerrechtsordnung entfaltet, keinen Zweifel: "Wenn demnächst britische und amerikanische Bomber gegen Bagdad fliegen, dann droht nicht nur ein Land ... in Schutt und Asche zu fallen; dann könnte am Ende auch die Völkerrechtsordnung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern liegen." Die Regierung Bush, fährt Murswiek mit Blick auf die im September letzten Jahres veröffentlichten National Security Strategy fort, führe eine Attacke gegen die Normen des geltenden Friedenssicherungsrechtes. "Es ist ihr Ziel, diese Normen so zu verändern, daß Präventivkriege künftig legal sind."

Seit dem Kosovo-Krieg ein Prozeß der Anarchisierung

Ein (inzwischen laufender) Krieg gegen den Irak könnte gemäß der Argumentation Murswieks der erste Schritt hin zu einem neuen Völkerrecht sein: "Die US-Regierung behauptet der Sache nach, im Angesicht neuer Friedensbedrohungen müßten die Voraussetzungen des Selbstverteidigungsrechts neu ausgelegt werden. So daß sie auch die preemptive action (dt. Präventivschläge, A.G.) erlaubten." Falls es den USA gelingen sollte, die anderen Staaten von der Rechtmäßigkeit eines derartigen Vorgehens zu überzeugen, entstehe, so Murswiek, neues Recht - "jedenfalls dann, wenn sich diese Praxis mit Billigung der meisten Staaten fortsetzt". Wo die eigentliche Gefahr einer derartigen Entwicklung liegt, darüber läßt Murswiek keinen Zweifel aufkommen: "Die Verallgemeinerung der Bush-Doktrin würde dazu führen, daß fast jeder Staat, wenn er will, Kriegsgründe gegen viele andere Staaten finden könnte ... das allgemeine Gewaltverbot würde praktisch zugunsten einer allgemeinen Präventivgewaltermächtigung aufgehoben." Die Folge: die zwischenstaatlichen Beziehungen würden mehr und mehr "anarchisiert". Diese "Anarchisierung" zeichnet sich bereits seit dem Kosovo-Krieg ab.

Mit Blick auf die Umstände dieses Krieges stellte zum Beispiel der ehemalige Richter am Oberverwaltungsgericht Münster, Dieter Deiseroth, ebenfalls in einem Beitrag für die NJW (1999) fest, daß der Ausnahmefall des Artikel 51 UN-Charta, der die Notwehr und Nothilfe zugunsten eines angegriffenen Staates rechtfertige, mit Blick auf den Kosovo "evidentermaßen" nicht vorlag, weil "keiner der Nato-Staaten militärisch angegriffen worden" war: "Kein Staat, der Opfer einer militärischen Aggression gewesen wäre, hatte um Nothilfe gebeten."

Teilweise sei auch behauptet worden, zum Beispiel von dem früheren Bundespräsidenten Roman Herzog, so argumentiert Deisroth weiter, "es gebe - unabhängig von Artikel 51 UN-Charta - im Völkerrecht ein gewohnheitsrechtliches Recht von Staaten zur 'Nothilfe' zugunsten einer von ihrem Heimatstaat drangsalierten ethnischen Minderheit". In diesem Zusammenhang werde übersehen, daß die beiden Grundvoraussetzungen für das Bestehen von Völkergewohnheitsrecht gerade nicht vorgelegen hätten: nämlich "eine diesbezügliche übereinstimmende allgemeine Staatenpraxis und eine dem zugrundeliegende allgemeine Rechtsüberzeugung".

Selbst wenn heute, so Deiseroth weiter, mehr Staaten als früher nunmehr eine "humanitäre Intervention" für zulässig halten sollten - "die Abstimmungspraxis über einschlägige Resolutionen in der UN-Generalversammlung spreche allerdings für das Gegenteil" -, könne dies dennoch zu keinem anderen völkerrechtlichen Ergebnis führen: "Denn für eine völkergewohnheitsrechtliche Anerkennung und Geltung eines Rechts zur 'humanitären Intervention' (ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates) fehlen nach wie vor die notwendigen völkerrechtlichen Voraussetzungen: Weder eine diesbezügliche dauerhafte, (einigermaßen) einheitliche und allgemein verbreitete Staatenpraxis noch eine gemeinsame Rechtsüberzeugung von der Geltung eines solchen Rechtssatzes sind vorhanden bzw. entstanden."

Damit - und dies ist entscheidend - gebe es keine gewohnheitsrechtliche Rechtfertigung der "humanitären Intervention" durch Einzelstaaten oder Staatenbündnisse.

Nachkriegsordnung droht Geschichte zu werden

Werfen wir vor diesem Hintergrund noch einen Blick auf die deutsche Perspektive. Das Grundgesetz stellt eine mögliche deutsche Unterstützung eines Angriffskriegs unmißverständlich unter Strafe. Die Bundesregierung könnte juristisch dafür zur Verantwortung gezogen werden, daß sie den USA Überflugrechte und Basen in Deutschland zur Verfügung stellt.

So ist der auf Uno-Rechtsfragen spezialisierte Jurist Claus Kreß vom Institut für Internationales und Ausländisches Strafrecht an der Universität Köln der Auffassung, daß die Verpflichtungen aus dem Nato-Vertrag so auszulegen seien, "daß nicht gegen das vorrangige Recht der Vereinten Nationen verstoßen wird". Eine Berufung auf den Nato-Vertrag entbinde Staaten, die etwa Überflugsrechte gewährten oder Awacs-Aufklärungsflugzeuge entsenden wollten, nicht von den Pflichten der UN-Charta. Auf die Bundesregierung sieht Kreß daher große Schwierigkeiten zukommen.

Auch deshalb hat es die rot-grüne Bundesregierung wohl bisher vermieden, den laufenden Krieg gegen den Irak als "völkerrechtswidrig" zu bezeichnen. Bundeskanzler Schröder sprach nur davon, daß der Krieg "nicht gerechtfertigt" sei.

Was sich bereits vor dem Kosovo-Krieg abzeichnete, ist durch den IrakKrieg evident geworden: Die Nachkriegsordnung mit ihren relativ stabilen und friedlichen Beziehungen droht mehr und mehr Geschichte zu werden. Zu diesem Resümee kommt auch Dietmar Murswiek, wenn er feststellt: "Der Irak-Krieg könnte der erste Schritt zu einer fundamentalen Umwälzung der Völkerrechtsordnung sein." Murswiek sieht darüber hinaus die Gefahr eines Rückfalles hinter die Zeit der Aufklärung: Die "beanspruchte Hegemonialstellung der USA und ihre Respektierung durch die Staatenwelt würde das Rechtsprinzip der Gleichheit desavouieren, das die Grundlage des Rechts seit der Aufklärung ist. Wer das nicht will, muß auf Multilateralismus setzen, d.h. auf die Stärkung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen."

Bisher hat die Teile-und-herrsche-Strategie der USA allerdings dazu geführt, daß eine einmütige Front gegen die USA und deren Politik der Völkerrechtsbeugung nicht zustande kommen konnte. Ob diese Front jemals Realität wird, erscheint aus heutiger Sicht fraglich. 

Foto: Cordell Hull unterzeichnet am 29. Juni 1945 in Washington die UN-Charta: Der amerikanische Politiker und Friedensnobelpreisträger gilt als einer der "Väter der Vereinten Nationen". Die Charta der Vereinten Nationen trat am 24. Oktober 1945 in Kraft.


 
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