© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/03 11. April 2003

 
Angst vor dem Wähler
von Arno Surminski

Nein, eine Krise etwa von den Ausmaßen der frühen dreißiger Jahre ist es noch nicht. Die Deutschen befinden sich eher in der Lage verwöhnter Kinder, die plötzlich feststellen müssen, daß die Bonbontüte nur noch halb voll ist. Aber sie sind auf dem Wege in die Krise, und das Zeitfenster, in dem gegengesteuert und das Unheil abgewendet werden kann, beginnt sich zu schließen.

Das Problem hat einen Namen. Es ist der Sozialstaat, der wie ein Mühlstein am Hals der Wirtschaft hängt und sie daran hindert, jene wirtschaftlichen Aktivitäten am Standort Deutschland zu entfalten, die erforderlich sind, um das Wirtschaftsunternehmen Bundesrepublik Deutschland am Leben zu erhalten. Weil es um den Sozialstaat geht, sind radikale Reformen so schwer durchzusetzen. Alles Soziale ist mit der Aura des Guten und Gerechten umgeben, wer daran rüttelt, läuft Gefahr von einer moralischen Keule erschlagen zu werden. Wegen dieser Zwangslage ist es unwahrscheinlich, daß die Politik eine wirkliche Reform des Sozialstaates zustande bringt.

Die Parteien fürchten den Liebesentzug der Wähler, und wenn die Wählerschar groß ist, wie bei den Rentnern, geht gar nichts mehr. Weil die Parteien es nicht einmal fertigbringen, ihrer Klientel reinen Wein einzuschenken, gibt es die Neigung zu einem "Weiter so Deutschland", verbunden mit kosmetischen Korrekturen hier und da und großen Hoffnungen auf künftige Konjunkturaufschwünge. Daß die Politik sich so schwer tut, liegt auch daran, daß die unterschiedlichsten Diagnosen und Therapieansätze verbreitet werden. Die Linken in allen Parteien, die Gewerkschaften und die wiedererstarkte Gruppe um Lafontaine suchen die Lösung in noch mehr Staat und einem Festschreiben der sozialen Errungenschaften. Das hören die verwöhnten Kinder des Wohlfahrtsstaats gern, verbreitet es doch die Illusion, man könnte operieren, ohne daß es wehtut. Von Umfragen, die besagen, daß die Mehrheit der Bürger bereit ist, Reformen mitzutragen, ist wenig zu halten.

Die Deutschen können nur Reformen ertragen, die anderen wehtun. Wenn es ernst wird mit radikalen Einschnitten, werden die Wähler nicht zögern, sich den Rattenfängern der linken Richtung in die Arme zu werfen. Natürlich führt der linke Weg in jene Krise, die wir vermeiden wollen, Deutschland würde zum volkseigenen Betrieb. Es bedarf großen Mutes aller Parteien, diesen Verlockungen zu widerstehen. Schonungslose Aufklärung über den Zustand des Sozialstaates und der Wirtschaft wäre erste Bürgerpflicht.

Beim Umbau des Sozialstaates befinden wir uns noch in der glücklichen Lage, nicht in substantielle Grundleistungen eingreifen zu müssen. Sie können bestehenbleiben, wenn nur die schönen Zugaben, die im Laufe der Jahrzehnte, meistens als Wahlgeschenke, draufgesattelt wurden, zurückgefahren werden. In der Krankenversicherung sind höhere Selbstbeteiligungen unerläßlich. Bestimmte Leistungen, so das Krankengeld nach sechswöchiger Lohnfortzahlung, sollten völlig in die private Vorsorge des einzelnen übergeben werden. In der Arbeitslosenversicherung müssen die Zumutbarkeitsregeln verschärft werden. Sofern nicht gesundheitliche Probleme entgegenstehen, ist einem Arbeitslosen grundsätzlich jede Arbeit zumutbar.

Ferner sollte der Unfug unterbunden werden, die Frühverrentung über die Arbeitslosenversicherung zu finanzieren. In der Rentenversicherung sind erhebliche Einsparungen im Kurwesen möglich. Der einzelne finanziert seine Kur und erhält dazu einen Zuschuß vom Sozialversicherungsträger, nicht umgekehrt, wie es heute ist. Endlich sollten die Renten wie normales Einkommen der Steuer unterworfen und die daraus erzielten Steuereinnahmen an die Rentenkasse zurückgeführt werden. Das wäre übrigens eine äußerst soziale Maßnahme, weil Kleinrentner davon überhaupt nicht betroffen werden.

Die Sozialhilfe, von vielen als die größte Errungenschaft der Bundesrepublik Deutschland angesehen, hat zu schweren Verwerfungen geführt. Einen Rechtsanspruch auf angemessenen Lebensunterhalt zu gewähren ohne Rücksicht darauf, was jemand getan oder nicht getan hat, ist eine pervertierte Form sozialer Gerechtigkeit. Die Verbrecher werden genauso behandelt wie ihre Opfer. Die Gewißheit, in jedem Fall von der Sozialhilfe aufgefangen zu werden, was immer man auch anrichtet, erleichtert menschliches Fehlverhalten. Wer sich durch eigenes Verschulden in den Zustand der Bedürftigkeit versetzt hat, muß geringere Leistungen erhalten als diejenigen, die unverschuldet in Not geraten sind. Sozialhilfeleistungen an Arbeitsfähige sollten grundsätzlich von einer Gegenleistung des Empfängers abhängig gemacht werden, wer von der Gesellschaft unterhalten wird, muß auch etwas für die Gesellschaft tun.

Die öffentlichen Einrichtungen, Parks, Plätze und Straßen bedürfen dringend helfender Hände. Jugendlichen mit Sozialhilfeleistungen einen Lebensunterhalt ohne Arbeit zu ermöglichen, ist eine Zumutung, die die Würde des Menschen verletzt.

Die demographische Entwicklung Deutschlands ist für die nächsten Jahrzehnte nicht umkehrbar, die Folgen der Überalterung für den Wirtschaftsprozeß müssen wir hinnehmen, uns auf sie einstellen und sie so gut es geht mildern. Die Überalterung wird, wie uns das Beispiel Japan lehrt, zu einer Verminderung des Wirtschaftswachstums führen, weil alte Menschen andere, im Zweifel geringere Konsumwünsche haben. Wachstumsschwäche im Binnenland wird zu einem ständigen Begleiter unseres Wirtschaftslebens werden. Im Grunde ist das kein Unglück, nur müssen die öffentlichen Haushalte und die Sozialkassen so eingerichtet werden, daß sie mit permanent unterdurchschnittlichem Wachstum leben können. Die demographiebedingte Wachstumsschwäche zwingt uns, den Wirtschaftsbereich, in dem die Demographie keine Rolle spielt, mit allen Mitteln zu fördern und zu erhalten, nämlich den Export. Japan taumelt von einer Rezession in die andere, bleibt aber unangefochten Exportweltmeister und kann von seinen Exportüberschüssen komfortabel leben.

Leider hat die politische Führung Deutschlands noch nicht begriffen, daß auch die Außenpolitik in immer stärkerem Maße Wirtschaftspolitik zu sein hat. Die antiamerikanischen Pointen, die dem deutschen Bundeskanzler und seiner Justizministerin in der Endphase des letzten Bundestagswahlkampfes entfuhren, haben wirtschaftlich eine verheerende Langzeitwirkung. Noch stehen in den amerikanischen Zeitungen keine "Don't-buy-German"-Aufrufe, aber die deutschen Automobilfirmen, jahrzehntelang die Lieblinge der Amerikaner, erlitten in den letzten Monaten größere Absatzeinbußen. Die deutsch-amerikanische Panzerproduktion bei Krauss-Maffei ist storniert worden, der gemeinsame U-Bootbau auf deutschen Werften steht in Frage. Deutsche Unternehmen haben in Amerika eine Anzeigenkampagne gestartet, in der sie um Goodwill für made in Germany bitten und versuchen, den angerichteten Schaden zu minimieren. Die USA stehen nur für zehn Prozent des deutschen Exports, aber wir befinden uns in einer Lage, in der wir nicht auf ein Prozent verzichten können. Nach der Wiedervereinigung war Deutschland als Investitionsstandort für Amerika erste Wahl. Heute müssen wir froh sein, wenn die Amerikaner nicht Investitionen abziehen und ihre Werke in Deutschland schließen oder verkaufen. Die Einbrüche an den deutschen Börsen, die über das hinausgehen, was anderen europäischen Börsen widerfahren ist, rühren auch daher, daß die amerikanischen Investoren, die immer noch die Hauptrolle auf den Finanzmärkten spielen, ihr Kapital aus Deutschland abziehen. Sie haben in Deutschland kein Vertrauen mehr. Die Deutschen werden jedenfalls für die in der Sache richtigen, in der Form unmöglichen Äußerungen ihres Kanzlers und seiner damaligen Justizministerin mit wirtschaftlichen Einbußen bezahlen müssen. Um den Schaden zu reparieren, wäre ein Gang nach Canossa das Mindeste, was dem deutschen Bundeskanzler zugemutet werden müßte. Zu befürchten ist, daß auch das nicht mehr helfen würde. Für einen Canossagang muß es jemand geben, der bereit ist, den Büßer zu empfangen. Deutschland braucht eine neue Führung, weil die alte nicht mehr in der Lage ist, den in Amerika angerichteten Schaden zu beheben. Die Welt ist durch den Irak-Krieg gespalten, und wir stehen durch das Unvermögen der deutschen Regierung vielleicht moralisch auf der richtigen Seite, was die wirtschaftliche Zukunft angeht aber ganz sicher auf der falschen. Es gab einen Weg, nicht an diesem Krieg teilzunehmen und trotzdem ein Freund Amerikas zu bleiben. Die Bundesregierung hat ihn aus wahltaktischen Gründen nicht beschritten und dadurch Deutschland schweren Schaden zugefügt.

Eine Möglichkeit, die negativen wirtschaftlichen Folgen der Demographie zu mildern, besteht in einer gesteuerten Zuwanderung. Auch hier sind Reformen erforderlich. Deutschland muß den Mut haben, das zu tun, was andere Staaten in der Vergangenheit getan haben und immer noch tun, eine Zuwanderung nach Bedarf praktizieren. In den fünfziger und sechziger Jahren nahmen die klassischen Einwanderungsländer Kanada, USA, Australien nur junge arbeitsfähige Leute auf, die sich vor der Reise nach Übersee einer ärztlichen Untersuchung unterziehen mußten. Ältere Personen kamen nur nach Kanada, wenn ein dort Ansässiger für sie bürgte, damit sie nicht dem Staat zur Last fielen. Niemand hat eine solche Zuwanderungspolitik damals als inhuman bezeichnet. Zuwanderer, welcher Kategorie auch immer, müssen das Recht, ja sogar die Pflicht haben, sich in den Arbeitsprozeß zu integrieren. Das von den Gewerkschaften durchgesetzte Arbeitsverbot für Asylbewerber hat zu furchtbaren Verwerfungen und letzten Endes zu Ausländerfeindlichkeit geführt. Die große Mehrheit der Deutschen hat nichts gegen Ausländer. Es stört sie nur, daß diese Menschen tatenlos an den Straßen stehen und auf Kosten des Steuerzahlers leben müssen. Wenn die erzwungene Tatenlosigkeit dann noch dazu führt, daß die vorhandenen Energien sich im Kriminellen entladen, ist die Ausländerfeindlichkeit da.

Wie das Beispiel Japan zeigt, ist wirtschaftliches Wachstum mit den herkömmlichen Mitteln des deficit spending nicht mehr zu erreichen; die retardierenden Kräfte der Überalterung lähmen alle Ankurbelungsprozesse. Japan hat ein Konjunkturprogramm nach dem anderen aufgelegt und ist darüber zum Land mit der höchsten Staatsverschuldung geworden. Diesen Umweg können wir uns ersparen. Konjunkturprogramme auf Pump unter Verletzung der Maastricht-Kriterien retten die deutsche Wirtschaft nicht. Gleichwohl muß etwas getan werden, um die Wirtschaft, so gut es geht, zu beleben. Der Staat ist aufgefordert, nach innovativen Formen der Wirtschaftsförderung zu suchen. Im Vordergrund müßte eine Deregulierung der öffentlichen Verwaltung stehen. Wie Mehltau liegen die vielen Vorschriften und Auflagen, der Papierkrieg von Meldungen und Statistiken auf den Wirtschaftsunternehmen. Sie lähmen die Eigeninitiative und gehören zu einem guten Teil abgeschafft.

In den Behörden muß ein Umdenken Platz greifen. Es geht nicht mehr darum, wirtschaftliche Initiativen mit umfangreichen Genehmigungsverfahren zu begleiten und hinauszuzögern, sie gar mit Auflagen zu erschweren, an erster Stelle steht ihre Förderung. Die Behörden sollten den Bürgern Anregungen geben, was noch getan werden könnte. Auch muß die Diskriminierung gewisser Wirtschaftstätigkeiten beendet werden. Die ökologisch motivierte Feindschaft gegen das Auto führt dazu, daß alle wirtschaftlichen Betätigungen behindert werden, die dem Auto dienen könnten. So denkt niemand mehr an den weiteren Ausbau von Straßen und Autobahnen, obwohl das ein Konjunkturprogramm erster Ordnung sein könnte. Die Autofeindlichkeit der deutschen Politik wird dem Wirtschaftsstandort Deutschland weiteren Schaden zufügen.

Auch in der Energiepolitik ist ein Umdenken erforderlich. Die künstliche Verteuerung von Energie aus ökologischen Gründen ist ein Irrweg. Wer die Wirtschaft beleben will, muß reichliche und preiswerte Energie zur Verfügung stellen, notfalls mit einem weiteren Ausbau der Kernenergie. Die Renaissance der Kernenergie steht ohnehin bevor, weil nur mit Kernenergie eine Klimakatastrophe verhindert werden kann.

Es ist nicht zu erwarten, daß die Politik die Kraft aufbringt, eine innovative Wende in der Wirtschaftsförderung und tiefgreifende Reformen durchzuführen. Zu groß ist die Angst vor dem Wähler, zu tief sitzen die ideologischen und ökologischen Vorurteile. Die Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede des Bundeskanzlers vor dem Parlament vom 14. März dieses Jahres ist typisch dafür, wie die Politik sich in ihren eigenen Strängen gefangen hat und zu großen Reformen nicht mehr fähig ist.

Das Programm, das von den Linken schon als sozialpolitischer Weltuntergang gedeutet wird, ist in Wahrheit nur ein zaghafter Versuch zur Reform des Sozialstaates, ohne eine Antwort darauf zu geben, wie die Wirtschaft bewegt werden könnte. Das Programm vom 14. März kann allenfalls verhindern, daß der Sozialstaat schon heute oder morgen zusammenbricht, den auf freier Strecke stehenden Wirtschaftszug wird es nicht in Bewegung setzen. "Der Deutsche ist großer Taten fähig, aber es ist unwahrscheinlich, daß er sie tut" (Nietzsche).

 

Arno Surminski, 68, ist Schriftsteller und Journalist. Seit langem widmet er sich in seinen Büchern dem Thema Flucht und Vertreibung.


 
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