© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/03 09. Mai 2003


Eine katastrophale Bilanz
Berlin: Aus dem erwartungsgemäßen Scheitern der "Deeskalationsstrategie" der Polizei in der Walpurgisnacht wird keine Lehre gezogen
Ronald Gläser

Ein nachdenklicher Erhart Körting mußte am 2. Mai vor die Presse treten. Bei den 1. Mai-Krawallen in Kreuzberg wurden 175 Polizisten verletzt. Damit zählen sie zu den schwersten Ausschreitungen der vergangenen 16 Jahre. 18 Autos wurden in Brand gesteckt, Telefonzellen und Geschäfte völlig verwüstet.

Der Berliner Innensenator verschanzte sich hinter der Behauptung, die Strategie der Deeskalation sei alternativlos. Zeige die Staatsmacht ihre "ausgestreckte Hand", so könnten Mitläufer von Straftaten abgehalten werden. Körting führte weiter aus: "Unsere Gesellschaft muß sich Gedanken machen, wie sie solche Menschen erreichen oder sie so beeinflussen kann, daß sie vom Pfad der Gewalt abweichen." Soviel Verständnis für routinierte Straftäter bringen die Opfer der Ausschreitungen nicht auf. In der Mariannenstraße brandschatzte eine Handvoll Leute ein Seat-Autohaus. Auch der darüber befindlichen Computerschule blieb die Verwüstung nicht erspart. Selbst die Anwohner in dieser Straße wurden von den randalierenden Chaoten mit Steinen beworfen.

Die Tagespresse berichtete über mehrere Einzelschicksale und ließ die Opfer zu Wort kommen. So wurde das tatsächliche Verhalten der Polizei am 1. Mai ans Tageslicht gebracht. Der Inhaber des Autohauses hatte sie gedrängt, sein Hab und Gut zu schützen. Die Ordnungshüter antworteten ihm, daß sie die Situation nicht verschärfen wollten. Dem gesetzlosen Treiben wurde untätig zugesehen, bis das Geschäft zerstört war. Erst nach 45 Minuten erschien die Feuerwehr unter Polizeischutz und tat ihre Pflicht.

Der Innensenator setzt auf Deeskalation

Der Grünen-Politiker Wolfgang Wieland gab seinem Amtsnachfolger dennoch Schützenhilfe. Da die Autos ohnehin schon gebrannt hätten, sei ein Eingreifen der Polizei nicht sinnvoll gewesen. Die neue Strategie müsse wirken und brauche Zeit, behauptete Wieland. Ferner sagte er nach den Krawallen, den Ausschreitungen dürfe nicht mit übertriebener Härte entgegengetreten werden.

Auch der neugewählte Polizeipräsident Berlins, Dieter Glietsch, sieht "keinen Anlaß, an der Richtigkeit des Deeskalationskonzeptes zu zweifeln." Körting und Glietsch räumten lediglich ein, daß es zu Verzögerungen beim Eingreifen gekommen sei. Die Polizeieinsatzleitung habe die Gewalttäter nicht auf die Straßenfeste zurücktreiben wollen.

Über die Gruppe der Gewalttäter sagte der Innensenator, daß sie einen harten Kern von rund 1.300 Personen umfasse. Warum die Polizei mit einem Aufgebot von mehreren Tausend Uniformierten diese nicht habe aufhalten können, verschwieg er.

Der Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Berlin, Eberhard Schönberg, sagte, die Polizei habe sich dem Deeskalationskonzept der Landesregierung "unterwerfen" müssen. Auch Rolf Taßler, der Landesvorsitzende der konkurrierenden Deutschen Polizeigewerkschaft, kritisierte die Einmischung des Berliner Innensenators in die Polizeitaktik.

Kritik kam ebenso von der Opposition. CDU- und FDP-Vertreter warfen dem Senat vor, Gewalttätern tatenlos zuzusehen. Die Bilanz des 1. Mai sei "katastrophal", hieß es aus den Reihen der Union. Der Grünen-Politiker Wieland konterte, auch die CDU-Senatoren Kewenig, Heckelmann, Schönbohm und Werthebach hätten in der Vergangenheit keinen friedlichen 1. Mai gewährleisten können.

Dieser Vorwurf trifft zu. Allerdings hat sich der Senat seit 1989 dem Deeskalationskonzept verschrieben. Die CDU-geführten Senate haben nie den Mut aufgebracht, den Gewalttätern mit angemessener Härte entgegenzutreten. Für die Verwahrlosung Kreuzbergs tragen die Landesregierungen der letzten Jahrzehnte - auch die CDU-geführten Senate - die Verantwortung. Selbst unter dem Law-and-Order-Politiker Jörg Schönbohm (CDU) hatte die Polizei auf ein präventives Eingreifen verzichtet. Statt Straßenschlachten im Keim zu ersticken, setzten die Ordnungshüter 1999 voll und ganz auf Deeskalation. Die geradezu peinliche Anbiederung an die Chaoten hat sich schon damals nicht ausgezahlt.

Die Polizei kann das Problem nicht allein lösen

Der Sachschaden wird dieses Mal auf 100.000 Euro geschätzt. Aber diese verhältnismäßig kleine Summe sagt nichts über den politischen und gesellschaftlichen Schaden aus, der durch die Krawalle jedes Jahr entsteht. Der harte Kern der Gewalttäter fühlt sich mehr und mehr bestätigt, wenn der Staat rechtsfreie Räume zuläßt.

Der Senat und die politische Linke versuchen zudem zu vertuschen, daß es sich um linksextremistische Täter handelt. Immer wieder betonten Körting und Wieland, es gäbe eine "neue Qualität der Gewalt." Bei den Tätern bestünde keine politische Motivation. Dies mag auf die Masse der Steine schmeißenden Jugendlichen zutreffen. Zunehmend werden türkische und arabische Einwandererkinder unter den Krawallmachern angetroffen. Tatsache ist jedoch, daß Linksextremisten diese Jugendlichen gezielt anstiften.

Sehr nachdenklich referierte Körting am 2. Mai im ZDF-Frühstücksfernsehen über die "unpolitischen Ursachen" der Gewalt. Eine wissenschaftliche Studie habe gezeigt, daß "soziale Underdogs" durch Straßenschlachten ihren Frust abzubauen versuchten. Die Polizei sei nicht in der Lage, diese Probleme allein zu lösen. Daß der SPD/PDS-Senat im nächsten Jahr diese Herausforderung gemeistert haben wird, glaubt indes selbst Körting nicht. Gefragt nach dem 1. Mai 2004, prognostizierte Körting, er rechne wieder mit einem sehr großen Polizeiaufgebot.

Foto: Randalierender Demonstrant bejubelt in Berlin-Kreuzberg ein brennendes Auto: Der Sachschaden wird auf 100.000 Euro geschätzt


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