© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/03 16. Mai 2003

 
Die Stärke der Schwachen
von Angelika Willig

Der Sozialdarwinismus kommt wieder, und das ist auch gut so. Es ergeben sich nur ein paar kleine Fragen. Allzu lange haben Faulpelze, Versager und Heulsusen sich auf Kosten der Leistungsfähigen satt gefressen. Das Ergebnis: leere Kammern und Scheunen. Ab jetzt soll jeder selbst sehen, wo er bleibt. Da kann man nur zustimmen. Wir bezweifeln allerdings, daß sich das durchsetzen läßt.

Ein verbreiteter Irrtum besagt, daß Wirtschaft ungeheuer schwierig zu verstehen sei. Mathematik ist auch schwierig, doch Preise vergleichen und Kontoauszüge lesen muß jeder, der nicht für unzurechnungsfähig erklärt wurde. Ähnlich ist es auch mit der Wirtschaft. Sicher wird es dem Laien immer rätselhaft bleiben, welche Aufgabe eine Europäische Zentralbank hat, oder was man unter Zinspolitik versteht. Daß aber für Sozialfälle aller Art nicht mehr ausgegeben werden darf als durch Leistungsfähige an Steuergeldern hereinkommt, versteht auch der Dümmste. Und nichts als diese simple Wahrheit verbirgt sich hinter den endlosen Debatten.

Die unübersehbare Kompliziertheit zum Beispiel des Steuerrechts oder des Krankenversicherungssystems resultiert nicht zuletzt aus der Weigerung, sich der einfachen, aber grausamen Realität zu stellen, daß wir zu viele faule und unnütze Esser haben. Da kann man alle möglichen Reformen anstellen und die Differenzierung immer höher schrauben, der primitive Rechenfehler setzt sich überall durch. Es ist wie mit den Bahnpreisen: Auch das schönste Chaos ändert nichts daran, daß der Kunde seine Fahrkarte mit einem angemessenen Preis bezahlen muß, wenn das Unternehmen nicht subventioniert wird. Und wenn subventioniert wird, bezahlen wir doch auf dem Umweg über die Steuern.

Um festzustellen, daß zwei und zwei vier sind, brauche ich wahrhaftig nicht Mathematik zu studieren. Und Fachleute wie beispielsweise Roland Baader in seinem Beitrag zur Krise (JF 19/03) rechnen uns die Lage immer wieder vor. Trotzdem verbreitet sich keine Einsicht. Baader führt es darauf zurück, daß fast alle gesellschaftlichen Gruppe vom hypertrophen Sozialsystem profitieren und den Ast nicht abschneiden wollen, auf dem sie sitzen. Trifft das aber wirklich zu - ist es nur der Eigennutz der vielen Schwachen, der den Wohlfahrtsstaat am Leben erhält? Sind die Sozialausgaben also Lasten, derer wir uns ohne weiteren Verlust entledigen könnten, wenn nur die Humanitätsduselei nicht wäre? Nehmen wir das ruhig an. Wie ist es aber zu dem Schwinden der gesunden Raubtierinstinkte überhaupt gekommen? Irgendein Teufel scheint die Starken und Tüchtigen dazu gebracht zu haben, den Schwachen ein gewisses Recht zuzugestehen. In seinem Buch "Totgedacht" macht Roland Baader den Übeltäter in den "Intellektuellen" aus. Doch warum Intellektuelle immer nach links driften, selbst wenn sie national sein wollen, kann der Autor auch nicht erklären. Und wenn die Vernunft von Haus aus ein egalitäres, also linkes Prinzip ist, wie läßt sie sich dann aus dem ewigen "Kampf ums Dasein" erklären? Und wo kommen Mitleid und Gerechtigkeitsempfinden her? Der Sozialdarwinismus mag schick aussehen und angenehm moralinfrei schmecken, logisch stimmt damit irgendwas nicht.

Keiner ist der Frage nach der Schwäche der Starken und der Stärke der Schwachen akribischer nachgegangen als Friedrich Nietzsche. Ihm selbst war zu Lebzeiten ein ähnliches Schicksal beschieden wie heute den Neoliberalen, nämlich mit seinen grausamen Prinzipien gegen die Mitleidsseligen nicht anzukommen. Der Wolf wird von den Schafen genarrt, über diese peinliche Erfahrung mußte der Philosoph immer wieder nachdenken.

Was ihm zu Hilfe kam, war seine eigene Biographie. Schon im Kindergartenalter mit einer Brille geschlagen, ging der Philologieprofessor bereits mit Ende zwanzig in Rente und wurde noch vor 50 zum Pflegefall. Doch er profitierte von seiner Krankheit. Nur sie ermöglichte ihm das freie Reisen, gab ihm Zeit und Muße und ermöglichte die Einfühlung in die Krankheit seiner Epoche. "Die Krankheit ist ein mächtiges Stimulans", erklärt Nietzsche. "Nur muß man gesund genug für das Stimulans sein."

Entgegen dem allgemeinen Vorurteil läßt Nietzsche an Darwin und den Darwinisten kein gutes Haar. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß er mit ihnen gemeinsam gegen die gesamte idealistische Tradition steht. In einer raschen Kehrtwendung hat sich der ehemalige Wagnerschwärmer der "Physiologie", wie er pars pro toto die Lebenswissenschaften nennt, in die Arme geworfen und argumentiert von einer materialistischen Perspektive aus.

Was er jedoch vehement ablehnt, ist die Gleichsetzung von Evolution und Geschichte. Die menschliche Kultur ist nicht aus dem Interesse von Selbsterhaltung und Fortpflanzung zu erklären. Es kommt ein weiterer Trieb hinzu, der dem Menschen nach einer ungeheuer schnellen Entwicklung von nur etwa 10.000 Jahren die Herrschaft über die Erde verliehen hat. Nietzsche nennt diesen quasi unnatürlichen Trieb "Wille zur Macht". Zwar bleibt der "Kampf ums Dasein" immer Grundlage, doch sobald das Überleben gesichert ist, verschreibt der Mensch sich dem sogenannten Fortschritt: "Man will nicht sein ,Glück'; man muß Engländer sein, um glauben zu können, daß der Mensch immer seinen Vorteil sucht; unsere Begierden wollen sich in langer Leidenschaft an den Dingen vergreifen - ihre aufgestaute Kraft sucht die Widerstände."

Der "Wille zur Macht" ist kein postulierter Wert, sondern eine notwendige Annahme, um den Verlauf der menschlichen Geschichte erklären zu können. Darin spielen soziale Motive im weitesten Sinn von jeher eine tragende Rolle. Man kann die Geschichte nicht verstehen, wenn man solche Bestrebungen nicht als konstitutiv für den Menschen akzeptiert. Die Frage ist nicht, ob man sie annimmt, sondern wie man sie deutet. Die Position von Neoliberalen wie Richard Herzinger, die so tun, als ob der "Gemeinsinn" eine ungerechtfertigte "Tyrannei" ausübe, läuft auf schlechten Idealismus hinaus. Ausgerechnet die "knallharten" Wirtschaftsrealisten ignorieren, daß das Tatsächliche seine Rechtfertigung in sich selbst trägt, und daß demgegenüber keine moralische Ablehnung möglich ist - es sei denn, man will in metaphysische und gnostische Kategorien zurückfallen. Und wenn der Altruismus des Menschen eine geschichtsbildende Realität ist, so muß es dafür eine logische Rechtfertigung geben. Doch lautet sie nicht, daß der Mensch von Natur aus gut ist und dazu bestimmt, das Paradies auf Erden zu errichten.

Es ist ja nicht erst die soziale Bewegung der letzten zweihundert Jahre, die eine sentimentale Menschlichkeit in die Geschichte hineingetragen hat. Wenn Roland Baader den Wohlfahrtsstaat ganz richtig als "Herrschaftsinstrument" bezeichnet, so ist dieser Staat darin nur würdiger Nachfahre des Christentums und der überaus mächtigen Kirchen. Woraus aber bezogen die Kirchen genau wie der Sozialstaat ihre ungeheuren Machtansprüche? Aus den Interessen der Schwachen. Der egoistische Einzelunternehmer kann noch so skrupellos vorgehen, im Hinblick auf den Machtfaktor bleibt er neben den Heiligen, Märtyrern und Gewerkschaftsführern ein Waisenknabe. Im Grunde gestehen es die Liberalen mit ihrem ständigen Lamentieren über den "Totalitarismus" selbst ein, daß der Stärkste und Tüchtigste zu schwach ist, sich gegen die Kräfte des Altruismus zu wehren. Und das liegt nicht etwa daran, daß die Tüchtigkeit immer in der Minderheit ist. In der Natur kann sich diese Minderheit stets durchsetzen. Das stärkste Tier frißt zuerst, und Aufstände der Masse braucht es nicht zu befürchten. Altruistische Verhaltensweisen treten nur auf, wenn es direkt oder indirekt um den Nachwuchs, also um die Verbreitung der eigenen Gene, geht.

Es fragt sich in der Tat, ob dieses rein egoistische "natürliche" Vorhalten nicht für den Menschen in summa wohltätiger gewesen wäre als Gewissensterror, Kreuzzüge, Inquisition, Religionskriege, Guillotine, KZ und Gulag im Namen des Guten. Doch um das Glück geht es in der Geschichte nicht, wie wir von Nietzsche hörten, weder das Glück des einzelnen noch das Glück der meisten. Wenn wir anderen helfen, sogar wenn wir uns aufopfern, leitet uns unbewußt der Wille zur Macht. Ein aktuelles Beispiel ist die Biotechnik: Wir entwickeln sie ganz im Dienste der Schwachen und Kranken. Jedes andere Interesse wird aufrichtig entrüstet zurückgewiesen. Dennoch sieht jeder, der die Augen aufmacht, daß es objektiv um ein neues Stadium menschlicher Machtentfaltung geht, ums Wissen, Können, Machen. Selbst wenn die Kranken sich wehrten - wie das Proletariat sich gegen den Kommunismus mehrheitlich gewehrt hat -, so würde man sie unter einem moralischen Vorwand, der notfalls auch Gewalt deckt, "zu ihrem eigenen Besten" noch zur Gentherapie schleppen. Denn herrschen tun immer die Starken, und sie brauchen ihre Schutzbefohlenen so nötig, wie der Wolf das Lamm braucht - nur eben in "menschlicher" Weise.

Warum können die Starken nicht aus sich selbst heraus wirken? Warum brauchen sie den Umweg über die Nächstenliebe? Der Mensch ist kein Gott, er kann nicht aus dem Nichts schaffen. Alle seine Erfindungen sind Problemlösungen, die Probleme stellt immer die Natur. Um allerdings die Einschränkungen, die die Natur auferlegt, überhaupt als Problem zu empfinden, das einer Lösung harrt, muß die stumme Akzeptanz aufhören, die andere Lebewesen gegenüber ihren Lebensumständen aufweisen. Und die innere Rebellion des Menschen gegen die "Grausamkeit" der Natur ist wesentlich eine Solidarisierung mit den Schwachen. Die "soziale Einstellung" führt zu jenem Freiheitsversprechen, das darauf wartet, von Technik und Wissenschaft realisiert zu werden.

Wer jammert am lautesten, wenn es kalt ist, wer ist nicht in der Lage, das rohe Fleisch zu beißen, wer fürchtet sich ständig vor Raubtieren, wer verlangt zum Einschlafen nach einer Geschichte? Die Alten, die Kranken, die Traurigen und die Ängstlichen - die Schwachen stoßen die zivilisatorische Veränderung an. Wenn es die Schwachen nicht gäbe, müßte man sie erfinden. Die Starken hätten sonst keine Aufgabe, an der sie stärker werden können.

Der Mensch, wenn er einigermaßen satt ist, ähnelt dem Seiltänzer im "Zarathustra": er will irgend etwas machen, damit die anderen staunen. Doch Seiltanzen ist auf die Dauer langweilig. Eine "Spaßgesellschaft" ist mit ihren Konsumideen schnell am Ende. Die Schwachen hingegen brauchen immer irgend etwas. Sie motivieren die stärksten Anstrengungen und ermöglichen jenes Gefühl der Befriedigung, das der Mensch nur empfindet, wenn er sich überwunden hat. Selbstbeherrschung wird geübt und perfektioniert als die Voraussetzung für eine Machtentfaltung nach außen.

Weder Geschichte noch Evolution sind zielgerichtet. Doch beide verlaufen nach genau gegensätzlichen Prinzipien. Während Evolution immer Anpassung bedeutet, fördert die Zivilisation genau umgekehrt das Unangepaßte. In der Natur überleben nur die am besten Angepaßten, das heißt, die Starken verdrängen die Schwachen. Die Zivilisation schützt diejenigen, die zur natürlichen Anpassung nicht fähig oder willens sind. Bei der Hilfe für "lebensuntüchtige" Mitmenschen wird die Macht über die Natur immer größer.

Hinter dem Fähnchen des Altruismus schreitet der Wille zur Macht ohne Rücksicht auf Verluste voran. Krisen gehören daher zur geschichtlichen Entwicklung so selbstverständlich wie die Kriege. Doch was man irrtümlich als Krise bezeichnet, ist die sogenannte Dekadenz. Wie Nietzsche sie auffaßt, ist Dekadenz nichts periodisch Wiederkehrendes, sondern eine bestimmte Erscheinung über einen bestimmten Zeitraum. Der Soziobiologe Edward Wilson hat auf das Jahr 1841 den Wendepunkt datiert, von dem an nicht mehr der Mensch sich gegen die Natur behaupten muß, sondern die Natur gegen den Menschen. Damit ist das ganze Konzept von Nächstenliebe, Mitleid und Sozialismus fragwürdig geworden. Im einzelnen mögen solche Gefühle noch nachzuvollziehen sein, global gesehen sind sie von Übel, weil dadurch die Umweltzerstörung durch Überbevölkerung und Massenwohlstand vorangetrieben wird. Nietzsche ist 1844 geboren. Prophetisch sieht er die Entwicklung voraus und ekelt sich vor dem "Ameisenkribbelkram" des "letzten" Menschen. Nietzsche hätte sich über die aktuelle Krise sicherlich gefreut. Jeder Arbeitsplatz weniger ist ein Plus nicht nur unter ökologischen Gesichtspunkten, sondern weil der hohl gewordene Hochmut einer Spezies angegriffen wird, die sich in immer neuen Runden feiert, obwohl der Gegner längst k.o. gegangen ist. Seitdem ist das Mitleid, bei Schopenhauer noch die vornehmste menschliche Regung, zur billigen Sentimentalität geworden, weil der Mensch es nicht mehr nötig hat. Im Gegenteil: Was ihm fehlt, ist der ebenbürtige Gegner, die gefährliche Herausforderung. Das ursprünglich bewundernswerte Sozialsystem verfällt zur Versorgungseinrichtung in dem Moment, wo es keine echte Not mehr lindert, wo nicht mehr Starke den Schwächeren helfen, sondern genau umgekehrt starke Kräfte durch Nichtgebrauch degenerieren.Was den Wohlfahrtsstaat zugrunde richtet, sind also nicht die wirklich Schwachen und deren engagierte Helfer. Es sind die Durchschnittlichen, die nicht ihre Stärken entwickeln, sondern ihre Schwächen betonen, um bequem durchs Leben zu kommen. Und diese korrupte Haltung der "viel zu Vielen" ist wiederum keine Bösartigkeit, sondern Zeichen der sogenannten Post-histoire, einer Zeit also, die im Hinblick auf die Zukunft keine Hoffnung mehr läßt, weil die Technik und Zivilisation an ihre natürlichen Grenzen gekommen sind.

Hier liegt die Hoffnung nahe, durch einen Einbruch der Natur die menschlichen Kräfte wieder anzustacheln. Wo heute der "Manchesterkapitalismus" manche Herzen höher schlagen läßt, berauschte sich Nietzsche an der italienischen Renaissance. Bei Lichte besehen allerdings ist die Renaissance der Beginn des Humanismus und der Kapitalismus der des Massenwohlstands - nichts anders sagt ja Adam Smith. Wer sich also aus der demokratischen Politik angeekelt zurückzieht, wird den gleichen "Ameisen" in der Wirtschaft wiederbegegnen. Dort heißen sie Kunden und herrschen sogar monarchisch. Nietzsches Begeisterung von Cesare Borgia ist reine Rhetorik, wie der "Turbo-Kapitalismus" vor allem als rhetorische Figur funktioniert. Das Gute wird nicht vom Bösen besiegt, sondern auf das Jenseits von Gut und Böse zurückgeführt - so lassen sich auch die Krisenwindungen ertragen.

Was aber kommt danach? Der Mensch ist zu stark geworden und verdient keine Hilfe mehr. Weil wir aber nur am Helfen wachsen können, sieht Nietzsche sich nach jemand anderen um, für den er sich stark machen könnte. Und erkennt - wieder prophetisch - den Übermenschen. Wenn das ungeborene Kind keine eigene Stimme hat, um sein Interesse zu vertreten, wie die Abtreibungsgegner betonen, so hat der Übermensch es noch schwerer. Gegen seine Ankunft haben sich alle fest verschworen. Keiner will ihn auch nur so groß werden lassen, daß er mit bloßem Auge sichtbar würde. Diesem Schwächsten zu helfen, heißt daher die Aufgabe. Nicht Selbstliebe löst die alte Nächstenliebe ab, sondern die "Fernstenliebe", wie Nietzsche es nennt.

 

Dr. Angelika Willig, Jahrgang 1963, studierte Philosophie und Lateinische Philologie in Freiburg und München.


 
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