© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/03 23. Mai 2003

 
Eine Scheidung ist unrealistisch
Geopolitik: Die "Europäische Achse" basiert auf mangelnder Selbsterkenntnis / Die Stärke der USA resultiert auch aus der Schwäche Europas und speziell Deutschlands
Klaus Hornung

Die aktuelle Debatte erfordert nicht zuletzt deutsche Selbsterkenntnis. Es ist kein Vergnügen, alten Weggefährten in einer bestimmten politischen Konstellation zu widersprechen, zumal wenn man ihre Motive durchaus versteht. Aber die Vorschläge von Carl Gustaf Ströhm (JF 13/03 und JF15/03) und Günter Zehm (JF 14/03), zuletzt auch von Eberhard Straub (JF 20/03), scheinen doch allzu sehr dem Prinzip Wünschbarkeit zu unterliegen, das die reale Welt der Fakten und Kräftekonstellationen verfehlt.

Als Angehöriger des letzten Kriegsteilnehmer-Jahrgangs 1927, der zum Beispiel den menschenverachtenden angelsächsischen Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung hautnah erlebt hat, verstehe ich die Ambivalenz gegenüber den USA, und der europäische kulturkritische Unmut gegen McDonald's und Hamburger, "Denglisch", Jeans und Spaßgesellschaft, gerade auch in seiner 68er Variante, ist mir nicht fremd. Aber da sind auch positive Erfahrungen: in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft im Sommer 1945 (allerdings nicht in den berüchtigten Lagern am Rhein), mit der studentischen Hoover-Speisung bis zur Währungsreform. Da ist die Erinnerung daran, daß es vor allem die Amerikaner waren, die den Deutschen durch den Marshall-Plan und dann im Zeichen der Westoption Konrad Adenauers den Weg öffneten, der vom absoluten Nullpunkt der bedingungslosen Kapitulation und von Potsdam hinführte zu neuer Politik- und Bündnisfähigkeit. Da ist die Erinnerung an die Luftbrücke 1948/49 und ihre Verteidigung West-Berlins gegen die totalitäre Sowjetunion, die bis zur Mitte Deutschlands und des Kontinents, vor die Tore Hamburgs, zum Thüringer- und Böhmerwald vorgedrungen war, und an die nachfolgenden Jahrzehnte des Kalten Krieges, die uns mit den Amerikanern in einer Front sahen. Und ohne den Rückhalt der USA im Herbst 1989 hätten unsere vielbeschworenen europäischen Nachbarn, das Frankreich François Mitterrands und das Großbritannien Margaret Thatchers die deutsche Einheit wohl kaum akzeptiert.

Die USA dienten dem inner-europäischen Gleichgewicht

Diese biographisch-zeitgeschichtlichen Anmerkungen führen mich nun freilich nicht dazu, sentimentale Motive der Erinnerung und Dankbarkeit in der Politik zu überschätzen. Ich teile Bismarcks Devise, daß die Beziehungen zwischen Staaten und Völkern vor allem von Interessen geleitet werden. Und Adenauers Kanzlerschaft steht mir noch viel zu stark vor Augen, um zu erkennen, daß seine Westoption und westliche Bündnispolitik vor allem von realen deutschen Interessen bestimmt wurde und weit weniger, als man heute meint, von wolkigen Begriffen wie "westliche Wertegemeinschaft", die erst sehr viel später Konjunktur gewannen. Insbesondere die Balance der (west-)deutschen Westpolitik zwischen "Europa" und den USA, die er einzuhalten verstand, diente auch dem innereuropäischen Kräfteausgleich, der die Bundesrepublik vor allem vor zuweit gehenden französischen Zumutungen bewahrte. Im übrigen stand die trübe Politikergeneration der Bundesrepublik, auch Adenauer oder Ernst Reuter, Theodor Heuss und andere, noch weitgehend in der Kontinuität unserer Nationalgeschichte, wie sie etwa in der feierlichen Präambel des Grundgesetzes zum Ausdruck kam mit ihrem Auftrag, "die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". Es ging um die Errichtung eines staatlichen Notbaus in dem Abgrund, in den Hitler und der totalitäre Nationalsozialismus die Deutschen gestürzt hatten, eines Kern- und Treuhandstaates für Gesamtdeutschland. In diesem Sinne drückte sich in Adenauers Westoption, anders als heute viele unterstellen, eine "Umweglogik" aus, die zur Einheit zurückführen sollte und schließlich 1989/90 ja auch geführt hat.

Das polemische Wort Kurt Schumachers (SPD) über Adenauer als dem "Kanzler der Alliierten" traf nicht den innersten Kern seiner Motive und Strategie. Es macht freilich die starken Gegenströmungen in der Bundesrepublik deutlich, die von Anfang an wirksam waren und auch heute, in der Debatte von 2003, wieder hervordrängen: das "Ohne uns", "Ohne mich" in großen Teilen der damaligen Kriegsgeneration und besonders in der politischen Linken, in Gewerkschaften und Kirchen, die allesamt dem (west-)deutschen "Verteidigungsbeitrag" die Neutralität zwischen Ost und West vorzogen und einem "dritten Weg" huldigten zwischen westlich-amerikanischem Kapitalismus und "sozialistischem" Sowjetsystem. Die Überlegungen changierten von einer neutralen gesamtdeutschen "Großschweiz" in Mitteleuropa über das Brückenkonzept des Christdemokraten Jakob Kaiser bis zu jenem fundamentalistisch-christlichen Pazifismus, den Gustav Heinemann auf die Formel brachte, Gott habe uns "die Waffen aus der Hand geschlagen", es widerspreche daher seinem Willen, sie erneut zu ergreifen. In den fünfziger Jahren meinte Carlo Schmid (SPD) im Streit um West-Bündnis, "Wiederbewaffnung" und Bundeswehr, die Amerikaner sollten von uns lieber Geld und alle sonstigen materiellen Hilfen fordern, aber um Gottes Willen keine deutschen Soldaten. Während Adenauer die Bundeswehr als Instrument neuer deutscher Politikfähigkeit verstand, blieb sie für große Teile der Öffentlichkeit und auch der politischen Klasse so etwas wie eine Versicherungspolice für die im Entstehen begriffene westdeutsche Schönwettergesellschaft. Die Bündnispolitik mit "dem Westen" und seiner Hegemonialmacht wurde schließlich nach dem Motto akzeptiert "Im Schatten des großen Bruders ist gut ruhen".

Die Ruhe im Schoß des großen Bruders ist zu Ende

Im Schutz des Bündnisses konnte sich unsere immer perfektere Wohlfahrtsdemokratie ausbilden. Zu Recht sprach der konservative Publizist Winfried Martini schon in den sechziger Jahren von einem Staat ohne Ernstfallbewußtsein. Die alte Bundesrepublik stand unter dem Primat der Sozial- und Umverteilungspolitik, die Bundeswehr blieb bestenfalls ein notwendiges Übel, ihre Integration in die Zivilgesellschaft erschien als wichtiger denn ihre Kampffähigkeit. Henry Kissinger nannte die Bundesrepublik zu Recht "eine Ökonomie auf der Suche nach ihrem politischen Daseinszweck". Noch im ersten Golfkrieg 1991 kaufte sich die Regierung Kohl/Genscher mit den bekannten 17 Milliarden Deutschen Mark von militärischer Beteiligung frei. Der Zusammenbruch der Sowjetunion 1990/91 wurde um so mehr mit Erleichterung quittiert, als das wiedervereinigte Land "nur noch von Freunden umzingelt" erschien. Und seitdem ist der Verteidigungshaushalt systematisch ruiniert worden, so daß Deutschland heute im Nato-Vergleich, gemessen am Staatshaushalt, im hinteren Feld rangiert, etwa hinter Ungarn, mit dem Ergebnis, daß die politischen Anforderungen vom Balkan bis Afghanistan im Verhältnis zu den militärischen Möglichkeiten immer dramatischer auseinanderklaffen - auf Kosten der Soldaten, die man noch mehr als früher ideell weitgehend alleinläßt.

Die vielgelobte "Zurückhaltung" der Bundesrepublik in der Sicherheits- und Militärpolitik, die schon Verteidigungsminister Volker Rühe nach 1990 als eine Art "Doktrin" verkündete, beruht auf einem gesellschaftlichen Friedenswillen, der von internationalen Herausforderungen möglichst verschont bleiben will. Doch nun scheint die Zeit der Ruhe im Schoß des großen Bruders zu Ende zu sein, und entsprechend groß ist die Irritation, gipfelnd in der Forderung der unvermeidlichen Kündigung, seien doch die alten Geschäftsgrundlagen entfallen.

Tatsächlich ist die Hegemonialmacht USA mit ihren militärischen und militärtechnischen Anstrengungen den europäischen Bündnispartnern weit davongezogen. Der Abstand an militärischer Stärke zwischen den USA und Europa ist geradezu dramatisch geworden. Das wurde nicht zuletzt durch die Krisen auf dem Balkan deutlich, die nach allen geopolitischen Kriterien eigentlich von der EU allein hätten gelöst werden müssen. Die Kosovo-Krise zeigte das ganze Ausmaß der militärischen Schwäche der Europäer. Das über Jahrzehnte hin wohlstandsverwöhnte Europa machte jedoch keine Anstalten, diese Situation zu ändern, und es war den Amerikanern nicht zu verdenken, daß sie daraus ihre Folgerungen zu ziehen begannen.

Nach dem 11. September 2001 verschärfte sich die Situation. Die Europäer und ihre Regierungen wählten jedoch erneut den einfacheren Weg, gegenüber dem zunehmend unilateralen Vorgehen der Amerikaner den moralischen Zeigefinger zu erheben, der so leicht zum Alibi für eigenes sicherheitspolitisches Versagen gerät. Möglicherweise bleibt den europäischen Regierungen angesichts der wohlfahrtsstaatlichen Verfaßtheit ihrer Gesellschaften gar keine andere Wahl. Der Unmut der amerikanischen Seite angesichts dieser Zweideutigkeiten der Europäer erscheint mir zumindest nicht unverständlich. Es wäre an der Zeit, sich der Einsicht zu erinnern, die Thukydides in seinem Werk über den Peloponnesischen Krieg in dem Satz formulierte: "Recht und Gerechtigkeit bestehen nur zwischen Gleichstarken. Sonst machen die Starken, was sie wollen und die Schwachen erdulden, was sie müssen" - ein Leitsatz, der seine Gültigkeit über die Jahrtausende hin behält für die Staatenwelt insgesamt wie für die Bündnisse.

Europa muß sich wieder zur Machtpolitik bekennen

Das einzige realistische Rezept, den Unilateralismus Washingtons zu korrigieren und zu begrenzen, eine gewisse Multipolarität zu erreichen, kann nur in einer entsprechenden Anstrengung der Europäer und nicht zuletzt Deutschlands bestehen, Anstrengungen gewiß nicht nur militärischer Art, sondern natürlich auch in moralischer, gesellschaftlicher, historisch-politischer Einsicht. Es nützt absolut nichts, sich über amerikanische Machtarroganz zu erregen und moralistisch zu erheben. Es geht vielmehr darum, daß die große Nation in der Mitte Europas seit längerem dabei ist, sich außen- und sicherheitspolitisch selbst zu marginalisieren und in die internationale Drittklassigkeit zu versetzen und das gar als Schlußfolgerung aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zu preisen, wie das etwa unser derzeitiger Außenminister so gerne tut. Das atlantische Bündnis allzu leichtfertig durch neue wünschbare Konstellationen wie die "Achse Paris - Berlin - Moskau" ersetzen zu wollen, ist ein allzu billiges Rezept, insbesondere wenn man damit etwa die Hoffnung verbindet, in der militärpolitischen Drittklassigkeit verharren zu können.

Gerade hier bedürfte es des Willens der Europäer und besonders der Deutschen, im internationalen "Spiel" zu bleiben und dessen Regeln und Verlauf soweit irgend möglich zu beeinflussen durch eine Wiederbesinnung auf verantwortliche Machtpolitik im globalen Maßstab.

Schon 1989 hatte Arnulf Baring im Blick auf die damals wiedergewonnene deutsche Einheit von uns nichts Geringeres gefordert als die Einsicht, "daß wir mit unseren heutigen Vorstellungen, Werten, Wünschen und Hoffnungen, die wir seit dem letzten Krieg entwickelt haben, nicht über die nächsten Jahrzehnte hinwegkommen werden. Diese Gesellschaft wird zugrunde gehen, wenn sie sich auf den engen, wenn auch respektablen Kanon (der wohlfahrtsstaatlichen alten Bundesrepublik) beschränkt". Diese Feststellung hat in unseren Tagen nichts an Gewicht verloren, auch wenn wir das gute Jahrzehnt seit der Einheit noch immer weitgehend mit den Versuchen der Selbstbeschwichtigung unserer Schönwettergesellschaft vertrödelten. Die damals von Baring prognostizierte Gefahr, daß wir ohne den dringend notwendigen Paradigmenwechsel längerfristig die Entscheidung über unser geschichtliches Schicksal anderen überlassen, in den Status von Fellachen absinken, ist inzwischen eher gewachsen. Das Menetekel steht an der Wand, es lautet bekanntlich: "Gewogen und zu leicht befunden". Auch die gegenwärtigen Träume vom europäischen Kontinentalblick, gar von einem, "den die USA fürchten", wie Eberhard Straub sagt, helfen darüber nicht hinweg. Um das nüchterne Kalkül der globalen "Konstellation der Kräfte" kommen wir nicht herum. Statt alibihaft moralisch zu lamentieren, sollten wir uns besser an die zitierte Schlußfolgerung des alten Thukydides halten. Allzu leichtfertig und unüberlegt ist die demokratische Rechte in den letzten Wochen den Ratschlägen einer linken Gesinnungsethik auf den Leim gegangen, die den Gutmenschen wohlige Gefühle beschert, aber stets im politischen Abseits endet.

Einer realistischen Verantwortungsethik geht es auch heute um die Mitwirkung an den Entscheidungen und den Einfluß auf sie, wobei es mehr denn je sich darum handelt, beide Extreme zu vermeiden, beflissenes Vasallentum einerseits und pazifistische Selbstmarginalisierung andererseits. Die rot-grüne Außen- und Sicherheitspolitik hat hier ihre professionelle Prüfung nicht bestanden, und die politische Rechte sollte sich zu schade sein, ihr etwa das Testat zu gewähren. Vor allen waghalsigen außenpolitischen Wünschbarkeiten und als unabdingbare Voraussetzung anstehender Neujustierungen geht es "um ein den neuen Herausforderungen angemessene Grundhaltung unseres Volkes. Es kommt alles darauf an, daß das Land ein anderes Bewußtsein bekommt - ernsthafter, wacher, tapferer, auch opferbereiter wird" (Arnulf Baring). Hier hätte die Rechte in der nächsten Zeit wahrlich genug zu tun.

Foto. Deutsch-Amerikanisches Freundschaftsfest im Juli 2002 vor dem Kanzleramt: Der moralische Zeigefinger als Alibi für eigenes Versagen

 

Prof. Dr. Klaus Hornung ist Politikwissenschaftler und Präsident des Studienzentrums Weikersheim.


 
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