© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/03 30. Mai 2003

 
Die Volksmehrheit als Fußabstreifer
USA: Moralische Eiferer stehen gegen moralisch Blinde - Wie Straussianer und Realisten die amerikanische Außenpolitik sehen
Paul Gottfried

In den letzten Wochen haben New York Times, New Yorker, Philadelphia Inquirer, Le Monde und Boston Globe eine Reihe von Artikeln gebracht, worin die Neokonservativen in der Bush-Administration mit dem politischen Theoretiker Leo Strauss (1899-1973) in Verbindung gebracht werden. Es sei auffällig, daß viele derer, die heute einer imperialen amerikanischen Hegemonie mit global-demokratischen Phrasen das Wort reden, wie zum Beispiel Richard Perle, Paul Wolfowitz, Bill Kristol, Robert Kagan und Abram Shulsky, bei Strauss oder einem seiner akademischen Jünger studierten. Es gebe ein geheimes Band, wird nun verkündet, zwischen dem Meister von der Universität Chicago und seinen politischen Aposteln. Nur wer Strauss' Kernideen verstehe, könne die Mentalität der Bush-Berater begreifen, heißt es.

Doch die "Enthüllung" ist in Wahrheit eher ein alter Hut, und Kommentatoren wie Seymour Hersch und James Atlas übertreiben, den ideellen Einfluß Strauss' auf die gegenwärtige Politik. Der 1938 aus Deutschland emigrierte jüdische Gelehrte Strauss arbeitete über die klassischen und frühen neuzeitlichen Philosophen. Zu Ereignissen der Gegenwart äußerte er sich fast nie. Um die Neokonservativen mit ihren liberalen Cold-War-Platitüden und ihrer gelegentlichen Beimischung von Revolutionsphrasen zu beurteilen, benötigt man keinen Leo Strauss. Tatsächlich ist er entbehrlich für ein Verständnis der neokonservativen Vordenker einer US-Außenpolitik nach dem Vorbild Woodrow Wilsons.

Wolfowitz, Perle und Kristol haben sich aus der Straussianischen Lehre genau das herausgepickt, was ihnen gefiel. Anders als Schüler wie Walter Berns oder Harry Jaffa hatte Strauss kein nachweisbares Interesse an der Bürgerrechtsbewegung. Als früherer Unteroffizier der deutschen kaiserlichen Armee des Ersten Weltkriegs war Strauss frei von der leidenschaftlichen Teutophobie, die seine erste Generation von Schülern auszeichnete und die auch heute noch bei vielen Neokonservativen zu spüren ist. Was Strauss' Anhänger anzog, waren sein ausgesprochener jüdischer Nationalismus, den sein Schüler George Anastapolo später so unerschrocken kritisierte, ferner seine (manchmal schon rituellen) Lobpreisungen der amerikanischen Demokratie, besonders in seinen Walgreen Lectures an der Universität Chicago 1949, und seine Breitseiten gegen jeglichen moralischen "Relativismus".

Werte und Prinzipien sind nicht isoliert zu sehen

In "What is Political Philosophy?" (1959) knöpft sich Strauss den "Historizismus" vor, die Vorstellung, daß Werte und Prinzipien von den geschichtlichen Umständen geprägt und nicht isoliert zu sehen seien. Das Problem dieser Schmähschrift ist, daß sie sich gegen Strohmänner richtet. Es ist schwierig, historistisch ausgerichtete Denker zu finden, die solche Ansichten äußerten, wie sie Strauss ihnen unterstellt. Die von ihm Gegeißelten, wie zum Beispiel Edmund Burke, Max Weber oder der Rechtswissenschaftler Hans Kelsen, haben zur Beziehung von Geschichte und Werten entweder etwas anderes gesagt, als Strauss behauptet, oder sie haben es anders gemeint, als Strauss es interpretiert.

Wichtig für Strauss war ein elitäres Denken. Er vertrat, was andere die "doormat theory of the majority" nannten: die Volksmehrheit als Fußabstreifer. Strauss und seine Anhänger haben den Begriff des "politischen Philosophen" in Umlauf gebracht (Aristoteles hätte heftig widersprochen, denn nach ihm ist Politik eine explizit nicht-philosophisches, praktisches Unternehmen). Nach Strauss müssen die politischen Philosophen ihre Gedanken in verschlüsselter Form äußern, sowohl um die Zensur zu vermeiden, als auch um jene zu täuschen, die durch die Wahrheit korrumpiert werden könnten.

Die von Straussianern geliebte Unterscheidung zwischen der "esoterischen" und "exoterischen" Bedeutung eines Texts ist eine reichlich bizarre, unbelegbare Annahme. Nach dem Politologen Stephen Holmes drückt sich darin eine wahnhafte Arroganz von Deutern aus, die sich berechtigt fühlen, mit noblen Lügen und versteckten Botschaften zu operieren. Ebenso dient sie als Entschuldigung, verstorbenen Denkern die privilegierte Sicht des Interpreten anzudichten. Alle klugen Leute in der Vergangenheit, so heißt es, hätten wie die Praktiker der Straussianischen Exegese verfahren. Wenn man die Toten zurückbringen könnte, so wird versichert, dann würden sie fröhlich über "Menschenrechte" predigen.

Der Gedanke, die Straussianer selbst könnten "Relativisten" sein, ist schon mehr als einem ihrer Kritiker gekommen. Trotzdem geht ein solcher Einwand vermutlich fehl. Sowohl Strauss, der deutsch-jüdische Flüchtling, der zum brennenden Zionisten wurde, wie auch seine vorwiegend jüdischen Schüler, die Franklin D. Roosevelt und Harry Truman feiern, haben Loyalitäten verinnerlicht. Der Trick dabei ist, daß sie diese als amerikanischen Patriotismus und als selbstevidente Wahrheiten ausgeben, während sie ihre Gegner als moralisch verwerflich verdammen.

Der Grund, warum die Straussianer damit erfolgreich sein konnten, liegt darin, daß Konservative im allgemeinen nicht hinter die nach Überzeugungen klingende Rhetorik geschaut haben. Diese Denkfaulheit und mangelnde Neugierde gab es schon vor der neokonservativen Übernahme der amerikanischen Rechten - und vor den Zeiten, als man Angst haben mußte, wegen Kritik am monomanischen Zionismus der Straussianer als "Antisemit" bezeichnet zu werden. Schon in den 1950er Jahren blickten konservative Christen, besonders Katholiken und anglo-katholische Thomisten, zu Strauss auf als einem Held gegen die drohende moralische Zersetzung. George H. Nash hat dies breit in "The Conservative Movement since 1945" dargelegt.

Traditionalisten müßten besser unterscheiden

Auch das deutsche "Lexikon des Konservatismus", 1996 erschienen, preist Strauss für seine Erkenntnis, daß "die Rehabilitierung der klassischen politischen Philosophie ... das Bestreben mit ein(schließt), die Natur als Maßstab und den Primat des Guten wieder in Geltung zu setzen". Solch hyperbolische Interpretationen übersehen, daß Strauss seinen Skeptizismus den Antiken zuschreibt, indem er zum Beispiel jeden Glauben Sokrates' oder Platos ewige Form ausdrücklich verneint. Die Gründung der Vereinigten Staaten verfolgt er auf den atheistischen Materialismus John Lockes zurück, den er als integral für die amerikanische moralische Identität verteidigt.

Man sollte auch präzisieren, welche moralische Relativisten denn wirklich gefährlich sind. Viele Straussianer und Konservative weisen auf die gemeine Linke, die traditionelle Werte zerstört, um ihre eigenen Doktrinen hochzuhalten. Im Namen des Antifaschismus und des Kampfs gegen Diskriminierung üben solche postmodernen "Relativisten" gerne Kontrolle über andere aus, oder wenden sich zu diesem Zwecke an den Staat. Von ganz anderem Holz sind jene Relativisten, die alle Kulturen, einschließlich der westlichen, christlichen Zivilisation, gleichberechtigt behandeln. Hier müßten Traditionalisten in ihrem Kulturkampf besser unterscheiden.

Während Leo Strauss heute wieder in aller Munde ist, sind die Schriften seines ebenfalls deutsch-jüdischen Kollegen Hans Morgenthau (1904-1980) weniger bekannt. Morgenthau, der wie Strauss an der New School of Social Research in Chicago lehrte, vertrat eine "realistische" Theorie der internationalen Beziehungen, darin das komplette Gegenteil der neuen Straussianer. Obwohl Morgenthau sich als "Burke'scher Konservativer" verstand, hat der konservative Hauptstrom ihn nie akzeptiert. Er galt als "Werte-Relativist", der die amerikanische Demokratie als Ideologie eines bestimmten Nationalstaats verstand und nicht als Modell für die ganze Welt. Zudem erkannte er die Sowjetunion als eines von zwei Machtzentren einer bipolaren Welt an.

Geschadet hat Morgenthau, daß er auch für die New Republic schrieb, bevor diese ins Lager der Neokonservativen einlief. Trotzdem sind seine Bücher, angefangen mit "Politics among Nations" (1947), schockvoll mit essentiell konservativen Ansichten. In "A New Foreign Policy for the United States" (1969) warnt Morgenthau von den "Missionaren des amerikanischen Experiments", die Wilsons "Kreuzzug für eine universelle Demokratie" nachspielen wollten. Nach Wilsons Überzeugung gebrauche man militärische Intervention "als ein Instrument, mit dem Amerika den Zweck seiner Gründung erreichen würde: die Segnung seines eigenen politischen Systems der ganzen Welt zu bringen".

Morgenthau zögerte nicht, den Globalismus nach der Art Wilsons als "einen Fluch der amerikanischen Außenpolitik" zu bezeichnen. Sein Traktat "In Defense of the National Interest" (1952) enthielt die Warnung: "Vergeßt die Vorstellung vom Kreuzzug, irgendeine Nation, sei sie auch noch so tugendhaft und mächtig, könne die Mission haben, die Welt nach ihrem Ebenbild zu formen." Bereits in "Politics among Nations" zeichnete er ein Bild von den wertglückseligen Idealisten, deren "Hang zu moralischen und philosophischen Abstraktionen die objektive Frage behindert, was andere Leute wirklich wollen".

Morgenthaus kritische Perspektive verrät eine grimmig konservative Sicht der Situation des Menschen in seiner Zeit. Der am häufigsten gehörte Vorwurf gegen diese Position lautet, darin verberge sich reiner Zynismus gegenüber moralischen Übeln, die unseren Sinn für Anstand verletzen müßten. Moralische Menschen sollen durch Massenmord oder Konzentrationslager erschüttert sein. Was Morgenthau, George Kennan und andere politische Realisten anscheinend forderten, ist eine amerikanische Außenpolitik, die moralisch blind ist.

Morgenthau beschrieb moralische Aspekte positiv

Zwei Bemerkungen zu dieser Kritik der Straussianer sind angebracht: Erstens ist politischer Realismus eine explizit moralische Reaktion auf einen von den Realisten als gefährlich und falsch empfundenen Zugang zu menschlichen Beziehungen. Realisten möchten keinesfalls humanitäre Belange aus der Außenpolitik herausdrängen, sondern die Politik frei von ideologischer und apokalyptischer Inbrunst halten. Deshalb wirft Morgenthau in "Politics among Nations" einen recht wehmütigen Blick zurück auf ein aristokratisches Zeitalter, als nüchterne Gentlemen kühl und abgeschirmt von den Leidenschaften des Volks miteinander Politik machten. In einer Demokratie, glaubte Morgenthau, sei "Propaganda als ein Instrument der Außenpolitik unvermeidlich", jedoch müsse diese "gefährliche" Kraft kontrolliert werden.

Zweitens hat Morgenthau die moralischen Aspekte der Staatskunst auch positiv beschrieben. In "Dilemma of Politics" (1958) erklärt er, daß "moralische Prinzipien niemals voll und ganz verwirklicht werden können, aber bestenfalls muß man sich ihnen durch die stets vorrübergehende Balance der Interessent annähern". Zudem liege für Konservative in einem System aus "checks and balances" ein "universelles Prinzip für eine pluralistische Gesellschaft". In einer Passage schreibt Morgenthau wohl in Anspielung auf die von den Straussianern gewählte Bezeichnung "politische Philosophen": "politische Philosophie, um ertragreich zu sein, muß eine Aristotelische Unterscheidung treffen zwischen dem, was idealerweise gut ist, und dem, was unter den gegebenen Umständen gut ist".

In der Tat kann man nach Morgenthau überhaupt kein Völkerrecht anwenden, wenn man nicht annimmt, daß "identische oder komplementäre Interessen" zwischen Nationen existieren, wie unterschiedlich sie intern auch sein mögen. In "In Defense of the National Interest" stellt Morgenthau dem üblen, aber schlauen "Machtpolitiker" Stalin, "der, unbelastet von Überlegungen zu ideologischen Vorteilen, Rußlands traditionelle Machtsphäre zu festigen und auszudehnen suchte", den halsstarrigen Wilsonier FDR gegenüber. Anstatt Stalin mit einer Festsetzung der amerikanischen geopolitischen Interessen zu konfrontieren, verteidigte Roosevelt "ein abstraktes philosophisches Prinzip, das unter den gegebenen Umständen unmöglich zu realisieren ist".

Wie Morgenthau seinem Wahlland während des Korea-Kriegs ins Gedächtnis zu rufen suchte, kann ein ideologischer Krieg riskant werden, falls die kriegführenden Parteien nicht mehr zu unterscheiden wissen zwischen dem, was sie ihrer jeweiligen Öffentlichkeit erzählen, um Unterstützung zu mobilisieren, und dem, was sie als Grundlage ihrer internationalen Beziehungen akzeptieren. Wenn der Gegner als das absolute Böse dargestellt wird, verträgt sich das nicht mit einer Außenpolitik, die davon ausgeht, daß der gegenwärtige Feind zukünftiger Verhandlungspartner sein wird.

Vieles an Morgenthaus konzeptionellem Gerüst schaut heute recht abgenutzt aus, angefangen mit seiner zeitgebunden Sicht einer Welt aus Nationalstaaten. Ob man es nun begrüßen oder bedauern mag: Die Tage einer relativ stabilen Ordnung von territorial wie kulturell abgeschlossenen Staaten, die im Europa des 19. Jahrhundert existierte, sind gezählt. Und der imperiale und ideologische Herrschaftsstil, den Morgenthau beklagte, findet heute im amerikanischen Empire und seinen neo-Wilsonischen Hütern seine Verkörperung. Momentan haben jene das Sagen, die global-imperiale Töne mit Straussianischen und zionistischen Noten mischen.

Kommt am Ende der Trotzkismus?

Aber hat deshalb der konservative Realist Morgenthau jede Relevanz verloren? Triumphieren die revolutionären Schüler von Strauss? Wichtig bleibt Morgenthaus Warnung bezüglich der Grenzen der aktuellen Festlegung auf eine ideologische Außenpolitik. Es scheint zweifelhaft, ob ein Land auf ewig ungestraft seine Außenpolitik als Verlängerung interner gesellschaftlicher Experimente betreiben kann. Walter McDougall, Andrew Bacevich, Robert Tucker und James Kurth haben über die Verrücktheit geschrieben, amerikanische Sozialreformen international anzuwenden.

Zudem, wenn man die Kommentare von Francis Fukuyama und Michael Ledeen ließt, geht es den Neokonservativen um "kreative" Weltrevolution und forcierte Modernisierung. Diese Straussianische Agenda hat rein gar nichts mit "zeitlosen" Wahrheiten zu tun, sondern viel mit privaten Interessen und spezifischen Obsessionen. Es gibt Grund zur Annahme, daß die Kommentatoren, die jetzt die Straussianer als eine Wiederbelebung klassischer Werte diskutieren, am Ende über Trotzkismus schreiben werden. Ihre Subjekte sind schließlich globale Revolutionäre, die sich gelegentlich hinter restaurativer Sprache verbergen. Auch dies ist ein Aspekt der "doormat theory".

Foto: US-Außenminister Colin Powell, Präsident George W. Bush, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im Januar 2003 im Weißen Haus: Der Globalismus als Fluch amerikanischer Außenpolitik?

Foto: Leo Strauss (1899-1973)

 

Prof. Dr. Paul Gottfried lehrt Politologie am Elizabethtown College in Pennsylvania, USA. Zuletzt veröffentlichte er das Buch "Multiculturalism and the Politics of Guilt" (Univ. of Missouri Press, 2002). Sein Buch "The Search for Historical Meaning: Hegel and the Postwar American Right" (Northern Illinois Univ. Press, 1986) enthält eine detaillierte Studie zu Leo Strauss.


 
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