© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/03 06. Juni 2003

 
Kanzler auf Abruf
Deutschland in der Krise: Gerhard Schröders Agenda 2010 wird scheitern
Paul Rosen

Über acht Monate sind seit der Bundestagswahl vergangen, passiert ist in Deutschland relativ wenig. Nach der knappen Wiederwahl der rot-grünen Koalition gab es zunächst eine Serie von Abgabenerhöhungen. Seit März geht Kanzler Gerhard Schröder nun mit seiner "Agenda 2010" spazieren. Nach einer quälenden Diskussion segnete ein SPD-Sonderparteitag am vergangenen Sonntag das Reformkonzept, das den Patienten Deutschland wieder gesunden lassen soll, mit 90 Prozent Zustimmung ab. Das Ergebnis läßt sich voraussagen: Die "Agenda 2010" wird aus Deutschland kein Wirtschaftswanderland machen. Und auch Schröder irrt sich gewaltig, wenn er meint, er habe auf dem Parteitag einen persönlichen Sieg errungen.

Man muß zunächst einen Blick auf die wirtschaftliche Lage werfen und dann die Maßnahmen der Agenda daran messen. Die wirtschaftliche Lage ist desaströs. Das Wachstum dürfte bestenfalls einen Wert zwischen null und 0,5 Prozent erreichen. Die Arbeitslosigkeit könnte zum Jahresende auf bis zu fünf Millionen steigen. Die Neuverschuldung des Bundeshaushaltes könnte auf bis zu 30 Milliarden Euro anwachsen. Die Sozialkassen sind allesamt pleite. Die Krankenversicherungen nehmen Kredite auf in der Hoffnung, diese Schulden durch Sonderbeiträge von Urlaubs- und Weihnachtsgeld der Beschäftigten wieder zurückzuzahlen. Diese Rechnung ging bereits im letzten Jahr nicht auf. Die Rentenversicherung hat praktisch keine Reserven mehr, so daß eine Beitragssatzerhöhung bereits im Herbst nicht mehr auszuschließen ist. Die Wirtschaft schafft neue Arbeitsplätze höchstens noch im Ausland.

Schröder will Deutschland wieder fit machen, indem er die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes von bis zu 32 auf nur noch zwölf Monate verringert. Zudem sollen Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf dem niedrigeren Niveau der Sozialhilfe zusammengelegt werden. Beide Maßnahmen sollen erst ab 2006 wirksam werden. Sie sind jedoch doppelt unsinnig. Erstens kommen sie zu spät, und zweitens bekommt ein älterer Arbeitsloser keinen neuen Job, wenn man ihm nicht mehr so lange Arbeitslosengeld zahlt. Wirkungslos verpuffen dürfte auch die zweite große Maßnahme der Agenda, nämlich die Herausnahme des Krankengeldes aus der paritätischen Finanzierung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern.

Jetzt sollen die Arbeitnehmer die Kosten alleine tragen, was die Arbeitgeber nur unwesentlich entlastet, den Konsum der Arbeitnehmer jedoch weiter einschränkt. Schröders Agenda wird, auch wenn viele Wirtschaftsexperten sie als Schritt in die richtige Richtung bezeichnen, scheitern. Die Kosten der Sozialsysteme laufen viel schneller davon.

Schröder hat einen entscheidenden Fehler begangen. Die Probleme, mit denen seine Regierung nicht mehr fertigwird, sind nicht neu. Besonders die Folgen der Arbeitslosigkeit und des Geburtenrückgangs sind seit mehreren Jahren selbst für Laien absehbar. Schröder hat sie jedoch bereits während seiner ersten Amtszeit völlig ignoriert. Erst half ihm die CDU-Spendenaffäre, dann rettete er sich mit der Pazifismus-Diskussion über eine Wahl, die er eigentlich nicht mehr hätte bestehen dürfen.

Seither treibt Schröder Säue durchs Dorf. Man kann es auch vornehmer ausdrücken: Er behandelt den Patienten Deutschland mit weißer Salbe. Erst kam die Hartz-Kommission, von der niemand mehr spricht und deren Ergebnisse keine Spuren hinterließen. Gleiches gilt für die Rürup-Kommission. Schröders Rede vom 14. März im Bundestag und die dort vorgestellte Agenda entpuppten sich als reines Blendwerk. Die Mehrheit der Deutschen glaubt nicht an Erfolge der Regierungsmaßnahmen. Das ist schlimm, denn nicht erst seit Ludwig Erhard ist bekannt, daß die Wirtschaft von guten Stimmungen lebt.

Politisch sind Schröder und seine rot-grüne Koalition längst am Ende. Zeit für Reformen wäre 1999 gewesen, als die Union im Bundesrat noch nicht über eine so erdrückende Mehrheit verfügte. Doch damals lebte der Niedersachse nach dem Motto "Regieren macht Spaß" und vernachlässigte seine Amtspflichten. Jetzt bekommt Schröder im Bundesrat nichts mehr oder nur noch Bruchstücke durch, egal was er anpacken würde. Die großen politischen Kräfte in Deutschland neutralisieren sich gegenseitig.

Viele Sozialdemokraten haben längst begriffen, daß mit dem Spieler Schröder kein Stich mehr zu machen ist. Man sieht Wahlniederlagen von historischem Ausmaß entgegen. Bremen war eine lokale Ausnahme. Das rot-grüne Projekt neigt sich dem Ende zu. Bei den Grünen dürfte dies Außenminister Joschka Fischer zuerst begriffen haben, als er sich von guten Freunden für einen Job bei der EU in Brüssel empfehlen ließ. Das Wetterleuchten, dessen folgendes Unwetter Rot-Grün in Berlin wegspülen könnte, kommt von Westen: In Nordrhein-Westfalen steht die rot-grüne Koalition vor dem Aus - und dies beileibe nicht nur wegen der Magnetbahn "Metrorapid". Der Vorrat an Gemeinsamkeiten ist schon lange verbraucht. Es gibt kein Geld mehr, das man in neue Multi-Kulti-Projekte stecken könnte. Nicht nur die Autofahrer stehen täglich, das gesamte Land Nordrhein-Westfalen steht seit langem in einem Stau.

Vom größten Bundesland Nordrhein-Westfalen gingen immer die politischen Signale für den Bund aus. Schröders Schicksal hängt inzwischen an einem seidenen Faden. Der Beifall für den Agenda-Kritiker Ottmar Schreiner auf dem Sonderparteitag hat gezeigt, daß Schröder zwar eine opportunistische Mehrheit, aber nicht mehr die Seele der Partei hinter sich hat. Man läßt den Kanzler und SPD-Vorsitzenden gewähren, bis sich eine Chance auf Ablösung ergibt.

Auf dem Sonderparteitag sprangen Schröder nur noch die Parteisenioren Erhard Eppler und Hans-Jochen Vogel zu Seite. Ihr Einsatz bringt dem Kanzler eine Verschnaufpause. Schröder muß jetzt mit seinen Plänen durch den Bundestag (vom Bundesrat gar nicht zu reden), wo die Mehrheit alles andere als komfortabel ist. Der Niedersachse kann nicht ständig mit Rücktritt drohen oder die Vertrauensfrage stellen. Über ihm hängt das Damoklesschwert, eine Politik zu vertreten, die alles andere als sozial gerecht ist.

In Wirklichkeit brachte der Sonderparteitag keine Stabilisierung, sondern er markiert den Beginn der Schröderschen Kanzlerdämmerung. Wenn es Nacht wird, wird Schröder stürzen - möglicherweise noch in diesem Jahr. Und der Tag wird Deutschland eine neue Regierung bringen, vermutlich eine Große Koali-tion von SPD und Union, die nicht ständig im Bundesrat scheitern würde.


 
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