© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/03 13. Juni 2003

 
Der Ideologie des Vakuums entsagen
Geopolitik: Jürgen Habermas' Vorstellungen von Europa sind voller Widersprüche / Peter Sloterdijk fordert eine Rückbesinnung auf den europäischen Gründungsmythos
Alain de Benoist

Jürgen Habermas bessert sich (ein bißchen). Sein von Jacques Derrida mitunterzeichneter und am 31. Mai in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichter Text, der am selben Tag in einer Reihe großer europäischer Tageszeitungen erschien (unter anderem in Frankreich in Libération, in Italien neben Texten von Umberto Eco und Gianni Vattimo in La Repubblica und La Stampa, in Spanien zusammen mit einem Text von Fernando Savater in El País), stellte in mancher Hinsicht eine positive Überraschung dar.

Habermas zaudert nicht, den "burschikosen Bruch des Völkerrechts" durch die USA anläßlich des Irak-Krieges - den er als "einseitige, präventive, ebenso verwirrend wie unzureichend begründete Invasion" bezeichnet - beim Namen zu nennen und die "forsche Hegemonialpolitik der verbündeten Supermacht" zu verurteilen. Er scheint mit anderen Worten voll und ganz die historische Bedeutung dieses Krieges begriffen zu haben, der weit über das hinausgehend, was man bislang an militärischen Einsätzen erlebt hat, eine neue Ära der zwischenstaatlichen Beziehungen eingeleitet hat. Kennzeichnend für diese neue Ära ist auf der einen Seite die beispiellose globale Offensive der Amerikaner, andererseits die daraus resultierende Herausforderung, vor die sich Europa gestellt sieht.

In den Massendemonstrationen gegen den Krieg, die in den meisten europäischen Großstädten stattfanden, sieht Habermas die "Geburt einer europäischen Öffentlichkeit". Er schreibt weiter, damit sei den Europäern "das längst angebahnte Scheitern ihrer gemeinsamen Außenpolitik zu Bewußtsein gebracht" worden. Die "Irak-Krise" habe diesbezüglich nur als "Katalysator" gewirkt.

Trotzdem wirft er sogleich eine grundsätzliche Frage auf: "Die künftige Verfassung wird uns einen europäischen Außenminister bescheren. Aber was hilft ein neues Amt, solange sich die Regierungen nicht auf eine gemeinsame Politik einigen?" Antwort: Europa bedarf eines "avantgardistischen Kerns" von Mitgliedstaaten, die entschlossen sind, diese gemeinsame Politik voranzutreiben, indem sie zur "Lokomotive" werden - in der Erwartung, daß die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union bereitwillig auf den Zug aufspringen.

Europas Präferenz ist der sichere Wohlfahrtsstaat

Der Schlüssel liegt in folgendem Satz: "Europa muß sein Gewicht auf internationaler Ebene und im Rahmen der UN in die Waagschale werfen, um den hegemonialen Unilateralismus der USA auszubalancieren." Mit anderen Worten geht es darum, um das Vokabular von Carl Schmitt zu verwenden (den Habermas, gelinde gesagt, niemals besonders geschätzt hat), der Erde einen neuen Nomos zu schaffen.

Habermas stellt die Frage nach der "europäischen Identität", von der er sehr zu Recht sagt, sie sei der einzige Begriff, der als Sockel für ein gemeinsames politisches Bewußtsein der Bürger Europas dienen kann: "Allein das Bewußtsein eines gemeinsamen politischen Schicksals und die überzeugende Perspektive für eine gemeinsame Zukunft können überstimmte Minderheiten von der Obstruktion eines Mehrheitswillens abhalten."

Worin aber besteht diese Identität? Geht sie dem Bemühen um eine gemeinsame Politik voraus, für die sie dann in gewisser Weise eine Bedingung wäre, oder kann man im Gegenteil davon ausgehen, daß sie sich aus der Schaffung einer solchen Politik ergibt, die somit den "Selbstverständigungsprozeß" darstellte, anhand dessen sich die europäische Identität herausbilden würde? "Gibt es historische Erfahrungen, Traditionen und Errungenschaften, die für europäische Bürger das Bewußtsein eines gemeinsam erlittenen und gemeinsam zu gestaltenden politischen Schicksals stiften?"

Habermas zählt einige Merkmale auf, die für das derzeitige Europa bestimmend sind: die Neigung zur "gesellschaftlichen Privatisierung des Glaubens", das heißt einen gewissen Argwohn gegenüber "Grenzüberschreitungen zwischen Politik und Religion", die ausgeprägten "Präferenzen für die Sicherheitsgarantien des Wohlfahrtsstaates und für solidarische Regelungen", die mit einer gewissen Skepsis bezüglich der "Leistungsfähigkeit des Marktes" als alleinigem Regulator wirtschaftlichen und sozialen Zusammenlebens einhergehen (vom Staat wird erwartet, daß er "Marktversagen" korrigiert), schließlich die Weigerung, technischen Fortschritten mit ungebrochenem Optimismus entgegenzusehen.

Es gibt keine spezifisch europäische Werte-Identität

Das Problem ist, daß viele der Werte, in denen Europa sich lange wiedererkannt hat, in mehr oder weniger jüngster Zeit in die ganze Welt exportiert worden sind, so daß sie heute nicht mehr als ausschließlich europäisch gelten können: "Haben nicht die bedeutendsten historischen Errungenschaften Europas gerade durch weltweiten Erfolg ihre identitätsbildende Kraft eingebüßt?" fürchtet auch Habermas. "Weil sich Christentum und Kapitalismus, Naturwissenschaft und Technik, römisches Recht und Code Napoléon, die bürgerlich-urbane Lebensform, Demokratie und Menschenrechte, die Säkularisierung von Staat und Gesellschaft über andere Kontinente ausgebreitet haben, bilden diese Errungenschaften kein proprium mehr." Unter diesen Umständen wird es schwierig, eine europäische Identität auf Werten aufzubauen, die nichts spezifisch Europäisches an sich haben. Europa, könnte man sagen, zahlt hier den Preis für seine universalistischen Ansprüche, für seine säkulare Tendenz, allen anderen Völkern nahebringen (oder aufzwingen) zu wollen, was einst seine Besonderheiten ausmachte.

Im übrigen zeigt Habermas sich allzu optimistisch, wenn er schreibt, das Parteiensystem fördere einen "ideologischen Wettbewerb, der die sozialpathologischen Folgen der kapitalistischen Modernisierung einer fortgesetzten politischen Bewertung unterzieht". In Wirklichkeit sind die Parteien offenkundig genauso ohnmächtig wie die Regierungen, der Globalisierung und dem Wuchern der Finanzmärkte Einhalt zu gebieten.

Der Widerspruch, an dem Habermas scheitert, besteht zwischen der Notwendigkeit - die er erkennt -, Europa auf Traditionen und Werten aufzubauen, die spezifisch seine eigenen sind, und einem "kosmopolitischen" Anliegen, das diesen Werten und Traditionen naturgemäß nicht gerecht werden kann.

Nach Sloterdijk besitzt Europa die Form des Reiches

Wie es sich für einen Repräsentanten der zweiten Generation der Frankfurter Schule gehört, bleibt Habermas so sehr Kantianer wie eh und je. Am Ende seines Artikels bekennt er sich zur "kantischen Hoffnung auf eine Weltinnenpolitik". Zuvor ist von dem "Wunsch nach einer multilateralen und rechtlich geregelten internationalen Ordnung" die Rede, der sich verbinde "mit der Hoffnung auf eine effektive Weltinnenpolitik im Rahmen reformierter Vereinter Nationen".

Dieser Begriff der "Weltinnenpolitik" ist äußerst aufschlußreich. Eine solche "Politik" läßt sich nur im Rahmen einer unilateralen Weltordnung, unter dem Zwang einer einzigen Weltmacht verwirklichen. Damit wird sie aber unvereinbar mit jener "Anerkennung von Differenzen - die gegenseitige Anerkennung des anderen in seiner Andersheit", von der Habermas ausdrücklich sagt, sie könne "zum Merkmal einer gemeinsamen Identität werden".

Weil er der von der Aufklärung geerbten "kosmopolitischen" Vision verhaftet bleibt, glaubt Habermas an die Notwendigkeit einer "Weltinnenpolitik". Seine Abneigung gegen Carl Schmitt hindert ihn daran einzusehen, daß die Welt keine politische Einheit ist und keine politische Einheit sein kann. Jede politische Einheit impliziert die Existenz wenigstens eines Anderen, gegen das sich erst eine Aktion ins Werk setzen kann, die es verdient, "politisch" genannt zu werden. Außerdem ist Innenpolitik nicht denkbar, ohne daß gleichzeitig die Möglichkeit einer Außenpolitik bestünde. Wie aber soll man sich eine "Weltaußenpolitik" vorstellen? Die Welt, die Habermas uns vorschlägt, ist eine eindimensionale, eine Welt ohne Außenraum - und damit das Ebenbild der Globalisierung, wie sie aktuell herrscht.

Der Bezug auf Kant hilft also nicht weiter, um Europa zu ermöglichen, sich auf seine Identität zu besinnen und sich als eigenständige Macht innerhalb einer multipolaren Welt zu beweisen.

Sehr viel schlüssiger und ergiebiger als Habermas' Text ist ein kleines Buch von Peter Sloterdijk, "Falls Europa erwacht", das 1994 bei Suhrkamp erschien und den noch vielsagenderen Untertitel trägt: "Gedanken zum Programm einer Weltmacht am Ende des Zeitalters ihrer politischen Absence".

Auch Sloterdijk fragt - auf sehr anregende Weise - nach den herausragenden Kennzeichen europäischer Identität. Er kommt zu dem Schluß, daß Europa eine typische "Form" besitzt, nämlich die des Reiches, so daß sich die gesamte europäische Geschichte als ewiger Prozeß einer translatio Imperii verstehen läßt: "Die Leitidee seiner politischen Einbildungskraft ist eine Art Seelenwanderung des römischen Imperiums durch die maßgeblichen und geschichtsmächtigen Völker Europas. (...) Europäer ist", sagt Sloterdijk, "wer in eine Übertragung des Reiches verwickelt wird."

"Europa", so Sloterdijk weiter, "setzt sich in Gang und hält sich in Bewegung in dem Maß, wie es ihm gelingt, das Reich, das vor ihm war, das römische, zu reklamieren, zu re-inszenieren und zu transformieren" - nicht im Sinne eines zerstörerischen Imperialismus, wie man ihn zu Napoleons oder Hitlers Zeiten erleben mußte, sondern im Gegenteil unter der Perspektive eines geschmeidigen, organischen Zusammenfügens all seiner kulturellen und menschlichen Komponenten.

Mit anderen Worten geht es für Europa darum, sich seines "Gründungsmythos" zu erinnern, um sich von neuem zu begründen, "zur Werkstatt einer zeitgemäßen Reichs-Metamorphose" zu werden, den Reichsgedanken auf eine Form post-imperialer "großer Politik" (Nietzsche) zu übertragen: "Heute schuldet die europäische Intelligenz sich ein Beispiel dafür, daß eine Politik im großen jenseits des Imperiums und jenseits der imperialistischen Verachtung möglich ist."

Was jeden Versuch, die europäische Identität - das "Wesen Europas" - festzulegen, so schwierig macht, ist in Wirklichkeit kein Mangel, sondern ein Überfluß: Im Laufe der Geschichte hat Europa alle denkbaren Identitäten gehabt. Wie der Historiker Franco Cardini kürzlich sagte, bezeichnen wir nicht nur eine geographische Realität, wenn wir von Europa reden, sondern auch eine komplexe Geschichte, die im Laufe der Jahrhunderte die verschiedensten Formen angenommen hat. Mehr als jede andere Kultur sind die Europäer dadurch zur Pluralität erzogen worden. Aber gerade diese Pluralität ist es, die sie jetzt zur Entscheidung zwingt - eine Entscheidung, die unvermeidlich politischer Natur sein muß.

Europa muß zu einer multipolaren Welt beitragen

Schon vor der Lockerung der Zange, in der es nach 1945 zwischen den Weltmächten des Westens und des Ostens eingeklemmt war, ist Europa geopolitisch, aber auch konzeptionell, philosophisch das "Reich der Mitte" geblieben. Dies ist es, was Europa befähigt, auf der Weltbühne wieder eine Rolle zu spielen. Angesichts eines Amerikas, das von Europa nichts bewahrt hat als die Neigung, im Namen der "Zivilisation" Kreuzzüge zu führen, besteht Europas Aufgabe, ja seine Bestimmung darin, aus der politischen Abwesenheit in die politische Gegenwart zu treten: Es muß das Zeitalter der Bedeutungslosigkeit hinter sich lassen, jener "Ideologie des Vakuums" entsagen, in der Konsumdrang mit dem Ästhetizismus einer "Spaßkultur" Hand in Hand ging, die Frivolität zur Lebensart mutieren ließ - es muß seinerseits eine Verwandlung durchmachen, um zur Herbeiführung einer multipolaren Welt beizutragen. Eine solche historische Metamorphose geht offensichtlich weit über das hinaus, was Jürgen Habermas zu denken imstande ist.

Foto: Schröder und Chirac auf dem G-8-Gipfel in Evian: Seelenwanderung des römischen Imperiums

Alain de Benoist ist Herausgeber der in Paris erscheinenden Kulturzeitschrift Nouvelle École.


 
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