© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/03 13. Juni 2003

 
Die zahme Herde sprengen
von Franz Uhle-Wettler

Deutschland steckt in einer vielfältigen Krise. Vorschläge für Wege aus der Krise liegen seit Jahren auf dem Tisch. Aber es kennzeichnet die Lage, daß es inmitten allgemeinen Rufens nach Reformen nur quälend mühsam vorangeht. Das zwingt zu der Frage, was die Ursachen der Reformträgheit sind. Ohne Beseitigung dieser Ursachen wird es nur Reförmchen geben. Wer Reformen will, muß vorher den Boden bereiten, damit er nicht Weizen in steinige Felder sät.

Wir erkennen einige Ursachen der Reformträgheit, wenn wir die älteste und gravierendste der Krisen betrachten.

Der Geburtenverfall schafft einen von immer weniger arbeitenden Menschen mehr und mehr unbezahlbaren Rentenberg sowie ebenso unbezahlbare Krankenkassenbeiträge. Damit trägt er durch Steigerung der Lohnnebenkosten mächtig zur Arbeitslosigkeit bei. Schließlich wird er schon bald eine Einwanderung erzwingen, die mit Auswahl, Ausbildung und Eingliederung Fremder noch in Jahrzehnten weitere massive Probleme schaffen wird.

Zur Beurteilung ist wichtig, daß der Geburtenverfall mit Wucht um 1970 einsetzte, die Geburten sanken in der Bundesrepublik von 1966 bis 1975 von 1,05 auf 0,6 Millionen. Das Menetekel stand seitdem groß und deutlich an der Wand. Um so mehr fällt auf: Geschehen ist dreißig Jahre nichts. Zudem haben auch die Medien die heraufziehende Krise kaum angesprochen, vielleicht bewußt verschwiegen. Das Problem drang erst in die Öffentlichkeit und in die Politik, als eintrat, was seit 30 Jahren vorauszusehen war: als nämlich Rentenversicherungen, Krankenkassen und dem Finanzministerium das Wasser bis an den Hals stieg.

Der erste und wichtigste Grund der jahrzehntelangen Untätigkeit ist wohl in einer Strukturschwäche jeder Demokratie zu finden. Die Politiker sind versucht, sich nur noch an der Frage orientieren, wie sie die nächste Wahl gewinnen. Das rückt Gefahren, die sich erst in der Zukunft, dann allerdings um so schlimmer auswirken werden, weit aus dem Blick. Ein zweites tritt gewichtig hinzu: Die zeitliche Belastung aller Spitzenpolitiker hat längst jedes Maß überschritten. Bismarck konnte sich noch wochen-, sogar monatelang ins hinterpommersche Varzin zurückziehen und das Tagesgeschäft seinen Mitarbeitern überlassen. Heute hingegen hasten die Politiker von einer nationalen oder internationalen Konferenz, Kabinettsitzung, Fernsehshow, Wahlveranstaltung zum nächsten Termin. Sie sind fleißig und opfern sogar ihre Abende und Wochenenden. Aber sie sind nur geschäftig. Ihnen fehlen Kraft sowie Muße für das Langfristige. Abstand vom Tagesgeschäft, Muße für Gedanken über die Zukunft? Nichts.

Die Folge ist eine Politik der verkürzten Horizonte. Sie gleicht jenen, die bei einem Fluß nur noch die Wirbel an der Oberfläche beachten, nicht aber die Strömung in der Tiefe. So weichen Politiker oft in Schlagworte aus: soziale Schieflage, Zweiklassengesellschaft, Demokratisierung, Emanzipation, Neoliberalismus usw. Das ermöglicht, die Bösen gleich am schwarzen Hut zu erkennen. Aber meist sind die Schlagworte nur Vereinfachungen, die das Problem verdecken.

Doch damit ist noch nicht erklärt, daß auch die Medien drei Jahrzehnte lang zum Geburtenverfall geschwiegen haben. Hier hat wohl ein weiteres Phänomen mitgespielt. In weiten Feldern werden wir noch immer von Hitler regiert - nur im umgekehrten Sinn. Frankreich konnte offene Bevölkerungspolitik betreiben - und hat heute fast einen Geburtenüberschuß. Doch ein deutscher Politiker, der rechtzeitig eine Bevölkerungspolitik gefordert hätte, wäre wohl mit dem Hinweis auf Hitlers Bevölkerungspolitik zurechtgewiesen worden.

Die Frage, wie ein Volk überleben kann, wenn immer weniger arbeitende Menschen immer mehr Rentner durchs Alter tragen müssen, läßt der Hinweis auf Hitler aber unbeantwortet. Ob es Deutschland und damit einem der alten Kulturvölker Europas guttut, wenn es multiethnisch und multikulturell seine Identität gefährdet, darf bei uns ohnehin nur politisch korrekt beantwortet werden. Schlußfolgerung: Wer Wege ins 21. Jahrhundert sucht, dabei aber vorwiegend zurückblickt, wird den Weg nicht finden. Gleiches gilt für Politiker, die keinen Abstand vom Tagesgeschäft mehr gewinnen können.

Eine handlungsfähige Regierung ist Voraussetzung dafür, daß Wege aus der Krise überhaupt beschritten werden können. Aber Brüssel hat viele Befugnisse an sich gezogen, Kenner legen dar, daß die Hälfte aller Bundesgesetze inhaltlich von Brüssel bestimmt wird. Zusätzlich wird die Bundesregierung vom Föderalismus bedrängt. Zugegeben: Auch die Befugnisse der Länder wurden ausgehöhlt. Parallel sind aber die Politikfelder, in denen die Länder mitbestimmen, erweitert worden. Früher brauchten 30 Prozent, heute etwa 60 Prozent aller Bundesgesetze das Ja des Bundesrates.

Verschärfend tritt hinzu, daß die Länderregierungen im Bundesrat oft Stellungen beziehen, die von Parteiinteressen bestimmt werden: die CDU-regierten Länder stimmen ebenso geschlossen wie die SPD-geführten, und Koalitionsregierungen enthalten sich der Stimme. Damit stellen sie allerdings allesamt den Sinn und damit die Existenzberechtigung des Bundesrates, die Vertretung der Länderinteressen, deutlich in Frage.

Dieser Mißbrauch des Bundesrates hat böse Folgen. Wenn der Bund und die Mehrheit der Länder von unterschiedlichen Parteien regiert werden, ist die Einigung nur noch auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner möglich. Das ist oft zu wenig. Zudem erschwert es jedes unpopuläre Vorhaben der Regierung; die Opposition ist stets versucht, das Vorhaben im Bundesrat wider bessere Einsicht zu blockieren.

Wo ist der Weg aus der Krise? Eine Neugliederung der Länder bedeutete praktisch die Verringerung ihrer Zahl - also den Wegfall von Hunderten von Posten und Pöstchen. Natürlich werden die Parteien dem nicht zustimmen. Hingegen gewönne die Regierung Handlungsspielraum, wenn die Länderwahlen zusammengelegt würden, vielleicht die eine Hälfte auf den Termin der Bundestagswahl, die andere auf die Halbzeit. Das würde gleichzeitig die Belastung der Bundespolitiker durch jährlich vier Landtagswahlkämpfe verringern.

Noch wichtiger dürfte eine Reform sein, die Bund und Länder ebenfalls gemeinsam durchführen könnten, weil sie beiden Vorteile verspricht. Es gilt, klare Zuständigkeiten zu schaffen. "Brandschutzmauern" zwischen Bund und Ländern würden die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung stärken; andererseits könnten dann die Länder wieder unbeeinflußt vom Bund regieren. Vorbild können hier die USA sein, ein extrem föderalistischer Staat. Dort regelt die Verfassung die Befugnisse des Bundes, innerhalb derer er weit handlungsfähiger ist als die deutsche Regierung. Hingegen ist alles, was die Verfassung nicht nennt, uneingeschränkt Ländersache, so daß sogar die Todesstrafe in manchen Staaten der USA üblich, in anderen abgeschafft ist.

Eine klare Trennung der Aufgaben von Bund, Ländern und Kommunen würde wesentlich dazu beitragen, einen Weg aus der finanziellen Krise zu finden. Das ist dringend. Die Politiker "verfrühstücken" seit Jahrzehnten unsere Zukunft; die öffentlichen Schulden von derzeit 1.281 Billionen Euro (steigend) können frühestens unsere Enkel zurückzahlen.

Sucht man aber im Bundestag nach Abgeordneten, die etwas von Wirtschaft und Geld verstehen, so findet man fast niemanden. Massenhaft sieht man Sozial- und Politikwissenschaftler, Lehrer und dutzendweise Juristen. Wir haben ein Parlament von wirtschaftlichen Laien, bestenfalls Angelernten, die das praktische Leben nur aus Bürofenstern kennen. Abgeordnete, die erfolgreich ein Unternehmen geführt, die Steuern gezahlt und Arbeitsplätze geschaffen haben, sind in Berlin so rar wie ein Kolibri. Mithin sehen sie inmitten der Finanzmisere nur die Möglichkeit des Sparens oder noch höherer Steuern. Selten aber wird die Struktur der öffentlichen Finanzen angesprochen.

Geht man diesem Gedanken nach, so findet man das übliche Durcheinander von Bund, Ländern und Gemeinden. Der Bund erläßt Gesetze, die die Länder und Kommunen, die Länder erlassen Gesetze, die die Kommunen zu bezahlen haben. Schon das ist ein Stück aus dem Tollhaus. Doch verschärfend tritt hinzu, daß fast jedes größere Vorhaben Zuschüsse von Land oder Bund braucht und beansprucht. Folglich mißt sich die Leistung der Politiker nicht daran, wie sie mit ihrem Geld umgehen. Sie mißt sich an der Geschicklichkeit, fremde Geldbeutel anzuzapfen - etwa für das städtische "Erlebnisbad" oder für das Museum, das die Landeshauptstadt (und sie selbst!) schmücken soll. Dieser Zustand wirkt positiv nur als Herrschaftsinstrument der Parteiführer.

Noch fragwürdiger sind die Folgen. Wo die Verantwortung für den eigenen Geldbeutel fehlt, wo sich Gelddisziplin nicht lohnt, wo fremde Hände in den eigenen Geldbeutel greifen, wo man fremde Geldbeutel angreifen darf und wo sowieso jeder Schulden macht, sind alle Kassen bald leer - wie die deutsche Misere zeigt.

Auch hier gibt es positive Beispiele. In der Schweiz sind Kantone und Gemeinden drastisch kleiner als bei uns. Schon das erleichtert die Überschaubarkeit, damit Eigeninitiative und Selbstverantwortung. Mithin beträgt die Staatsquote höchstens 60 Prozent der deutschen.

Unsere Politik wird von Parteien gestaltet, und diese werden von Oligarchien gesteuert. Die Mitglieder haben nur geringen Einfluß. Als Gegenmittel wird mehr Basisdemokratie empfohlen. Das bedeutet allerdings den Übergang von einer repräsentativen zu einer vorwiegend plebiszitären Demokratie.

Hierzu bietet schon die antike Athener Demokratie ein Lehrstück. Miltiades, der Sieger von Marathon (490 v. Chr.), wurde bald ins Gefängnis geworfen. Zehn Jahre später wurde Themistokles, der stolze Sieger von Salamis über die Perser, ins Exil gezwungen. Fünfzehn Jahre später traf der Volkszorn Kimon, dann Alkibiades. Sokrates wurde zum Selbstmord gezwungen, und schließlich zwang Athens direkte Demokratie Aristoteles zur Flucht. Auch die erste amtliche Bücherverbrennung hat die Athener Basisdemokratie angeordnet. So hat schon die erste plebiszitäre Demokratie jeden, der über das Mittelmaß hinausragte, gnadenlos verfolgt (mit Ausnahme des Perikles, der ihr genügend schmeichelte). Und 1932 stimmten zwei Drittel der verzweifelten Deutschen entweder für Thälmann oder (mit der Harzburger Front) für Hitler.

Eine Entscheidung setzt immer rationales Durchdringen des Problems voraus. Aber bei jeder Wahl muß sich der Bürger zwischen Parteien entscheiden, die zahlreiche Probleme besser zu lösen versprechen.

Deshalb kann der mündig votierende, also alle Probleme erfassende Staatsbürger nur Fiktion sein. Rousseau hat geurteilt, nur eine recht kleine Insel wie Korsika sei für eine direkte Demokratie geeignet. Karl Popper sagte: "Demokratie kann und darf nicht Volksherrschaft sein."

Und Schumpeter hat darauf verwiesen, daß Führung durch politische Eliten "lebenswichtig" sei. Wer Eliten ablehnt, liefert Staat, Wirtschaft und Politik der Mittelmäßigkeit, den Stars und "Promis" aus.

Unser Wahlrecht hatte mit der Listenwahl die Möglichkeit geschaffen, Leistungseliten ins Parlament zu holen. Aber die Listenwahl ist längst zum Herrschaftsinstrument der Parteiführer verkommen. Der in den USA nicht seltene personelle Austausch von Eliten aus verschiedenen Bereichen mit Parlament und Regierung ist bei uns fast unbekannt. An der üblichen Ochsentour kann sich jedoch keiner beteiligen, der in seinem Beruf hohe Anforderungen zu erfüllen hat. Besserung ist also dringend, die Hoffnung darauf gering. Es ist nichts zu sehen, was die Parteiführer veranlassen könnte, unabhängige, also potentiell widerspenstige Köpfe in ihre zahme Herde zu holen.

Natürlich hat jedes Lebewesen und auch jede Gemeinschaft Interessen. Doch seltsam: "Es gibt keine deutschen, sondern nur europäische Interessen", ließ sich vor Jahren sogar ein Außenminister vernehmen. Er fand dabei sehr viel Beifall (natürlich auch im Ausland). Das war wohl wiederum ein Reflex auf zwölf schlimme Jahre. Hans-P. Schwarz hat schon vor 20 Jahren einen deutschen "Nationalmasochismus" diagnostiziert, also lange vor der Heer/Reemtsma-Ausstellung, die Helmut Schmidt ebenfalls als "Masochismus" bewertete.

Doch mit einem gebeugten Rücken schließen nur Diener Freundschaft; Nachbarn und Konkurrenten nutzen dauernde Demut nur aus. Politik ist ein Geben und Nehmen. Wer hierbei nicht achtgibt, wird seine Interessen bald vernachlässigt finden. Es wird wohl Zeit zu fragen, ob es zum Beispiel in unserem Interesse liegt, trotz geringen Einflusses drittgrößter Zahler der Uno zu sein. Zu unseren hohen Zahlungen an die EU hat Gerhard Schröder schon vor Jahren Kritisches gesagt - freilich erfolglos.

Karl Steinbuch sprach schon 1973 von einer "Bildungskatastrophe". Gerade auf diesem Gebiet ist seitdem manches reformiert worden. Doch das Ergebnis zeigt die Pisa-Studie. Also haben die bisherigen Reformen die heutige Krise wohl eher verschärft. Sie zielten alle in die gleiche Richtung: Schutz der Schwachen, Ausbau der Rechte des einzelnen, Emanzipation und Chancengleichheit. Selbstbestimmung und Freiheit waren die Leitworte, Gleichheit das Ziel. Hiervon beflügelt, haben Gutmenschen jeden Winkel durchstöbert, um weitere Benachteiligte zu entdecken und zu beglücken.

Aber die Kosten waren zu hoch, weil die Reformen zu einseitig waren. Schon Goethe hatte gewarnt: Wer Gleichheit und Freiheit gleichermaßen verwirklichen wolle, sei ein "Scharlatan". Reformen, die Freiheit und Eigenverantwortung stärkten, die Leistungsträger, also jene fördern, die Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur voranbringen, gab es kaum. Zudem müssen die Kosten der Wohltaten von denen erbracht werden, die so hart arbeiten, daß sie keine Sozialhilfe, kein Wohngeld und ihre Kinder kein Bafög erhalten, die keinen Bildungsurlaub nehmen, nicht krankfeiern, weder Kur noch Nachkur beantragen, sondern morgens still zur Arbeit gehen und bei Arbeitslosigkeit alles tun, eine neue Stelle zu finden. Sie schaffen das soziale Netz - und werden in einzigartiger Weise ausgebeutet.

Diese Einseitigkeit ist wohl auch ein historischer Reflex. "Du bist nichts, dein Volk ist alles", hieß es damals. Unter Hitlers umgekehrter Herrschaft sind wir beinahe beim Gegenteil: "Du bist alles, dein Volk (heute korrekt: Ethnie) ist nichts." Aber das Gegenteil des Bösen ist nicht immer das Gute. Jede Gemeinschaft muß auch die Pflichten der Mitglieder definieren sowie durchsetzen; nur mit Selbstverwirklichung ist kein Staat zu machen.

Wo ist der Weg aus dieser Krise? Hier gibt es wohl nur noch die Hoffnung auf diejenigen, die Jahrzehnte nach Hitler geboren wurden und sich nicht mehr von ihm - umgekehrt - regieren lassen. Um Wege aus der Krise zu finden, sind Umdenken und Umbau erforderlich - nicht unbedingt auf voraussehbare Weise.

 

Franz Uhle-Wettler, Generalleutnant a.D., war Kommandeur einer Panzerdivision und Kommandeur der Nato-Verteidigungsakademie in Rom.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen