© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/03 13. Juni 2003

 
Pankraz,
W. Fiebelkorn und der Friede von Bitterfeld

Von den bekannt gewordenen "Helden des 17. Juni" (so darf man sie wirklich nennen) ist Wilhelm Fiebelkorn Pankraz der liebste. Er leitete zusammen mit Paul Othma die Streiks und die Demonstrationen in Bitterfeld, und die Dinge verliefen dort so glorios, so human und effektiv, daß jedermann vor dem politischen Genie, das da waltete, den Hut ziehen muß.

Fiebelkorn, damals schon Mitte dreißig, war Lehrer, einer der wenigen noch im Kriege voll ausgebildeten Mathematik- und Physiklehrer, die die SED neben den "sozialistischen Neulehrern" duldete, ein Vertreter der "verbündeten bürgerlichen Intelligenz", wie es offiziell hieß. Als die Unruhen sich auch in Bitterfeld bemerkbar machten, als sich erste Gruppen von Chemie- und Bauarbeitern auf der Straße zusammenballten und zu schüchternen Umzügen formierten, meldete er sich ordentlich beim Schulleiter ab, ging auf die Straße, stellte sich dem zum Demonstrationsführer erkorenen Othma vor, und dieser sagte: "Du kommst wie gerufen, wir brauchen einen, der reden kann."

Gemeinsam marschierte man zum zentralen "Platz der Jugend", wo bereits einige Spontanredner von einem Bauernwagen herab freudetrunkene Ansprachen improvisierten. Fiebelkorn sorgte dafür, daß aus der nahen Filmfabrik Wolfen ein Übertragungswagen kam und daß der Stadtfunk angeschlossen wurde. Nun konnte die ganze Stadt mithören. Durch Zurufe wurde ein Streikkomitee gewählt: Othma, Sawade, einige weitere Arbeiter - und Fiebelkorn.

Dessen erste Rede galt der Sicherung nach außen. "Brüder", rief er, "wir haben den Tag der Wiedergeburt unserer Freiheit! Es soll ein Tag des echt deutschen Idealismus, des Friedens und der Versöhnung werden. Wir erwarten von der Sowjetregierung, daß sie sich als eine wahre Arbeiterregierung erweist und sich auf die Seite der streikenden Arbeiter stellt."

Am Rande des Platzes erhob sich Geschrei, weil dort Volkspolizisten versuchten, einige Demonstranten festzunehmen und in einen Mannschaftswagen zu zerren. Die Menge verhinderte das. "Befreit die Gefangenen!" rief man nun. Auf Vorschlag Fiebelkorns erklärte sich das Streikkomitee zum "Besetzungskomitee" und ordnete die "friedliche Besetzung" des Stadtgefängnisses, des SED-Gebäudes und der Stasi-Zentrale an. Gesagt, getan. Keinem der ängstlich aus den Fenstern herauslugenden Funktionäre passierte etwas, alles verlief friedlich.

Und dann zog man zum Rathaus. Der SED-Bürgermeister wurde für abgesetzt erkärt, ein betagter Herr von der ehemaligen demokratischen Stresemannpartei, der unter den Nationalsozialisten kaltgestellt worden war, als neuer Bürgermeister eingesetzt. Fiebelkorn verfaßte zwei Telegramme, eins an die Berliner Regierung, eins an den sowjetischen Hochkommissar Semjonow, mit gleichlautenden Forderungen: Rücknahme der Normerhöhungen, Befreiung der politischen Gefangenen, Vorbereitung gesamtdeutscher freier Wahlen. Es war der Nachmittag des 17. Juni.

Als die sowjetischen Panzer anrollten, tagte das Streikkomitee noch im Rathaus. Bis an die Zähne bewaffnete KGB-Truppen stürmten in den holzgetäfelten Sitzungssaal, der voller Menschen war. "Wo ist Fiebelkorn?", brüllten sie, "wo ist Othma? Wo ist Sawade?" Aber kein Verräter hob eine zeigende Hand. Fiebelkorn und Sawade entkamen im Gedränge, tauchten unter, schlugen sich in einer sechstägigen Odyssee nach West-Berlin durch.

Fiebelkorn, heute ein hellwacher Herr von sechsundachtzig Jahren, hat es immer abgelehnt, sich als Held feiern zu lassen. Er gab seine Erfahrungen bei den Zeitgeschichtlern zu Protokoll und nahm, nun in einer westdeutschen Stadt, seine Arbei als Mathematiklehrer wieder auf, nachdem er die dafür nötigen zusätzlichen Examen absolviert hatte. Er ist einer der wenigen Gerechten, die damals die Ehre der deutschen Intelligenz gerettet haben.

Denn diese Intelligenz hat sich im Zusammenhang mit dem 17. Juni nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Die repräsentativen, von der Partei immer wieder vorgezeigten Köpfe der literarischen und künstlerischen "DDR-Intelligenz", die Becher und Brecht, Wolf und Zweig, Hermlin und Heym - sie ließen, wen wun-dert's, nur schmählichste Verleumdungen an die Adresse der Aufständischen ab, verbunden mit speichelleckerischen Ergebenheitsadressen in Richtung SED. Und die "bürgerlich-demokratischen Wissenschaftler" aus dem alten Deutschland, auf die die Partei damals beim "Aufbau" noch voll angewiesen war, zogen die Köpfe ein und empfingen weiterhin ihre durch keine Normerhöhung gekürzten Sonderzuteilungen und Rede- bzw. Reiseprivilegien.

Aber auch im Westen ist kein intellektuelles Eintreten für die Aufständischen bekanntgeworden, nicht einmal mitleidiger Zuspruch, weder von Thomas Mann noch von Gottfried Benn oder Ernst Jünger, weder von Heidegger noch von Heisenberg oder Carl Schmitt, zu schweigen von Eiferern und Rechthabern wie etwa Karl Jaspers. Es war, als hätte es allen diesen Koryphäen rundweg die Sprache verschlagen. Oder sie bekamen das einmalig Historische der Ereignisse gar nicht mit, verharrten in Klischees und unfruchtbaren Fixierungen auf das Jahr 1945.

Dabei war der 17. Juni 1953 ein Menetekel ohnegleichen, der erste große Volksaufstand gegen das bis dahin scheinbar so siegreiche kommunistsche Regime überhaupt, der erste praktizierte und erlittene Beweis dafür, daß man die Völker dieser Erde nicht im Namen ausgedachter Systeme mutwillig zertrennen, unterjochen und aussaugen kann.

Daß dieser Beweis ausgerechnet in Deutschland erbracht wurde, und zwar noch bevor der große Sklavenaufstand von Workuta in Sibirien losbrach und lange vor den Aufständen in Budapest, Warschau und Prag, ist ein großes Ehrenzeichen für unser Land. Und einer seiner blankesten Namen ist Fiebelkorn.


 
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