© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/03 27. Juni 2003

 
Abschied von der Solidarität
Eigenbeteiligung und Privatisierung in der Krankenversicherung belasten die Patienten
Jens Jessen

Eine Mogelpackung vermittelt dem Abnehmer eines Produktes, daß sie mehr enthält, als tatsächlich in ihr drin ist. Eine typische Mogelpackung ist auch die 400seitige Gesundheitsreform von Bundesministerin Ulla Schmidt. Versprochen wurde eine Senkung der Kassenbeiträge von heute 14,4 auf durchschnittlich 13 Prozent. Das entspräche 14 Milliarden Euro. Im Mai sprach die SPD-Politikerin noch über ein Sparvolumen von 13 Milliarden Euro. Jetzt handelt es sich um 9,5 Milliarden Euro für das Jahr 2004.

Damit nicht genug. Berechnungen haben ergeben, daß die 9,5 Milliarden eine Luftnummer sind. Zu erreichen sind mit den vorgesehenen Maßnahmen nur sieben Milliarden Euro. Die Gesetzlichen Krankenkassen schieben ein Defizit von 6 Milliarden aus dem Jahr 2002 als Bugwelle vor sich her. Im ersten Quartal 2003 sind die Beitragseinnahmen weggebrochen. Die Kassen beklagen ein zusätzliches Defizit von 630 Millionen Euro. Ob sich diese Einnahmenverringerungen in den anderen drei Quartalen dieses Jahres ausbügeln lassen, steht in den Sternen. Von Beitragssenkungen ganz zu schweigen, wäre es ein Wunder, wenn die Beiträge der Gesetzlichen Krankenkassen im nächsten Jahr konstant blieben. Auf der Grundlage des vorgeschlagenen Gesetzes Beitragssenkungen zu versprechen, ist eine bewußte Irreführung.

Wie sieht es jedoch mit den Maßnahmen aus, die das Gesundheitssystem modernisieren sollen? Schmidt hat bei der Vorlage des Gesetzes im Bundestag am 16. Juni gesagt, das neue Gesundheitssystem werde weiter dem solidarischen Gedanken verpflichtet sein. Der Versicherte wundert sich: Das Krankengeld soll nun nicht mehr paritätisch durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sondern allein durch die Versicherten finanziert werden. Das ist die Beseitigung der Grundlage des Bismarckschen Reformwerkes. Die Rentner sind irritiert, da sie sich auch versichern müssen, ohne damit einen Anspruch auf Krankengeld zu erwerben.

Die Rentner sind zusätzlich verunsichert, da ihr Beitragsanteil an der Krankenversicherung wohl von 50 Prozent auf 75 Prozent erhöht wird. Nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel sollen nicht mehr erstattet werden, obwohl sie zugelassen sind. Die soziale Krankenversicherung wird filetiert. Die Erhöhung der Zuzahlung bei Arzneimitteln ist eine reine Geldbeschaffungsmaßnahme. Das Eintrittsgeld von 15 Euro bei einem Facharztbesuch beseitigt die freie Arztwahl. Die um ein Drittel höhere Zuzahlung im Krankenhaus (von neun auf zwölf Euro) führt das fort, was Sozialdemokraten bei der alten Regierung immer angeprangert haben: Der Kranke wird dafür bestraft, daß er krank ist. Die Nichterstattung der Kosten für Sehhilfen bereitet den Weg in die Privatisierung der Gesundheitsversorgung.

Den in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Zwangsversicherten wird jedoch nicht wohler, wenn sie sehen, was CDU und CSU vorschlagen. Auch die Union ist der irrigen Annahme, mit ihren Vorschlägen könnten die Kassenbeiträge auf 13 Prozent gesenkt werden. Eine private Pflichtversicherung für Zahnersatz schwebt ihr vor. Ex-Gesundheitsminister Horst Seehofer poltert, daß er da nicht mitmachen wird. Forderungen nach Privatisierung von Gesundheitsleistungen stellten die Sozialversicherung im Kern in Frage, kritisierte der CSU-Vize. Damit hat er den Zwang einer privaten Pflichtversicherung gemeint, die den Weg in die Privatisierung und die Zerstörung der Solidarität ebnet.

Seehofer sieht richtig, daß die Zwangsprivatisierung die Situation der Versicherten nicht bessert, sondern allein die der privaten Versicherungsunternehmen. Der Versicherte wird zum Spielball der Gewinninteressen der Assekuranzen werden. 2003 haben sie die Beiträge der Privatversicherten bis zu 30 Prozent erhöht. Wenig sozial sind auch die anderen Forderungen der Union. Zehn Prozent der Kosten für Krankenhaus- und ambulante Behandlung sollen die Kranken tragen. Das sind sechs bis acht Milliarden. Die Konzeptlosigkeit der CDU ist noch erschreckender als die der Koalition. Die Verbesserungsvorschläge gleichen Überwälzungsprogrammen zu Lasten der Versicherten, die für weniger Schutz immer mehr bezahlen müssen. Beide Parteien haben keine Vorstellungen entwickelt, wie es mittel- und langfristig weitergehen soll. Die kurzfristige Sicht der Geldbeschaffung wird nicht greifen. Die solidarische Krankenversicherung steht vor dem Kollaps, weil Flickschusterei die Probleme des Gesundheitssystems nicht löst. Dazu gehören die älter werdende Bevölkerung, der rasante medizinische und medizintechnische Fortschritt und die sinkenden Einnahmen der GKV, wenn die hohe Arbeitslosigkeit ein dauerndes Problem in unserem Land bleibt. Die privaten Versicherungen jubeln, obwohl sie dazu keinen Grund haben. Ihre Lösungen bedeuten höhere Beiträge für alle, aber noch höhere Beiträge für chronisch Kranke und alte Menschen. Das amerikanische Beispiel zeigt uns die Unanständigkeit eines derartigen Systems.

Beide Großparteien und ihre Anhängsel sind die Verursacher der Einnahmeschwäche der gesetzlichen Kassen. Sowohl die rot-grüne Regierung als auch die schwarz-gelben Vorgänger haben willkürlich die GKV-Beiträge von Rentnern und Arbeitslosen gekürzt, um die Renten- und Arbeitslosenversicherung zu entlasten. Jährlich fehlen der GKV deshalb 4,5 Milliarden Euro. Der Staat hat im Laufe der Jahre den Pflichtversicherungen immer mehr Leistungen zugemutet. Die beitragsfreie Familienversicherung ist keine solidarische Tat. Für Ehepartner ohne Arbeitseinkommen, die Kinder versorgen, sollte der Staat deren Mitversicherung in der GKV über Steuern finanzieren. Fachleute haben errechnet, daß die Kassen um 20 Milliarden Euro entlastet würden. Die in Deutschland so geliebten Kuren gehören dem "Wellness"-Bereich an. Anders als bei den Rehabilitationseinrichtungen gibt es keinen Grund, Kureinrichtungen durch die Kassen zu finanzieren. Dabei geht es immerhin um 1,8 Milliarden Euro.

Diese 26,3 Milliarden Euro würden es möglich machen, den Beitrag der Gesetzlichen Krankenversicherung von 14,4 auf 11,8 Prozent zu senken. Dann hätten die Kassen ebenso Luft wie die Versicherten und die Arbeitgeber. Der Staat müßte allerdings seine windigen Finanzierungstricks zur Entlastung des Bundeshaushalts rückgängig machen (4,5 Milliarden Euro) und die durch das Grundgesetz geforderte Förderung der Familien umsetzen (20 Milliarden Euro). Das würde den Bundeshaushalt belasten und damit alle Steuerzahler. In die geplante Steuerentlastung für 2004 ließe sich das sicher so einrechnen, daß der Bürger es nicht nur versteht, sondern auch mitträgt.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen