© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/03 27. Juni 2003

 
Zweitklassige Opfer
Das Gedenken an den 17. Juni hat die Inhalte der Politik nicht verändert
Doris Neujahr

In diesem Jahr wurde der 17. Juni 1953 von Politik und Medien so sehr ans Herz gedrückt, daß man um seinen Atem, der ein freiheitlicher ist, fürchten mußte. Waren die Beteiligten tatsächlich von Großmut und besserer Einsicht bewegt? Oder wollten sie sich nur der Subversionskraft dieses Datums versichern, seine virtuellen politischen Energien auf die eigenen Mühlen leiten?

Die politische Klasse befindet sich in einer schweren Kompetenzkrise, die sich zur handfesten Legitimationskrise und zur Erosion der Institutionen auswachsen kann. Was liegt da näher, als das geschichtliche Beispiel einer Emanzipationsbewegung zu neutralisieren, indem man sie vereinnahmt? Die DDR verbreiterte zu Beginn der 1980er Jahre ebenfalls ihre ideologisch-propagandistische Basis und entdeckte Luther und Preußen wieder - just in dem Moment, als sie international zahlungsunfähig war und vom CSU-Chef Franz-Josef Strauß mit einen Milliardenkredit gerettet werden mußte.

Der Bundespräsident brachte die neue Lesart auf den Punkt: "1989 wurde vollendet, was 1953 scheiterte: freie und demokratische Verhältnisse in einem geeinten Land." Johannes Rau müßte wissen, daß "freie und demokratische Verhältnisse" niemals "vollendet" sind, sondern täglich neu errungen werden müssen. Konkret: Die These eines "faschistischen Putsches" ist zwar vom Tisch, doch die Aufgabe reicht weiter. Die "Faschismuskeule" gehört endlich auf dem Müllhaufen der Geschichte, der aggressive "Antifaschismus" muß als Basis der Kollaboration zwischen der SED-Diktatur und einflußreichen Sympathisanten und Verharmlosern im Westen beschrieben und delegitimiert werden. West-Politiker und -Journalisten, die sich immer noch weigern, über ihre Verfehlungen und Verstrickungen Rechenschaft abzulegen, verwirken ihr Recht, als freie und demokratisch handelnde politische Subjekte zu gelten.

Dem 17. Juni (und der DDR insgesamt) steht endlich eine herausragende Position in den Lehrplänen zu, damit künftig mehr als nur 17 Prozent der Schüler wissen, was an diesem Tag passierte. In den Lehrplan gehören auch die "Vernehmungsprotokolle" des DDR-Bürgerrechtlers Jürgen Fuchs, weil sie beschreiben, wie die Stasi mit wissenschaftlichen Mitteln die "Zersetzung" von Personen versuchte. Keiner der unzähligen Artikel zum 100. Geburtstag von George Orwell ersparte den Lesern den Hinweis auf die "Big Brother"-Sendung, aber niemand stellte die Frage, wem die Zersetzungsspezialisten der Stasi heute ihr perfides Fachwissen zur Verfügung stellen. Den Werbeagenturen? Den Personalabteilungen der Großkonzerne? Dem Verfassungsschutz?

Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat recht, der 17. Juni ist ein großes Datum der europäischen Freiheitsgeschichte. Bei dieser Feststellung darf man aber nicht stehenbleiben, denn es geht um unsere moralische Gleichberechtigung im europäischen Konzert. Dieses Land hält es nicht länger aus, daß seine Politik ständig unter einem hybriden moralischen Beweiszwang steht. Der 17. Juni lehrt, daß staatsbürgerliche Mündigkeit das Gegenteil eines weinerlichen "Mea culpa!" ist.

Jedes Land braucht eine politische Klasse, respektive Elite. Weil diese zu besonderen Einsichten, Fähigkeiten und Leistungen in der Lage ist, stehen ihr materielle und moralische Privilegien zu. Der 17. Juni lehrt, daß dieser Anspruch erlischt, wenn die Elite ihr Treueverhältnis zum Demos aufkündigt, wenn die Loyalität zu ideologischen Traumwelten oder dem Geldbeutel überwiegt und sie keine herausragenden Leistungen aufweist. Daraus ergibt sich nicht nur das Recht, sondern die Pflicht zur Basisdemokratie, denn täglich muß überprüft werden, wo der Lohn für politische Verdienste aufhört und die Verbonzung anfängt.

Im Augenblick bestreiten Politiker aller Parteien die Möglichkeit einer Volksabstimmung über die EU-Verfassung, weil das Grundgesetz sie nicht vorsehe. Man kann demütig einwenden, daß das Grundgesetz schon mehr als einmal geändert wurde. Man kann sich aber auch des 17. Juni erinnern und die parteiübergreifende Berliner Chaos-Truppe zur Rede stellen: Wer seid Ihr überhaupt, daß Ihr so mit uns zu reden wagt? Kann es denn sein, daß noch der viertklassigste Bundestagsabgeordnete unter Euch in acht beitragsfreien Jahren mehr Rentenansprüche erwirbt als ein Durchschnittsverdiener in 45 Jahren?

Die Wahrheit ist, daß das Gedenken an den 17. Juni an Stil, Qualität und Inhalt der Politik bisher nichts geändert hat. Gerade hat die Union im Bundestag beantragt, SED-Opfern eine kleine Rente zu gewähren. Warum ist sie auf diese Idee nicht schon gekommen, als sie regierte? Die SPD lehnt den Antrag ab, weil er einen Paradigmenwechsel in der Gesetzgebung und eine Akzentverschiebung in der Bewertung der beiden deutschen Diktaturen bedeute. Die kalte Sprache verrät die Unbeweglichkeit der Bürokraten und die Verbohrtheit antifaschistischer Eiferer. Ob es wohl irgendein NS-Opfer gibt, dem es mißfällt, wenn den SED-Opfern ein bißchen mehr nachträgliche Gerechtigkeit widerfährt, als ihm selber geschehen ist? Werden die Ost-Abgeordneten in der SPD-Fraktion gegen diesen Zynismus aufstehen?

Die Fragen, die der 17. Juni nach dem Ende der Feierlichkeiten aufwirft, sind konkret!


 
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