© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/03 11. Juli 2003

 
Von Fröschen und Liebhabern
Nach der Entdeckung von sieben neuen Tierarten in Bolivien: Was ist eine biologische Art?
Günter Zehm

Immer mehr biologische Arten sterben aus, liest man fast täglich. Es gibt aber seit einiger Zeit auch einen kräftigen Gegenzug. Die Forschungspraktiken der Biologen vervollkommnen sich, und im Gefolge davon werden immer mehr bisher unbekannte Arten entdeckt, im vergangenen Monat allein sieben (!) in abgelegenen Gegenden Boliviens. Ein bolivianisch-britisches Forscherteam hat diese neuen Arten dort auf vergleichsweise engstem Raum identifiziert, drei Froscharten, zwei Krötenarten und zwei Eidechsenarten. Tier- und Pflanzenschützer jubilieren.

Dem normalen Zoobesucher hingegen sagt die Nachricht wenig, sie gibt keine Sensation her. Die neuentdeckten Froscharten zum Beispiel sind äußerlich nicht von anderen, längst bekannten und registrierten Arten zu unterscheiden, lediglich ihr Quaken klingt "artspezifisch". Zur Zeit sind die Biologen dabei zu prüfen, ob dem Quaken auch ein artspezifisches Sex-Verhalten entspricht, das heißt ob es nur bestimmte, in Aussehen und Verhalten sonst nicht von anderen abweichende Weibchen anlockt. Dies erst wäre der Beweis dafür, daß es sich wirklich um eine neue Art handelt.

Die Aussichten stehen jedoch gut. Für Frösche ist das Quaken das einzige effektive Liebes- und Paarungszeichen, das es gibt. Im übrigen reagieren sie nach folgendem Schema: Ist etwas, das sich bewegt, größer als sie selbst, wird es als Feind empfunden, und man nimmt vor ihm Reißaus. Ist etwas, das sich bewegt, kleiner als sie selbst, wird es als Beute empfunden, und man verschlingt es. Ist es gleich groß, wird es als Sexpartner empfunden, und man versucht, sich mit ihm zu paaren, klumpt sich mit ihm zusammen und verharrt lange in der Umarmung, auch wenn es zu nichts führt.

Einzig der Quak-Laut, auf den man artspezifisch geeicht ist, garantiert bei den Fröschen die Fortpflanzung. Ein verwandtes Phänomen kommt in unseren heimischen Wäldern vor. Dort gibt es Laubsängerarten, die sich allein durch ihre Gesangs-Strophe von anderen Laubsängern unterscheiden. Gesang und sexuelle Kompatibilität sind faktisch identisch, der Gesang liefert ein sicheres Artmerkmal.

Aber wieso sind die Biologen eigentlich so begierig darauf, "Arten" zu unterscheiden und das "artspezifische Merkmal" groß herauszustellen? An der modernen Angst, uns könnten im Zuge der Zurückdrängung alles Lebendigen durch menschliche Bevölkerungsexplosion und technische Nutzbarmachung eines Tages die Arten ausgehen, kann es nicht liegen. Schon in alten Zeiten, bei Aristoteles in der Antike oder bei Carl von Linné im achtzehnten Jahrhundert, gehörte es zur höchsten Wonne der Forscher, lebendige Gestalten nicht nur zu beschreiben, sondern sie auch zu "systematisieren", sie also irgendwo einzuordnen und dadurch gewissermaßen ruhigzustellen.

Die Natur sollte in den Augen der Forscher ein wohlgeordnetes, leicht zu durchlaufendes und jederzeit zur Disposition stehendes System sein, sollte voll in die Verfügungsgewalt der Menschen genommen werden. Entwicklung, Artenwandel, fließende Übergänge störten da bloß. Und doch sind es gerade immerwährende Entwicklung, unaufhörlicher Artenwandel und ewig fließende Übergänge, die den wahren Rhythmus der lebendigen Natur bestimmen und jeglichem Systemdenken letztlich Hohn sprechen. Wahrscheinlich ist die Begeisterung über die Entdeckung immer neuer "Arten" auch und vor allem ein (unbewußter) Abwehrreflex auf diese sich bei den Biologen jetzt durchsetzende Erkenntnis von der Spontaneität und Unsystematik der Natur.

Man erklärt den Sex und seine Spezifik zum Merkmal für "Art" und realisiert doch gleichzeitig, daß sich die Urkraft Sex jeder Spezifik widersetzt. Gewiß, eine Eidechse und ein Schmetterling können schwerlich Sex miteinander haben, können nicht gegenseitig ihre Gene austauschen. Es muß eine gewisse existentielle Nähe zwischen potentiellen Sexpartnern bestehen, damit es zum "Gen-Sharing" kommen kann, sie müssen sich gegenseitig "erkennen" können. "Er erkannte sie", heißt es in der Bibel, wenn ein Mann mit einer Frau Sex gehabt hat. Doch wie nahe muß man einander sein, um sich erkennen zu können, und was genau soll erkannt werden?

"Erkenntnis ist Wiedererinnerung", sagt Platon, "Begegnung mit längst und schon immer Vertrautem." Aber begegnen nicht auch jene Frösche spontan Vertrautem, denen lediglich ein Feind oder eine Freßbeute über den Weg läuft? Nun, die sexuelle Wiedererinnerung unterscheidet sich von solchen Begegnungen, weil in ihr wir selbst uns wiedererkennen, sie ist Fleisch von unserem Fleisch, wie es so eindrucksvoll im Mythos heißt, Blut von unserem Blut. Sex, wie befremdlich und verstörend seine Äußerungsformen auch sein mögen, ist stets Selbsterkenntnis in der Erkenntnis des Anderen, und er stiftet damit eigentlich erst Identität, Ichbewußtsein, Für-sich-Sein.

Platon hat das als erster auf den Begriff gebracht, obwohl er noch nicht im geringsten über exakte biologische Kenntnisse verfügte: Der entscheidende Antrieb für Vereinzelung, Ausdifferenzierung des Lebendigen, schließlich Ichbewußtsein, ist der Sex, ist Eros, die Begegnung und Vereinigung mit dem Anderen, in dem mir dennoch "das Meine" entgegentritt. Ich werde wahrhaft Ich, indem ich mich in der intimsten Form, die nur möglich ist, mit dem Anderen vereine.

Und Platon hat auch schon gesehen, was für ein heikler, wüster, in jeder Hinsicht riskanter und oft geradezu tödlicher Prozeß dieses fundamentale erotische Sichbegegnen ist. Was die Biologie inzwischen darüber zusammenge­tragen hat, läßt einen manchmal daran zweifeln, ob denn wirklich die Fortpflanzung, die "Erhaltung der Art", der exklusive Grund, die "Ursache", für die sexuelle Triebentfaltung ist.

Transvestitentum und Geschlechtsumwandlung zuhauf kommen ja schon im Tierreich vor. "Weib­lich" und "männlich" sind dort keine feststehenden Größen, die die Sexualität in der Natur strukturieren. Viele Tiere, wohl auch die in Bolivien entdeckten Frosch- und Krötenarten, "wis­sen" gar nicht, ob sie Männchen oder Weibchen sind, ihr Männchen- oder Weibchensein entscheidet sich erst angesichts konkreter Situationen in der sexuellen Begegnung. Wenn bei einer "Vereinigungsorgie" (wenn man so sagen darf) zufällig keine Weibchen dabei sind, verwandelt sich in kürzester Zeit ein Teil der anwe­senden Männchen in Weibchen. Und die von der Sexualität angetriebenen Frösche schnappen sich ohnehin wahllos Männchen oder Weibchen, um ihren Samen abzugeben; die gelungene Befruch­tung einer Eizelle ist bei diesem Liebesrausch reines Zufallsprodukt.

Im Mittelpunkt steht eine Art Energie-Verschwendung, ein wildes Ausstreuen von Samenzel­len bzw. eine wilde, spontane Bildung von Eierstöcken, eine Produktion von Überschuß, von dem das meiste sofort wieder sterben muß, so daß man mit Georges Bataille auf den Gedanken kommen könnte, nicht die Ver­einigung qua Begegnung mit der eigenen Identität, son­dern die Vereinsamung qua Begegnung mit dem Tod sei im tiefsten Inneren der Zweck, der "Sinn" des Ganzen.

Für die Entdecker und Beschreiber neuer Arten sind solche Überlegungen natürlich äußerst unbequem. Der Sex als Artspezifikum zerrinnt ihnen zwischen den Fingern. Glücklicherweise bleibt noch das "Quak", der große Lockruf über Teichen und Sümpfen.


 
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