© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/03 18. Juli 2003

 
Pankraz,
Guo Xi und die Sorgen der Landschaftsmaler

Jetzt in der Ferienreisezeit wird wieder viel Landschaft "genossen". Auf den Alpenpässen und den Straßen, die sich an See-Ufern entlangziehen, gibt es extra Haltebuchten, wo die Autofahrer gefahrlos aussteigen können, um sich an spektakulären Landschafts-Prospekten zu ergötzen, und unzählige bunte Landschaftspostkarten an die Daheimgebliebenen werden verschickt. Pankraz erhält gern derartige Karten und ermahnt regelmäßig Freunde und Bekannte, ihm von ihren Reisen ja einen prächtigen Landschaftspostkarten-Gruß zuzusenden.

Faktisch alle Karten, die ihm ins Haus flattern, zeigen Berge oder Wasserflächen bzw. -läufe oder beides. Gibt es überhaupt Landschaften, die als solche wahrgenommen und erinnert werden, ohne Berg und Wasser? Man könnte daran zweifeln. Irgendeine Hügelkuppe grüßt immer, irgendein Wässerchen rieselt immer, sei es vor den Haltebuchten, sei es auf der Postkarte. Bei den Chinesen, die sich anderthalbtausend Jahre früher als die Europäer für Landschaften und ihre Darstellung zu interessieren begannen, hießen denn auch sämtliche Landschaftsbilder vorab "Berg-Wasser-Bilder", einerlei, was sie zeigten (sie zeigten immer Berg oder Wasser).

In einem grundgelehrten Aufsatz des Berliner Sinologen Mathias Obert (Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 2/2003) liest Pankraz, warum das so war. Nur im Angesicht von Berg und/oder Wasser, so die Grundüberzeugung der frühen chinesischen Landschaftsmaler, vermag der Mensch zu "wohnen", nur dort wird ihm Natur zur Landschaft, zum "Ort", und zwar nicht etwa aus simplen Nützlichkeitsgründen, sondern weil Berg und Wasser mit dem tiefsten Inneren des Menschen, seiner "Gemütsverfassung" (Obert) korrespondieren.

Wenn ich in etwas eintrete, das man Landschaft nennt, also in einen Berg-Wasser-Mensch-Zusammenhang, empfinde ich sogleich, daß sich hier gut wohnen ließe, auch wenn ich noch nicht im geringsten danach gefragt habe, ob da Wohnen praktisch möglich ist und wie es zu bewerkstelligen sei. Das spontane "Genießen" von Landschaft enthält nicht die Spur von logischem Kalkül oder Wunsch nach Instrumentalisierung und Ausnutzung, es ist reine Anschauung im Gefühl des Angekommenseins. "Hier würde ich gerne sein und gerne bleiben."

Die von Mathias Obert interpretierten alten chinesischen Verfertiger von Berg-Wasser-Bildern, beispielsweise Guo Xi im elften Jahrhundert, machten keinen Unterschied zwischen dem "Sein" in einer Landschaft und deren Vergegenwärtigen mittels Tusche und Reispapier. Sie wollten nichts abbilden, also nachahmen und verdoppeln, und sie wollten auch nichts eventuell Verborgenes "hinter" den Dingen ans Licht bringen. Sondern indem sie tuschten, "waren" sie in der Landschaft, und das genügte ihnen völlig. Es war eine gesteigerte Form von "In-der-Welt-Sein", so wie es auch der entzückte Betrachter in der Haltebucht erfährt.

Man muß wohl von den chinesischen Rollbildern und den modernen Postkarten weggehen, hin zur europäischen Landschaftsmalerei seit dem sechzehnten Jahrhundert, um Sehnsucht nach einigen Ergänzungen des Berg-Wasser-Schemas zu bekommen. Ist nicht, zum Exempel, auch eine Lichtung, eine Waldlichtung, wo der Blick aus finsterem Dickicht heraus auf eine besonnte, wasserlose Ebene von einiger Perspektive fällt, eine Landschaft in jenem emphatischen Sinne, ein Ort zum Wohnen?

Und was ist mit den brettflachen Wiesen und Auen diverser altholländischer Meister, über denen sich ein gewaltiger Himmel wölbt, der manchmal gut drei Viertel des Bildes füllt? Dieser Himmel vertritt gewissermaßen Berg und Wasser, und noch dazu in überwältigender Weise: ein ganzer Ozean aus Wolkenwellen tut sich auf und ein Gebirge, das es an Höhe und Weite spielend mit jeder Alpenkette aufnimmt.

Fragt sich nur, ob hier wirklich etwas korrespondiert, ob man unter einem solchen Himmel auf Dauer wohnen mag, mit nichts als Ebene um sich herum. Der Drang zu tätiger Naturveränderung, nach Umbau und Aufhebung der originalen Anschauung liegt hier nahe, allzu nahe.

Ohnehin wird den Studenten in den meisten Ästhetik-Seminaren nahegelegt, den Begriff der Landschaft immer mit "von Menschen gemacht" zu assoziieren. Unberührte Natur, "bloße Wildnis", sei nie und nimmer Landschaft; diese sei im Grunde ein Produkt der Gartenbaukunst, der "englischen Gartenbaukunst", die einst die Zirkelei der Barockgärten ablöste und überwand, indem sie Bäume und Lichtungen und Auen "natürlich" gruppierte, so daß "natürliche" Durchblicke entstanden, unterbrochen manchmal von malerischen Ruinen, Pavillons oder sonstigem Menschenwerk, das sich nicht minder "natürlich" in den Gesamtprospekt einfügte.

Aber selbstverständlich war das ganze Arrangement genauso künstlich wie die Barockgärten, es war eine Natur aus zweiter Hand, gebändigt, beaufsichtigt, in Dienst gestellt. So schön viele englische Gärten sind - die Empfindung spontaner Einwohnung, unmittelbarer Korrespondenz mit der Natur stellt sich in ihnen nicht ein. Man denkt an die Schöpfer dieser Gärten, an Sckell, Lenné, Goethe (Ilmtal), man bewundert diesen und jenen von deren Einfällen, doch im Eigenen angekommen und aufgehoben fühlt man sich nicht.

Übrigens ist es geradezu rührend zu sehen, wie intensiv die Sckell und Lenné in ihren Gärten dem Berg-Wasser-Schema zu genügen suchten. Dauernd schimmert eine Wasserfläche, dauernd gibt es (künstlich aufgeschüttete) Hügelchen und Abschwünge. Die alten chinesischen Landschaftsmaler hatten schon recht: Ohne Berg und Wasser geht in der Landschaft nichts, und je ursprünglicher sie sich darbieten, um so heimatlicher fühlen wir uns angesprochen.


 
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