© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/03 25. Juli / 01. August 2003

 
Von den Schuhspitzen aufschauen
Geschichtsbilder: In der Debatte um ein Zentrum gegen Vertreibungen offenbaren sich die Ängste der Bußprediger
Doris Neujahr

Vor einem Jahr hat der Bundestag beschlossen, sich das "Zentrum gegen Vertreibungen", das der Bund der Vertriebenen (BdV) initiiert hat, zu eigen zu machen. Jetzt versucht eine Gruppe von Politikern, Wissenschaftlern, Künstlern und Publizisten aus sechs Ländern, die Deutungshoheit darüber zu erlangen. Aus Deutschland sind unter anderem Rita Süssmuth und Wolfgang Thierse dabei. In einem Appell warnen sie vor einer nationalzentrierten Ausrichtung und stellen Berlin als den Sitz der Einrichtung in Frage. Auf der Tagesordnung stehe die "gemeinsame Erinnerung" der europäischen Nachbarn, keine Aufrechnung. Die Stoßrichtung ist klar, eine Geschichtsdebatte kündigt sich an.

Natürlich ist die Vertreibung ein europäisches Phänomen, aber eines, von dem die Deutschen in besonderer Weise betroffen waren und sind. Deshalb müssen sie sich auch in besonderer Weise damit auseinandersetzen. Der Appell enthält die Formulierung, daß Vertreibungen "aus unserer heutigen Sicht" nicht akzeptabel seien. Das ist exakt die Kompromißformel der tschechischen Regierung, die sich von der Austreibung der Sudetendeutschen verbal distanziert, aber keine Konsequenzen daraus zieht. Hinter dem Aufruf stecken nationale, geschichtspolitische Interessen, nur Deutschland soll seine wie gehabt zurückstellen.

Zweitens drückt sich hier ein unhaltbarer Euphemismus aus, denn inakzeptabel waren die Vertreibungen bereits im Moment ihres Vollzugs. Bertrand Russell, kein Nazi-Verharmloser, schrieb am 23. Oktober 1945 in der Times, man habe "ganz offensichtlich die Absicht, viele Millionen Deutsche auszulöschen, nicht durch Gas, sondern dadurch, daß man ihnen ihr Zuhause und ihre Nahrung nimmt".

In Tschechien und anderswo wird bis heute verharmlosend vom "Abschub" gesprochen. Für die komplizierte Situation dieser Länder muß man Verständnis haben, doch sie kann keine Basis für die eigene Erinnerungsarbeit sein. Gerade im Europa-Bezug des Appells offenbart sich die Tatsache, daß es eine europäische Öffentlichkeit, in der eine "gemeinsame Erinnerung" entstehen könnte, noch längst nicht gibt. Man muß dafür arbeiten, daß auf unserem kleinen, dichtbesiedelten Kontinent tatsächlich eine "Europäisierung" des Bewußtseins stattfindet. Dieser Prozeß wird aber kein herrschaftsfreier Austausch unterschiedlicher Lehrmeinungen sein, sondern ein Machtkampf, in dem nur der besteht, der weiß, wer er ist, und mit fester Stimme spricht!

Die Furcht geht um - vor allem in Deutschland selbst -, die Deutschen könnten aufhören, verlegen auf ihre Schuhspitzen zu starren. Es wäre nicht das schlechteste Ergebnis des geplanten Zentrums, wenn Besucher, die vom 68er Geschichtsbild indoktriniert sind, hier mit der simplen Wahrheit konfrontiert werden, daß die Deutschen keineswegs Alleinschuldige der Weltgeschichte und alle anderen ihre Engel sind, und daraus ihre Schlußfolgerungen ziehen! Die Emotionen könnten vorübergehend heftig sein, um sich schließlich in einer gesunden Mittellage einzupendeln. Wenn die deutschen Bußprediger jetzt mahnen, doch ja nicht die "Ursachen" der Vertreibung zu vergessen, geht es ihnen in Wahrheit um den Bestand ihres monokausalen, hitlerzentrierten Geschichtsbildes. Sie haben Angst, zusammen mit ihm im Orkus zu verschwinden!

Natürlich geht es bei dem Zentrum darum, die verhängte Empathieblockade für das eigene Leid und das eigene Land aufzuheben! Man würde ja auch den Russen nicht zumuten, ihre Weltkriegstoten als Kollateralschäden des europäischen Bürgerkrieges zu betrachten, der mit der Oktoberrevolution 1917/18 von Rußland seinen Ausgang nahm. Wer möchte den Polen raten, die vier polnischen Teilungen als Exekution des Gesetzes vom Aufstieg und Fall der großen Mächte zu rationalisieren? Natürlich stimmt es traurig, wenn in London einem Monster wie Bomber-Harris ein Denkmal errichtet wird, aber wir haben das Recht der Briten zu achten, mit ihrer Vergangenheit selber ins Reine zu kommen, auf ihre Weise und aus ihren Empfindungen heraus!

Nationen als Schicksalsgemeinschaften sind bis heute eine Realität. Andererseits ist ein Abgleich nationaler Geschichtsbilder wünschenswert und perspektivisch sogar notwendig. Auch ein Zentrum gegen Vertreibungen wird zunehmend daran gemessen werden, ob es Bausteine für ein künftiges europäisches Geschichtsbild liefert. Doch das ist etwas ganz anderes, als sich von vornherein dem Stirnrunzeln von Nachbarn zu unterwerfen, die sich ertappt fühlen.

Wer meint, 16 Millionen vertriebene Deutsche dürften auch in Deutschland nur als ein sekundäres Geschichtsdetail behandelt werden, dem geht es nicht um ein Europa, das auf Freiheit und Wahrheit beruht, sondern der will betrügen! Im übrigen hindert niemand die Universitäten in Frankfurt/Oder, Breslau oder Prag daran, sich zu einem eigenen, virtuellen Zentrum für Vertreibungsforschung zusammenzuschließen.

Der Bund der Vertriebenen hat zur Verwirrung selber beigetragen. Er hat das Projekt erst zu einem Zeitpunkt vorgestellt, an dem er als Organisation am Ende ist. Das Konzept der BdV-Präsidentin und CDU-Politikerin Erika Steinbach ist unausgegoren, überladen, disparat. Das Zentrum soll Museum, Archiv, Dokumentations-, Forschungs-, Beobachtungs- und Begegnungsstätte sein, und eine Gedenkrotunde soll für Ergriffenheit sorgen. Das sind völlig unterschiedliche Funkionen, die gegensätzliche Erzähl- und Gestaltungsweisen erfordern. Es war ein Kardinalfehler, eine vor allem nationale Aufgabe universell - als Zentrum gegen Vertreibungen - anzulegen. Damit wurde das Tor geöffnet für die Begehrlichkeiten, die jetzt über das Projekt hereinbrechen.


 
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