© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/03 08. August 2003

 
Republik der Feiglinge
In der Berliner Politik wird nur noch endlos diskutiert, aber nichts mehr entschieden
Günter Zehm

Selten ist eine "politische Sommerpause" vom Volk so heftig herbeigesehnt worden wie in diesem Jahr. Das Berliner Getöse in den Wochen zuvor, das tagtägliche hektische Gerede über nahe bevorstehende oder allfällige oder ausbleibende oder angeblich energisch vorangetriebene "Reformen" war in der Tat kaum noch auszuhalten. Alle Konturen verwischten sich. Wo stand die Regierung? Wo die Koalition? Wo die Opposition? Niemand hatte mehr die Übersicht.

Rentenangleichung, Steuersenkung, Steuererhöhung, Zahnersatz, Kassenbeiträge, Arbeitslosengeld, Subventionen, Neuverschuldung, Lohnnebenkosten, Entfernungspauschale, Wohnungsbauförderung - dem Bürger schwirrte der Kopf, er fiel medial von einer Reform in die andere. Aber real passieren tat nichts. Es herrschte im Gegenteil eine gespenstische Untätigkeit im Lande. Des Kanzlers Entschluß, seinen Urlaub nicht in Italien zu verbringen, war die einzige registrierbare Entscheidung, die einzige "Dezision" der deutschen Politik während der letzten Monate.

Carl Schmitt, der berühmte Staatsrechtslehrer und Dezisionist, hätte sich grimmig bestätigt fühlen können. Seine bereits in der Weimarer Zeit entfaltete Kritik an der "diskutierenden Klasse" hätte an den Berliner Politikern von heute ein treffliches, deprimierendes Beispiel gefunden. Diese Leute nehmen die Politik gar nicht mehr als primäres Feld von Entscheidungen wahr. Sie vertrauen allein noch dem "Diskurs", dem endlosen, am Ende alle Dinge auflösenden Plazieren von Meinungen in den Medien. Wenn etwas "in die Medien kommt", glauben sie, sei es schon Politik, besonders wenn sie es selbst plaziert haben.

Wie gefährlich eine solche Mentalität ist, lehrt die Endzeit der Weimarer Republik. Auch damals war wirtschaftliche Krise, Depression mit Millionen von Arbeitslosen, die Situation schrie nach Entscheidungen, aber die etablierte Politik erging sich in bloßer Rhetorik, wo sich die jeweils herausposaunten Parolen wechselseitig neutralisierten und paralysierten. Das Wahlvolk empfand das - zu Recht - als skandalös und verlor das Vertrauen in gemäßigte Kräfte. Es wurde unempfindlich gegen jederlei Diskurs, auch wenn die Argumente vernünftig waren. Es wollte keine "Schwätzer" mehr, sondern nur noch "Entscheider".

Nicht nur Carl Schmitt hat damals gewarnt. Es gab ja noch, im Gegensatz zu heute, neben den Politikern und ihren Redenschreibern eine ernstzunehmende, wirklich diskutierende Geistesschicht, und die hat das Verhältnis von Reden und Entscheiden durchaus angeleuchtet und kommentiert. Martin Heideggers hochkomplexe, an Kierkegaard geschulte Erörterungen über "existentielles Entscheiden" einerseits, bloß ästhetisierendes "Gerede" andererseits reichte weit über die Hörsäle hinaus und beschäftigte links- wie rechtsgestimmte Geister, Herbert Marcuse wie Alfred Bäumler.

Der problematische Bäumler, damals noch erklärter Freund Thomas Manns, später philosophischer Mitläufer des Dritten Reiches, schrieb 1932 das Buch "Nietzsche. Der Philosoph und Politiker", in dem er den Unterschied zwischen Diskurs und Tat resolut zuspitzte. Er spielte dabei mit den zwei verschiedenen Wörtern, die das Latein für "Sicherheit" kennt: securitas kontra certitudo.

Beide, sowohl Diskurs-Huber als auch Entscheider, seien von Haus aus auf politische Gedeihlichkeit aus, auf "Sicherheit", das müsse zugestanden werden. Doch da die Diskurs-Huber unter Sicherheit immer nur die Sicherung des Bestehenden verstünden, eben die "Securitas", würden sie zur Tat unfähig. Alles Neue oder auch nur schlicht Notwendige werde kleingeredet, dem schlecht Überständigen angepaßt, werde immer wieder vertagt und so regelrecht verschlissen. Zuletzt bleibe eine Wüste der Tatenlosigkeit übrig, man überlasse die Dinge dem berüchtigten Selbstlauf.

Die Sache der Entscheider hingegen sei die "Certitudo": Sicherheit nicht als Pöstchen- und Besitzstandswahrung, sondern als Selbstgewißheit von Tätern, die sich bewußt dem Notwendigen aussetzen und gerade dadurch Standbein und Handlungsspielraum gewinnen. Später sprach Bäumler dem parlamentarischen System jegliche Fähigkeit zur Certitudo ab; dort regierten exklusiv die Diskurs-Huber, ja, System und Diskurs-Huberei seien nur die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Wer Taten, Entscheidungen, Reformen wolle, der müsse Abschied vom System nehmen.

Das heutige Berliner "System" hat die Möglichkeit, solcherlei Zweckpessimismus zu widerlegen, aber es muß sich dazu Einiges klarmachen. Es muß sich verabschieden von seiner tief inneren Überzeugung (der Überzeugung aller Materialisten und Konsumisten), daß sich die Dinge im Großen und Ganzen doch "irgendwie" von alleine einrenken, daß es lediglich darauf ankomme, "Weichen zu stellen", "Pferde zum Saufen zu bringen", ein bißchen hier wegzunehmen und ein bißchen da zu geben, mit einem Wort: herumzubasteln, wo Totalremedur notwendig ist.

Es gibt von Natur aus keinen Selbstlauf. Wer die Dinge sich selbst überläßt, rutscht immer nach unten, in die Unordnung, in die Entropie. Eine lediglich (oder auch nur überwiegend) diskutierende Klasse ist eine Formation auf Abruf.

Natürlich leben wir nicht im Jahre 1932, die heutige, zahlenmäßig mit damals sehr wohl vergleichbare, Arbeitslosigkeit löst keine direkte materielle Not aus, die ihrerseits zu weitflächigem spontanem Aufbegehren führen könnte. Eine Zeitbombe tickt trotzdem. Neue Formen bitterster Sozialkämpfe kündigen sich an: Kämpfe zwischen den Generationen, zwischen Gesunden und Kranken, Alteingesessenen und Zuwanderern, zwischen Laborleitern und Lehrstuhlinhabern einerseits, hochqualifiziertem, jedoch stellungslosem "akademischen Proletariat" andererseits.

Derartige Auseinandersetzungen zu kanalisieren und zu pazifizieren, setzt eine Politikergarde voraus, die gleichsam über sich hinauswächst, die über den divergierenden Gruppen steht und doch jede einzelne dieser Gruppen führt und anleitet. Vorbild und asketischer Charme. Besonders die Opposition ist unter den obwaltenden Umständen gefordert. Sie hat nicht mitzuregieren (so sehr ihre Sehnsucht auch in diese Richtung zielen mag und so sehr die Verfassung dazu auch einladen mag), sondern sie hat das Notwendige unentwegt in voller Reinheit zu markieren und einzuklagen. Jedes oppositionelle Schielen auf regional anstehende Wahlkämpfe ist jetzt von Übel. Gesamtnationale Fragen stehen an und erfordern nationale Lösungen. Letztlich gilt für Regierung wie Opposition der Lobpreis der Certitudo auf Kosten der Securitas. Sicherheit im Entscheiden ist nach der Sommerpause gefragt.

Foto: ZDF-Talkshow "Berlin Mitte" mit Maybritt Illner: Alles Neue und Notwendige wird kleingeredet


 
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