© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/03 08. August 2003

 
Reformen für Brüssel stärken Islamisten
Türkei: Premier Erdogan geht auf Distanz zu den USA und setzt auf EU-Beitritt / "Laizistische" Armee soll entmachtet werden
Ivan Denes

Der Irak-Krieg hat nicht nur den "Schurkenstaat" Iran und die "Terroristenherberge" Syrien unter Druck gesetzt, sondern auch den bisher treuesten moslemischen Verbündeten der USA in der Region, die Türkei. Auslöser dieser neu entstandenen Lage war die Abstimmung im Parlament von Ankara über die Durchmarscherlaubnis für die 4. US-Infanteriedivision. Teile der regierenden islamistischen Partei "Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) widersetzten sich der bedingungslosen Allianz mit den USA und stimmten am 1. März zusammen mit der oppositionellen linksnationalen CHP gegen den US-Truppendurchmarsch.

Sie zwangen somit das Pentagon, die Eröffnung der US-Nordfront im Irak-Krieg über Wochen zu verzögern. Andererseits gingen den Türken dadurch auch millionenschwere US-Finanzhilfen verloren. Die traditionell engen Beziehungen zwischen Washington und Ankara kühlten schlagartig ab. Ende Juli, nach Verschärfung der Guerillaanschläge im Irak, wollte die US-Regierung den Türken eine "zweite Chance" geben und forderte die Regierung von Premier Recep Tayyip Erdogan auf, neben zahlreichen anderen Ländern Truppen in den Irak zu entsenden.

Um jedes Mißverständnis zu vermeiden, sollte das türkische Kontingent nicht im kurdischen Norden stationiert werden - wo sich sei eh und je Einheiten der türkischen Streitkräfte aufhalten, angeblich, um die in den Nordirak geflüchteten PKK-Kämpfer an einer erneuten Infiltration über die irakisch-türkische Grenze zu hindern -, sondern im Südosten des Landes, in der Region von Basra. In Gespräch soll eine 10.000 Mann starke Truppe gewesen sein. Die US-Regierung trug ihr Anliegen in Washington, anläßlich einer "Versöhnungsreise" von Außenminister Abdullah Gül vor.

Gül gilt als Fürsprecher einer engen Anlehnung an die Amerikaner. Er genießt auch die Unterstützung der wichtigsten Printmedien des Landes. Gül trug im Kabinett wohlwollend die amerikanische Bitte vor, die umgehend abgelehnt wurde. Erdogan erklärte, das Problem stehe "nicht auf der Tagesordnung".

US-Luftwaffenbasis Incirlik soll abgebaut werden

Die Amerikaner versuchten auch auf anderem Wege, die Wiederherstellung der früheren Beziehungen zu erwirken. So wurde in der vergangenen Woche bekanntgegeben, daß demnächst erneut gemeinsame amerikanisch-türkisch-israelische See-Manöver stattfinden werden. Sie erwirkten in Jerusalem, daß der seit Jahren erwogene Vertrag über Wasserlieferungen der Türkei an Israel endlich unterschrieben wurde, ohne daß endgültig geklärt wäre, auf welchem Wege das Wasser nach Israel gebracht werden sollte - alles Bekundungen des guten Willens der Amerikaner. Eine weitere Verbesserung der Beziehungen soll auch der Abbau der US-Luftwaffenbasis Incirlik bringen, deren Existenz ein dauerhafter Grund von Unmut in der dortigen Bevölkerung war. Die Amerikaner haben nunmehr ausreichend Militärflugplätze im Irak zur Verfügung.

Die Regierung Erdogan versucht andererseits inzwischen in rasantem Tempo, jene Reformen durchzupauken, die den Weg der Türkei in die EU ebnen sollen. Eines der Kernstücke dieser Reformen ist die Umgestaltung der bisherigen türkischen Staats- und Gesellschaftsordnung. Neben der Abschaffung der Todesstrafe, des Verbots der Folter und der Gewährung größerer kultureller und politischer Rechte für die Kurden ist es die Eindämmung des bisher dominierenden Einflusses der Armee auf das politische System des Landes. Die türkische Armee gilt jedoch als Bewahrer des kemalistischen Erbes der Türkei - der rigorosen Trennung von Religion und Staat.

1960, 1971 und 1980 hat die türkische Armee geputscht, um Recht und Ordnung sowie das laizistische Erbe des Staatsgründers Kemal Atatürk zu sichern. 1997 drängte die Armee die Dreier-Koalitionsregierung von Islamistenführer Necmetin Erbakan aus dem Amt. Erdogan trat dessen politisches Erbe an - mit erheblich größerem taktischem und strategischem Geschick. Die Armee war aber auch der Garant der Nato-Treue, und die USA betrachteten die türkische Armee neben Israel als ihren bedeutendsten geopolitischen Pfeiler im Mittleren Osten. Der politische Einfluß der Armee wurde bisher über den Nationalen Sicherheitsrat und dessen Sekretariat umgesetzt, in dem mehrere Hundert Bedienstete die Kontrolle über die Regierung quasi als Staat im Staat ausüben.

An der Spitze des Gremiums stand immer ein hoher Militär. Der Rat tagte monatlich, und seine Empfehlungen hatten normativen Charakter. Zukünftig sollte eigentlich ein Zivilist den Vorsitz führen - doch letzten Montag wurde mit Sükrü Sariisik erneut ein General ernannt. Der Rat soll nur jeden zweiten Monat tagen und lediglich mit einer "beratenden Funktion" ausgestattet sein. Eine erneute offene Machtübernahme der Armee könnte daher ins amerikanische Konzept passen.

Dies würde aber den Weg der Türkei in die EU für lange Zeit versperren. Die Eindämmung des Armeeeinflusses entspricht aber dem Reformkonzept, daß Brüssel - in völliger Verkennung der dortigen Lage - Ankara diktiert hat. Und Erdogans geschickter Tarnungsstrategie "gemäßigt islamistisch" zum Trotz könnte diese Entmachtung des Militärs am Ende zu einer islamistischen Türkei führen - was wiederum den Europäern überhaupt nicht recht sein dürfte.

Aus diesem Dilemma resultiert also eine weitere Interessenkollision zwischen den Vereinigten Staaten und der EU, wodurch die Türkei an politischem Gewicht und an politischer Bedeutung gewinnt. Auch das liegt weder im Interesse der USA noch dem der EU.


 
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