© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/03 15. August 2003

 
Was heißt "neoliberal"?
von Angelika Willig

Es geht ein Gespenst um im Lande, das Gespenst des Neoliberalismus. Niemand will die Bezeichnung auf sich beziehen, aber alle benutzen sie. Offenbar geht es nicht ohne. Die Redewendung vom "umgehenden Gespenst" stammt bekanntlich aus dem 19. Jahrhundert und war auf den Kommunismus bezogen. Zum Kommunismus bekannten sich damals noch sehr wenige, doch das marxistische Denken breitete sich wie eine Landplage aus. Besonders lästig wirkte die gebetsmühlenhafte Beteuerung, solange die neuen Grundsätze nicht realisiert seien, ließe sich darüber auch kein Urteil fällen.

Auch für die Neoliberalen steht die realexistierende Freiheit noch aus. Soziale Härten der Jetztzeit könne man nicht zur Verurteilung heranziehen, behaupten sie, weil die ausgleichenden Entfaltungsmöglichkeiten fehlten. Zum Beispiel werde es im realen Liberalismus keine Arbeitslosenunterstützung geben, aber halb so schlimm, es gäbe nämlich auch keine Arbeitslosen mehr. Arbeitslosigkeit ist nach dieser Lehre eine Folge gewerkschaftlich festgelegter Tarife. Auch eine Krankenversicherung brauche es nicht mehr zu geben; da der Staat den Leuten nicht mehr das Geld aus der Tasche ziehe, hätten sie die Möglichkeit, sich selbst zu versichern, und wären besser motiviert bei der so wichtigen Prophylaxe. Man kann dies nur glauben oder nicht glauben - wie es mit dem Marxismus auch gewesen ist, bevor wir eines Besseren belehrt wurden.

Die Ähnlichkeiten gehen noch weiter. Es handelt sich um eine Wirtschaftstheorie, geschrieben von schwer lesbaren Klassikern (Mises, Hayek), die plötzlich zur Weltanschauung wird und alle Gebiete des Lebens erfaßt. Im Internet-Forum der libertären Zeitschrift eigentümlich frei ereignen sich halb erschreckende, halb kuriose Debatten, zum Beispiel darüber, was passieren würde, wenn man die Sozialhilfe von heute auf morgen total striche. So grausam, wie sie tun, sind diese meist jungen Leute gar nicht. Kein einziger, behaupten sie, würde ohne Sozialhilfe verhungern. Immerhin - nur ein Beispiel - waren in der Stadt Bremen zu Anfang des 19. Jahrhunderts ein Drittel der Bevölkerung ohne Broterwerb. Sie alle lebten von freiwilliger Wohltätigkeit. Die Reichen sind gar nicht so - man muß ihnen nur ihr Geld lassen, schon geben sie es für andere aus. Auch der Skeptiker kann sich der Empfindung nicht verschließen, daß hier ein frischer Wind bläst, der wohltut nach der Hitze des Verteilungskampfes. Kaum zu glauben, es gibt welche, die wollen gar nichts abhaben. Allerdings muß man vorsichtig sein, den "frischen Wind" hat man an deutschen Universitäten Ende der 1960er Jahre auch gespürt, und schon saßen wir drin in der Marxismus-Falle. Mußten in Konkurrenz zum Ostblock beweisen, daß "Gerechtigkeit mehr ist als gleiche Rechte". Wie sich damals Professoren und Politikern gern auf die Seite der zornigen jungen Dutschkes stellten, so geht auch vom Neoliberalismus eine zunehmende Verführung aus. Leute wie Philipp Mißfelder von der JU üben Verrat an den Idealen ihrer Altvorderen und sind auch noch stolz darauf. Mit anderen Worten, die Ratten verlassen das sinkende Schiff und springen auf den Zug auf, der in Richtung Zukunft zu fahren scheint.

Nachdenkenswert sind die liberalistischen Argumente auf jeden Fall. Dann müßten sie kritisiert werden. Zunächst stellt sich die Frage, weshalb das Ökonomische nun schon seit 200 Jahren diese entscheidende Rolle spielt. Was bedeutet überhaupt "Ökonomie"? Keine Frage kann zu dumm sein, wenn es um die philosophische Durchdringung geht. Ökonomie heißt Handel, also Umgang mit anderen. Genauer: Handel ist der Umgang mit Menschen, mit denen man nichts zu tun hat als das Interesse an ihrer Ware, einem Produkt oder einer Dienstleistung. Und je mehr das Individuum im Verlauf der europäischen Geschichte sich emanzipierte und von Mächten wie Familie, Kirche, Staat unabhängig wurde, desto mehr hat es mit Leuten zu tun, mit denen es eigentlich nichts gemeinsam hat. Das hat angenehme und unangenehme Seiten. Jedenfalls begründet es den Primat der Ökonomie in modernen Gesellschaften. Die Verbindlichkeit besteht jetzt nur noch im Geld. Nur das Geld macht es möglich, zu profitieren, ohne sich in irgendeine Abhängigkeit zu begeben.

Der Freiheitsanspruch des modernen Individuums wird im Geld realisiert. Je mehr es also aufs Geld ankommt und je weniger auf irgendwelche anderen Kriterien (Religion, Nationalität, Hautfarbe etc.), desto freier kann sich der Einzelne bewegen, desto besser kann er seine Individualität entfalten. Die Alternative, eine unbegrenzte Selbstverwirklichung ohne finanzielle Voraussetzungen, wie sie die Sozialisten nach der "Abschaffung des Geldes" versprachen, hat sich als nicht durchführbar erwiesen. Seitdem gewinnt der selige Tanz um das Goldene Kalb ganz zwangsläufig immer mehr Anhänger. Denn zurück in alte Abhängigkeiten will keiner. Da mögen die Konservativen noch soviel appellieren und beschwören.

Wir mußten zwischen Freiheit und Sozialismus wählen und haben uns für die Freiheit entschieden. Daraus ergeben sich Konsequenzen. Die "freie Wirtschaft", der wir unseren bisherigen Lebensstil zu verdanken haben, ist kein Wohltätigkeitsverein. Sie funktioniert nach ökonomischen Gesetzen. Auch der Sozialstaat im Westen hatte etwas von der beschriebenen "Versöhnung" betrieben, zwar keine Gerechtigkeit hergestellt, aber die härtesten Ungerechtigkeiten abgemildert, so daß es fast aussah, als ob der Westen der bessere Osten sei. Darauf sind viele der DDR-Bürger hereingefallen. Sie packten quasi ihre marxistische Ideologie mit den gerade erschauten Konsumparadiesen zusammen und glaubten sich in der Utopie angekommen. Wäre die Wiedervereinigung zwei Jahrzehnte früher gekommen, hätten sie das noch eine Weile länger glauben können. Doch unglücklicherweise begann gleich darauf das, was man in der Biologie "verstärkten Selektionsdruck" nennt. Auch Ratten nämlich könnten zeitweise den Eindruck haben, im Kommunismus zu leben, wenn die Speicher voll und die Katzen satt sind.

Doch irgendwann endet dieser herrliche Zustand, und dann ist es schon ziemlich egal, ob man diesen Umschwung durch unvorsichtiges Verhalten selber bewirkt hat, oder ob es sich um einen Schicksalsschlag in Form der Weltkonjunktur handelt. Auch wenn die gesellschaftliche Harmonie, meist infolge sprudelnder Gewinne, noch so schön ist und die Bereitschaft zum Teilen selbstverständlich scheint, so ändert sich dies schlagartig, sobald die wirtschaftlichen Voraussetzungen sich ändern. Denn eine echte Verzichtbereitschaft gibt es in säkularisierten Gesellschaften nicht. Die würde nämlich die Hoffnung auf eine Belohnung im Himmelreich voraussetzen. Ein Mensch, der höchstens achtzig Jahre zu leben hat, wird nicht freiwillig auf ein Hüftgelenk verzichten. So wie er früher nicht auf teure Reisen verzichtet hatte, um im Sinne der Gemeinschaft Kinder großzuziehen. Wer die Freiheit des Individuums an die erste Stelle setzt, wie es unsere Gesellschaft tut, kann nicht auf andere Werte pochen. Es gibt keine mehr. Und darum schreit auch jeder, dem man per Sozialabbau die eigenen Möglichkeiten beschneidet, so laut, als ob es um sein Leben ginge. Es geht in der Tat um Lebenschancen, die nie wiederkommen. Es geht um Angst und um Haß, die soziale Frage gehört auch zum Gespenst.

Den "Generationenkonflikt", von dem man jetzt spricht, gibt es gar nicht. Alte und Junge sind sich in ihren hedonistischen und individualistischen Zielen überwiegend einig. Die "stramme" Generation ist beinahe ausgestorben. Die jetzt 60- und 70jährigen "sehen alles schon ziemlich locker". Das Problem beginnt erst, wo das Geld nicht reicht. Wer Millionär ist, braucht sich um das Verhältnis der Generationen keine Sorgen zu machen. Worum es geht, ist das Verhältnis zwischen Armen und Reichen. Was das Thema der Älteren spezifisch macht, ist deren Annahme, sich durch Einzahlung ihrer Beiträge eine finanzielle Sicherheit geschaffen zu haben. Nun ist sozusagen ihre Versicherung pleite gegangen. Dafür wird sich eine spezielle Regelung finden müssen. Von neoliberaler Warte ist das widerwärtige Gezerre, das wir derzeit erleben, nur Zeichen eines "gesunden Egoismus" nach Jahrzehnten sozialdemokratischer Trägheit. Denn selbstverständlich ist auch der Lobbyismus von Benachteiligten, oft sehr professionell betrieben, nur eine Spielart des "Kampfes ums Dasein". Man darf sich also auf keinen Fall von deren Mitleidsgesten überwältigen lassen, denn was ich gebe, so denkt der starke Einzelne, entscheide nur ich. Jedes unverschämte Betteln verringert eher die Chancen auf ein Almosen.

Noch aus der sozialistischen Phase stammt die Rede vom "Recht auf Arbeit", Recht auf Leben, Recht auf Zahnersatz, und was es sonst noch für Rechte gibt. Solche Auffassungen sind aber nur so lange einigermaßen legitim, wie den Rechten auch Pflichten entsprechen. Hat jemand das Recht, im Falle der Hilflosigkeit Sozialunterstützung zu beziehen, so müßte er auch die Pflicht haben, sich um Arbeit zu bemühen, sparsam zu sein etc. Je heterogener, also freier jedoch die Gesellschaft wird, desto schwieriger wird es, die Erfüllung solcher Pflichten zu kontrollieren. Wenn man im Dorf dem Bettler etwas gibt, sieht man, was er damit anstellt. In einer Großstadt finden unter dem Deckmantel sozialer Not die verschiedensten Dinge statt. Deshalb paßt auch der Name "Volksgemeinschaft" nicht zum Sozial- oder Wohlfahrtsstaat. Während dort mit Zuwendung automatisch Kontrolle verbunden ist, stellt der moderne Sozialstaat den Anspruch, Freiheit und Sicherheit zu verbinden. Das ist das Problem: Jeder will machen, was er will - aber bezahlen soll es möglichst die Gemeinschaft. Einst war unter Krankenversorgung ein überschaubarer Katalog an Leistungen zu verstehen, aus denen eine Herzverpflanzung oder Gehirnoperation als absolute Seltenheit herausragten.

Inzwischen hat sich eine riesige Palette von medizinischen Angeboten entwickelt, wo es fast unmöglich ist, zu entscheiden, was für den Patienten richtig, nötig oder unangemessen ist. Im Grunde kann er das nur selbst entscheiden. Dann muß er es aber auch selbst bezahlen. Unsere ganze Kultur ist angelegt auf Auswahl und Spezifizierung, überall gibt es unzählige Angebote, die nicht von irgendeiner Kammer, Kasse oder sonstigen staatlichen Behörde überprüft werden können. Der Versuch, eine bestimmte Auffassung von Gerechtigkeit beizubehalten, obwohl die Bedingungen sich geändert haben, hat zu dem riesigen Verwaltungsaufwand geführt, der heute bereits einen erheblichen Teil des ohnehin knappen Geldes schluckt.

In einer demokratischen Gesellschaft kann sich formal jeder auf das gleiche Recht berufen - und das wird auch weidlich ausgenutzt. Grundsätzlich ist der Staat gegen solche Ansprüche machtlos, allerdings kann er sie verschieden auffassen. Und darauf kommt es an. Ein liberaler Staat faßt das Recht des Einzelnen als Konzession auf, auf dem Markt handeln zu dürfen nach den gleichen Regeln wie alle anderen auch. Dieses Recht zu vergeben, kostet im Prinzip nichts. Praktisch muß der Staat allerdings dafür sorgen, daß die Regeln nicht gebrochen werden und so die Chancengleichheit beeinträchtigt wird.

Der Sozialstaat hingegen hat die Forderung des Marxismus zum Teil übernommen, das Recht nicht bloß formal aufzufassen, sondern seine tatsächliche Realisierung von Staats wegen zu garantieren. In diesem Fall kann unter der Berufung auf "Gerechtigkeit" vom Staat Stück für Stück die gesamte Existenzsicherung verlangt werden plus Schutz für alle Eventualitäten. Das Scheitern dieses Modells, wie wir es gerade beobachten, ist im Prinzip nichts anderes als eine zweite "Wende", der zweite Zusammenbruch eines sozialistischen Staates. So gesehen ist die Dramatik durchaus verständlich.

Bemerkenswert ist, wie der Ausdruck "System" für die bestehende Gesellschaft vom extremistischen Kampfbegriff in die demokratische Mitte gewandert ist. Hier bedeutet er, je nachdem, das wirtschaftliche System, das System der Krankenversicherung oder auch einfach den Status quo. Eine "Systemveränderung" ist damit zumindest diskutabel geworden. Allerdings stellen sich empörte Bürger dies wohl zu einfach vor. Wer die Geldherrschaft grundsätzlich angehen will, muß die Freiheit des Individuums aufheben. Nur wenn der Einzelne einen höheren Zweck sieht, kann ein Verzicht sinnvoll gefordert werden. Einen solchen Zweck gibt es aber zur Zeit nicht, und er kann auch nicht aus der Mottenkiste bürgerlicher Werte wieder hervorgeholt werden. Das wird dann kein Gespenst, sondern eine Vogelscheuche, mit der man die Leute verjagt, statt sie anzulocken.

Aufmerksam machen sollte man aber darauf, daß auch der oberste Wert der Liberalen kein absoluter Wert ist. Auf eine staatliche Ordnung kann das liberale Wirtschaftssystem nicht verzichten. In einer Anarchie nämlich würden sofort die Gewaltbereiten die Herrschaft an sich reißen, und von Individualität wäre keine Spur mehr - auch wenn manche Libertäre sich anarchischen Träumen hingeben, die eher kitschig sind. Der Staat ist notwendig, und der Staat beruht aber immer auf einem gemeinsamen Willen beziehungsweise einem historischen Prinzip. Im Falle des liberalen Staates ist es die unter "unsichtbare Hand" bekannte Einsicht, daß die Freiheit des Einzelnen den Fortschritt aller am besten fördert. Das mag für unser Zeitalter stimmen - aber es war nicht immer so und muß auch nicht immer so bleiben.

 

Dr. Angelika Willig, Jahrgang 1963, studierte Philosophie und Lateinische Philologie in Freiburg und München.


 
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