© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/03 22. August 2003

 
Kolumne
Selbstfindung
Klaus Motschmann

Von Zeit zu Zeit liest man von Klagen krebskranker Amerikaner gegen "ihre" Zigarettenfirmen, die dann tatsächlich zur Zahlung zweistelliger Millionenbeträge an ihre "Opfer" verurteilt werden.

Ganz so weit ist es in Deutschland noch nicht. Die seit einiger Zeit um sich greifenden Anti-Raucher-Kampagnen werden aber noch einige Überraschungen bieten. Nachdem die Einrichtung sogenannter rauchfreier Zonen nach dem Vorbild der "atomwaffenfreien" und "nazifreien" Zonen in öffentlichen Einrichtungen und das Rauchverbot in Restaurants, Hotels, während Konferenzen und sonstigen Veranstaltungen bereits durchgesetzt werden konnten, geraten nun Werbe- und Filmwirtschaft unter Druck.

Sie sollten alles unterlassen, was das Verlangen nach Nikotingenuß fördern könnte, vor allem unter Jugendlichen. Im Gesundheitsministerium wird laut darüber nachgedacht, ob man nicht auf die Herstellung von Schokoladenzigaretten verbieten sollte.

Bedenkenswerte Absichten dieser Kampagnen sollen nicht bestritten werden. Allerdings werden Erinnerungen an ähnliche Kampagnen geweckt, mit denen vor 30 Jahren exakt entgegengesetzte Ziele angestrebt wurden. Damals ging es um die Einrichtung von "Raucherecken" und "Raucherzimmern" in unseren Gymnasien und Berufsschulen und um die demonstrative Mißachtung des Rauchverbots in den Hörsälen unserer Universitäten.

Alle Einwände verantwortungsbewußter Lehrer, Elternvertreter und Schulpolitiker, die es ja gab, wurden in gewohnter Manier unter Ideologieverdacht gestellt: Man wolle auch auf diese Weise die "Erziehung zur Anpassung" an "autoritäre Anpassungsmuster" aufrechterhalten, "normale Triebstrukturen" unterdrücken und damit den "Prozeß der Selbstfindung" zu einem selbstbestimmten Leben blockieren.

Geraucht wird also nicht allein aus Lustgewinn, sondern in der Absicht demonstrativer bürgerlicher Regeln nach den Grundsätzen emanzipatorischer Pädagogik. Nun also eine Kehrtwende. Neue medizinische Erkenntnisse über die Schädlichkeit des Rauchens liegen zur Begründung nicht vor. Dafür aber aufs neue eine Bestätigung der alten Erfahrung, daß in bestimmten Bereichen sehr naheliegende Fragen nach der Verantwortung für derartige Experimente mit unserer Jugend nicht gestellt werden (dürfen). Es gibt doch noch Tabus - oder genauer: schon wieder. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Der Verfasser ist überzeugter Nichtraucher.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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