© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/03 22. August 2003

 
Die Nothilfe wurde zur Massenalimentierung
Gesellschaft: Die Sozialhilfeausgaben steigen von Jahr zu Jahr in immer größerem Rahmen / Die Agenda 2010 soll nun diese Kostenexplosion eindämmen
Christian Roth

Im Rathaus so mancher Großstadt erzählen sich die Angestellten die abenteuerlichsten Dinge. Junge Anwärter auf eine Beamtenlaufbahn werden zu Beginn ihrer Karriere mit Vorliebe ins Sozialamt geschickt. "Total desillusioniert kehren die meisten zurück", heißt es in Beamten-Kreisen. Von "Berufsempfängern" ist dort die Rede, teilweise werde der Generationenvertrag völlig neu interpretiert. "Manchmal kommen junge Mütter mit ihren Kindern an, von denen ich schon die Fälle der Oma bearbeitet habe", erzählt eine Beamtin des Sozialamtes Saarbrücken. Die saarländische Landeshauptstadt ist mit etwa 500 Millionen Euro verschuldet. Ein großer Anteil davon entfällt auf die Sozialhilfe-Empfänger. In der Rangliste deutscher Städte liegt die Saar-Kommune mit 9,4 Prozent Sozialhilfeempfängern auf Rang drei hinter Bremerhaven und Kassel. Und der Ton wird rauher. Der Kampf um Sozialhilfe in Deutschland verschärft sich. Lange beschränkte er sich auf das Ritual politischer Forderungen, doch inzwischen haben Handgreiflichkeiten eingesetzt und die Stufe der Militanz erreicht. Tatort: Sozialamt.

"Anspruch auf Sozialhilfe haben alle Menschen, die ihren Lebensbedarf nicht selbst oder zumutbarerweise anderweitig decken können. Bei der Entscheidung über Sozialhilfe wird auf den konkreten Hilfebedarf und auf die Mittel und Kräfte des oder der Betroffenen abgestellt. Im Sozialhilferecht müssen somit alle Entscheidungen des Sozialamts auf den Einzelfall Bezug nehmen, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Sozialamtes haben dabei meist einen Ermessensspielraum, der häufig nicht ausgeschöpft wird." So lautet der offizielle Leitfaden für Antragsteller. Doch frei nach dem Motto "Theorie ist schön, aber grau die Praxis" wurschteln die Sozialämter vor sich hin.

2,7 Millionen Menschen bezogen 21 Milliarden Euro

Gekämpft wird um eine Hilfe, die inzwischen eine schwindelerregende Höhe von über 21 Milliarden Euro im Jahr 2001erreicht hat. Mittlerweile rechnet man für das laufende Jahr mit einer Steigerung bis weit über 28 Milliarden Euro. 2,69 Millionen Frauen, Männer und Kinder beanspruchen heute Sozialhilfe in Form von "laufender Hilfe zum Lebensunterhalt", fast 600.000 davon sind Ausländer (22 Prozent). Das besonders Erschreckende: Etwa eine Million unter den 2,69 Millionen sind Kinder, die von Sozialhilfe leben. Mehr als jedes fünfte Kind hat eine ausländische Staatsangehörigkeit.

Bezahlt wird Sozialhilfe aus den Kassen von Städten und Gemeinden. Aber die Kassen sind leer. So leer, daß einige Kommunen zwischenzeitlich sogar die Personalkosten durch Kredite finanzieren mußten, wie der Städte- und Gemeindebund bekanntgab. "Die Kommunen müssen höhere Sozialausgaben verkraften, als insgesamt in Deutschland Gewerbesteuer gezahlt wird", betont die Vizepräsidentin des Deutschen Städtetages, Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth: "Allein die Langzeitarbeitslosigkeit belastet die Kommunen jährlich mit mehreren Milliarden Euro. Die Sozialhilfe ist zu einer Ersatz-Arbeitslosenversicherung geworden, obwohl sie für Nothilfe im Einzelfall gedacht ist." Roth stöhnt zu Recht. Weitere Städte als Beispiel: In Bremen leben 9,4 Prozent der Einwohner von Sozialhilfe, also fast jeder Zehnte, in Berlin 7,8 Prozent, in Hamburg 7,1 Prozent. Das belastet Bremen bei der laufenden Hilfe für den Lebensunterhalt mit 234 Millionen Euro im Jahr, Berlin mit 949 und Hamburg mit 450 Millionen Euro.

Berlin ist auch die Sozialhilfe-Hauptstadt. 265.818 Einwohner beziehen Sozialhilfe. Das ist die Größenordnung einer mittleren deutschen Großstadt, die dort am Tropf hängt. So ist es nicht verwunderlich, daß die Hauptstadt erste soziale Erdbeben zu bewältigen hat. Das Sozialamt Berlin-Neukölln betreut 37.000 Sozialhilfeempfänger, von denen etwa jeder Dritte Ausländer ist. Dort wurden Sachbearbeiter von verärgerten Antragstellern und Sozialhilfeempfängern beschimpft, bespuckt und geschlagen. Etliche wußten sich nicht anders zu helfen, als sich zu verbarrikadieren - bis eigens engagierte Wachmänner Ordnung schafften. Die konnten inzwischen abgezogen werden - aber nur, weil 19 Kameras in den Fluren montiert wurden. Ohne Videokameras ist die Sicherheit nicht mehr gewährleistet. "Die Kameras haben ihre Berechtigung", teilt das Amt mit. "Wir können zum Schutz der Mitarbeiter nicht auf sie verzichten." Es sei seitdem auch schon "ruhiger" geworden. Im Fadenkreuz stehen die Sozialstadträte, die sich unter anderem eines zum Ziel gesetzt hat: Mißbrauch von Sozialhilfe aufzuspüren, um damit mehr Gerechtigkeit für Anspruchsberechtigte zu sorgen. Beispiele gefällig?

Eine Familie bezog monatlich 1.200 Mark Sozialhilfe und beantragte für zirka 800 Mark einen Innenanstrich der Wohnung. Ein Prüfer des Sozialamtes stellte fest, daß sich der Sozialhilfeempfänger erst zwei Monate zuvor für 35.000 Mark einen VW Passat gekauft, das Vermögen aber dem Sozialamt verschwiegen hatte.

Eine 41jährige Frau wollte vom Sozialamt unter anderem eine neue Badezimmereinrichtung. Ein Prüfer stellte fest, daß die Sozialhilfeempfängerin seit zwei Jahren in ehelicher Gemeinschaft lebte. Ihr Partner hatte ein festes Einkommen. Die Frau mußte knapp 16.000 Mark Sozialhilfe zurückzahlen. Eine 34jährige Sozialhilfebezieherin beantragte eine neue Waschmaschine. Kosten: zirka 830 Mark. Ein Prüfer stellte fest: Die alte Waschmaschine tat ihren Dienst bestens.

Die Sachbearbeiter leben in einem Paragraphen-Dschungel. Kaum jemand weiß, wer welchen Anspruch hat. Ausnahmen sind die Regel, Täuschung an der Tagesordnung. In Saarbrücken fiel findigen Bearbeitern nach Monaten auf, daß eine größere Gruppe von Empfängern in regelmäßigen Abständen wegen des Verlust des Personalausweises vorstellig wurde. Die Neubeschaffungs-Gebühr von acht Euro übernahm in etwa 350 Fällen das Sozialamt - bis sich herausstellte, daß einige Empfänger bis zu zehn Personalausweise mit sich trugen. Diese dienten als Sicherheit in Restaurants, Tankstellen und Kneipen - um ungestört die Zeche prellen zu können. Nun hat das Saarbrücker Sozialamt die Notbremse gezogen. Sozialhilfeempfänger müssen ihre Papiere künftig im Verlustfall selbst bezahlen. Die Stadt spart so einige tausend Euro - wenigstens etwas. Doch das ist nicht mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.

Neben der Pauschale gibt es noch viele Sonderregelungen

Bisher gilt bei der Vergabe der Sozialhilfe das sogenannte Bedarfsdeckungsprinzip. Es besagt, daß dem Hilfeberechtigten Sozialhilfe in einer Höhe zusteht, die ihm die Führung eines menschenwürdigen Lebens ermöglicht. Hilfeberechtigte haben einen Rechtsanspruch auf diese Leistungen und können sie auf dem Rechtsweg einklagen. Über die normale Pauschale gibt es eine Vielzahl von "Sonderregelungen", die je nach Einzelfall zugebilligt werden.

"Das System der Hilfe zum Lebensunterhalt, welches sich aus der Aktion möglicher individueller Leistungsansprüche ergibt, führt infolge der daraus resultierenden umfänglichen Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte nahezu unvermeidbar zu einem ausgeprägten Einzelanspruchs-Denken der Empfänger von Hilfe zum Lebensunterhalt. Der einzelne Hilfeempfänger kann über jedes Element der Hilfegewährung - Regelsatz, Mehrbedarf, Höhe der Miete, Höhe der Nebenkosten, Höhe und Umfang der jeweiligen einmaligen Beihilfe - differenziert mit dem Sozialhilfeempfänger streiten", heißt es in einem Aufsatz der juristischen Fachzeitschrift NDZ. Das hört sich alles kompliziert an - und ist es auch.

In Niedersachsen beträgt der Regelsatz für Sozialhilfeempfänger derzeit beispielsweise exakt 286,83 Euro. Hinzu kommen "die Unterkunfskosten in Höhe der tatsächlich anfallenden Kosten, wenn sie angemessen sind", sowie Heizkosten und die Beiträge zur Krankenversicherung. Des weiteren existiert ein Anspruch auf sogenannte Mehrbedarfzuschläge, zum Beispiel der Schwangerschaftsmehrbedarf für werdende Mütter ab der 12. Schwangerschaftswoche in Form eines monatlichen Zuschlags zum Regelsatz von 20 Prozent. Auch der "Alleinerziehungsmehrbedarf" für Personen, die mit einem Kind unter sieben Jahren oder mit zwei oder drei Kindern unter 16 Jahren zusammenleben und allein für deren Pflege und Erziehung sorgen, in Höhe von vierzig Prozent kann geltend gemacht werden. Hinzu kommen einmalige Hilfen; sie können beim Sozialamt beantragt werden und zwar von Menschen, die zwar keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben, aber dennoch nur über ein geringes Einkommen verfügen.

Einmalige Leistungen sind vom Sozialamt für denjenigen notwendigen Unterhaltsbedarf zu erbringen, der nicht von den laufenden Leistungen zu decken ist, weil er nicht fortlaufend, sondern in längeren Zeitabständen im Jahresablauf mehr oder weniger regelmäßig auftritt. Hierunter fallen beispielsweise nach vorherigem Antrag die Beihilfe für Bekleidung, die von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich entweder bei Bedarf oder als Pauschale ausgezahlt wird. Hausrat und Gebrauchsgüter, wie zum Beispiel eine Waschmaschine für eine größere Familie, Lernmittel- und Schulbedarf wie die Kosten einer Klassenfahrt oder für besondere Anlässe wie die Ausrichtung einer Familienfeierlichkeit. Auch für eine Aktentasche kann beispielsweise eine einmalige Hilfe beantragt werden, weil sie notwendig für das Auftreten bei einem Bewerbungsgespräch ist. Der Streit ist bei einer solchen Vielzahl an Möglichkeiten vorprogrammiert.

Abhilfe erhofft sich die rot-grüne Bundesregierung von den im Rahmen der Agenda 2010 verabschiedeten Reformen der Sozialgesetzgebung. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sprach in der vergangenen Woche euphorisch von einem "Kraftakt" und "einer der größten Veränderungen in der Sozialgeschichte der Bundesrepublik".

Die Zuwanderung verstärkt den Kostenanstieg im Sozialen

So sollen Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt werden. Künftig gibt es das sogenannte Arbeitslosengeld II. Im Westen soll es künftig einheitlich 345 Euro monatlich betragen, in den neuen Bundesländern 331 Euro. Dazu kommt noch das Wohngeld. Hilfen zum Lebensunterhalt, die bisher einzeln gezahlt wurden, sind darin künftig pauschal bereits enthalten.

Die Betreuung und Vermittlung für die etwa 1,5 Millionen bisherigen Arbeitslosenhilfeempfänger und etwa 1,3 Millionen erwerbsfähigen Sozialhilfebezieher soll künftig die Bundesanstalt für Arbeit (BA) übernehmen. Damit erhofft sich die Bundesregierung neben einer Entlastung des Arbeitsmarktes auch eine abnehmende Zahl von Sozialhilfebeziehern. Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement schwärmt von dem neuen Regelwerk in höchsten Tönen. "Die Eigenverantwortlichkeit der Sozialhilfeempfänger" werde gestärkt, "die zahlreichen Ausnahmen eingeschränkt". "Die Leute müssen lernen, sich die Pauschale einzuteilen", glaubt der SPD-Politiker.

Auch den hochverschuldeten Kommunen macht Clement Hoffnung. Die Kommunen könnten nicht nur mit Entlastungen aus der Reform der Gewerbesteuer, sondern auch aus der Sozialhilfereform rechnen, sagte Clement. Sie solle 2005 "Effizienzgewinne" von 3,1 Milliarden Euro abwerfen. 2006 brächten Kürzungen der Transferleistungen und bessere Arbeitsvermittlung Einsparungen von 4,3 Milliarden Euro, 2007 sogar 4,9 Milliarden Euro. Aus diesen Effizienzgewinnen wolle der Bund den Kommunen ab 2005 jährlich eine Milliarde Euro gewähren plus 1,5 Milliarden Euro für bessere Kinderbetreuung. Der Rest diene dem Defizitabbau.

Die Opposition traut dem Braten nicht so recht. Kaum gab das Kabinett seine Beschlüsse bekannt, ging CDU-Haushaltsexperte Friedrich Merz auf die Barrikaden. "Die Sozialhilfe ist infolge der hohen Arbeitslosigkeit, aber auch infolge ständiger Leistungsausweitungen völlig aus dem Ruder gelaufen. Den Gemeinden werden zudem die finanziellen Folgen zerrütteter Familienverhältnisse ebenso auferlegt wie die Kosten der ungeregelten Zuwanderung ausländischer Wohnbevölkerung", moniert der Unionspolitiker und führte in einem Gastbeitrag für Financial Times Deutschland weiter aus: "Diese Zuwanderung hat überwiegend in die Sozialsysteme stattgefunden. Das wichtigste Sozialsystem für diese Bevölkerungsgruppe ist die Sozialhilfe. Sie hat die Kommunen 2002 insgesamt fast 30 Milliarden Euro gekostet, Tendenz weiter stark steigend. 1962, als die Sozialhilfe eingeführt wurde, mußten die Gemeinden dafür nur 600 Millionen Mark bereitstellen - die Ausgaben haben sich also in vier Jahrzehnten nominal verhundertfacht." Nach Merz' Vorstellungen sollen arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger keine Leistung ohne Gegenleistung mehr bekommen dürfen; aus der Lohnersatzleistung müsse eine Lohnergänzungsleistung werden. "Und auch wenn es rot-grüner Gefühlsduselei von multikultureller Gesellschaft widerspricht: Wir brauchen gerade für die Kommunen ein Gesetz, das Einwanderung wirklich begrenzt und sie im Interesse unseres Landes steuert."

Widerspruch kommt auch vom hessischen Regierungschef Roland Koch (CDU). Dieser setzt zur Durchsetzung des Prinzips des Förderns und Forderns von arbeitsfähigen Sozialhilfeempfängern auf die Kommunen - und nicht, wie von der Regierung geplant, auf die Bundesanstalt für Arbeit. Der Haken an Kochs Vorschlag: Die Last würde dann wieder allein bei den Sozialämtern liegen. "Für viele Menschen ist es viel lukrativer, daß sie zusätzlich zur Sozialhilfe nebenbei noch 'schwarz' arbeiten", beschreibt die Tageszeitung Die Welt ein anderes Szenario. Bei Sozialabgaben von mehr als vierzig Prozent lohnt es sich für viele Menschen nicht, eine gering bezahlte, offizielle Arbeit anzunehmen. Mit Arbeitslosen- oder Sozialhilfe, aufgebessert durch ein paar Euro aus Schwarzarbeit, stellen sie sich oft besser. Wirtschaftsminister Clement glaubt an Abhilfe durch Neuerungen. Sein großes Problem: Die Jobs, mit denen die Sozialhilfeempfänger wieder in die Arbeitswelt eingegliedert werden sollen, müssen erst noch geschaffen werden.


 
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