© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/03 22. August 2003

 
Differenzierte Betrachtungen
Gerd Schultze-Rhonhof stellt die immer noch brisante Frage nach den Ursachen des Zweiten Weltkrieges
Stefan Scheil

Anregungen von außen kann die Geschichtswissenschaft von Zeit zu Zeit gut gebrauchen. Sie schützen die Zunft davor, nur noch mit sich selbst zu diskutieren und erinnern sie nebenbei an die Verantwortung der Öffentlichkeit gegenüber. An Beispielen aus jüngerer Zeit wird man dabei etwa an Ernst Topitsch denken, der als Philosoph und Wissenschaftstheoretiker über "Stalins Krieg" als rationale Langzeitstrategie gegen Europa schrieb und dabei aus der Perspektive des gebildeten Laien zu Schlußfolgerungen kam, die sich gegen den wissenschaftlichen Trend richteten, aber durch neuere Quellenfunde immer mehr bestätigt werden. Gerd Schultze-Rhonhof ist ebenfalls historischer Laie, genauer gesagt Generalmajor a.D. Er hat es unternommen, den langen Anlauf zum Zweiten Weltkrieg in einer umfangreichen Darstellung zu beschreiben, und kommt zum Schluß, daß dieser Krieg "viele Väter" hatte.

Schultze-Rhonhof nennt am Ende ausdrücklich sechs Staaten, denen er besondere Verantwortung am Kriegsausbruch von 1939 zuschreibt. Es sind Großbritannien, Frankreich, Polen, die Sowjetunion, die Vereinigten Staaten und Deutschland. In dieser Liste fehlen Italien und Japan, was zunächst überraschen mag, zumal besonders der italienischen Politik einschließlich des Äthiopien-Krieges in der Darstellung einiger Raum gewidmet wird. Es läßt sich wohl aus der vom Autor vorgenommenen Einteilung in drei "Dimensionen" erklären, in denen er den Zweiten Weltkrieg verlaufen sieht: einer asiatisch-japanischen, einer mittelmeerisch-italienischen und einer mitteleuropäisch-deutschen.

Schultze-Rhonhof beschreibt im wesentlichen letzteres, also die Entwicklung zum deutsch-polnisch-sowjetischen Krieg von 1939. Sie nimmt den längsten Abschnitt des Buchs ein und endet mit einer chronologischen Darstellung der letzten Tage vor dem Krieg zwischen dem 23. August und dem 31. August. Daneben gibt es Rückblicke auf den Ersten Weltkrieg und die anschließende Schulddebatte samt dem Versailler Vertrag, auf die "Jahre der Anschlüsse" und den Rüstungswettlauf der Nachkriegszeit zwischen 1918 und 1939. Ein längerer Abschnitt ist Hitlers Äußerungen zu einem möglicherweise kommenden Krieg gewidmet. Hier unterzieht Schultze-Rhonhof auch die im Nürnberger Prozeß vorgelegten "Schlüsseldokumente" einer Kritik, aus denen sich nach konventioneller Lesart der deutsche Wille zum Angriffskrieg angeblich ergeben soll.

Insofern entspricht der Titel des Buchs nicht völlig dem Inhalt, denn der Autor beschäftigt sich nicht mit dem Weltkrieg als ganzem, sondern mit dem Entstehen des deutsch-polnischen Konflikts. Größere Aufmerksamkeit wird daher neben dem deutschen vor allem dem polnischen Selbstverständnis gewidmet. Die Diplomatie anderer Länder im entscheidenden Zeitraum wird in ihrem Verhältnis zur polnischen Regierung gespiegelt, und so läßt sich auch die Frage gut untersuchen, wie aus dem 1938 gemachten deutschen Angebot einer Garantie der polnischen Grenzen innerhalb von Monaten ein Gegensatz entstehen konnte, der zur Gewaltanwendung eskalierte.

Ansonsten konzentriert sich die Darstellung auf die deutsche Perspektive. Hier liegen Stärken des Buchs, denn gerade für die jüngeren Leser, die Schultze-Rhonhof vor allem ansprechen will, dürfte der Rückblick auf die "zweite deutsche Teilung", bei der die Alliierten im Jahr 1919 den bereits demokratisch beschlossenen Beitritt Österreichs und der Sudetengebiete verhinderten, manch Unbekanntes erhalten. Auch die Umwandlung des Memelgebietes in eine Kolonie der Siegermächte, die später geduldete Okkupation durch Litauen und die Verhinderung der Regierungsbildung durch die 1925 mit 94 Prozent Stimmanteil gewählten deutschen Parteien gehört zur viel zu selten erwähnten Vorgeschichte des Weltkriegs, die der Autor hier ausbreitet.

Dies waren die Jahre, in denen sich in Deutschland der Eindruck zu verfestigen begann, daß in der internationalen Politik die Macht eben doch nur aus den Gewehrläufen kam und im weiteren Vertrauen auf zwischenstaatliche Verhandlungen und demokratische Selbstbestimmung keine Hoffnung läge. Diese innerdeutsche Entwicklung und das zunehmend schlechte Gewissen der Weltöffentlichkeit den Deutschen gegenüber bildeten jenes Kapital, von dem die nationalsozialistische Regierung in den "Jahren der Anschlüsse" zehren konnte. Die kollektive Sicherheit und der Völkerbund scheiterten an ihren eigenen Widersprüchen und an dem blanken Zynismus der alliierten Nachkriegspolitik, der dann von dem sacro egoismo der Jahre zwischen 1933 und 1939 abgelöst wurde. Zu viele Staaten glaubten in dieser Zeit ihre Interessen am besten zu fördern, wenn sie am Untergang des jeweiligen Nachbarn arbeiteten.

Daß Schultze-Rhonhof kein Historiker ist und ein im Vorwort auch ausdrücklich ausgesprochenes Mißtrauen gegen die Produkte besonders der deutschen Geschichtswissenschaft hegt, ist sowohl ein Vorteil wie ein Nachteil der Darstellung. Einerseits profitiert die Studie von der Unbefangenheit des Autors, andererseits hätte eine stärkere Auseinandersetzung mit der Fachliteratur ihren Wert steigern können. Der Autor begründet sein Mißtrauen ihr gegenüber mit dem Deutschlandvertrag, der die deutschen Historiker an die Lesart des Nürnberger Gerichtshofs binde, sie also über den Diensteid bis heute eigentlich dazu zwinge, die These von der deutschen Alleinschuld zu vertreten. Dies scheint dem Rezensenten eine gewagte Interpretation zu sein. Dennoch hat Schultze-Rhonhof ein Buch geschrieben, das einmal mehr die Ansicht bestätigt, Geschichte dürfe nicht nur den Fachhistorikern überlassen werden.

Fotos: General Edmund Ironside (links), Kommandeur der britischen Überseestreitkräfte, trifft am 19. Juli 1939 mit dem polnischen Außenminister Jozef Beck in Warschau zusammen: In der internationalen Politik kommt die Macht eben doch nur aus Gewehrläufen

Gerd Schultze-Rhonhof: 1939 - Der Krieg, der viele Väter hatte. Olzog Verlag, München 2003, gebunden, 570 Seiten, 34 Euro

 

Dr. Stefan Scheil ist Historiker und veröffentlichte 2003 bei Duncker&Humblot das Werk "Zwei plus Fünf", das sich ebenfalls mit neuesten Erkenntnissen über den Weg in den Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt (JF 29/03)


 
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