© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/03 29. August 2003

 
Kinder sind mehr als Rentenzahler
von Ulrich Beer

Erfreulich, wenn auch zögernd, hat sich die Einsicht verbreitet, daß Wohlstand und Wohlfahrt, Wellness und Welfare nicht alles sind - zumal ihre Grundlagen spürbar schwinden. Nach einer Umfrage des B.A.T. Freizeit-Forschungsinstituts in Hamburg werden Ehe und Kinder wieder wichtiger. Sport, Hobby und Urlaubsreisen rücken tiefer in der Werteskala. 56 Prozent der 14- bis 34jährigen sehen die Familie als etwas, für das es sich zu leben lohnt. Die Meinung "Man kann auch ohne Ehe, Kinder und Familie glücklich sein" befürworten nur noch 37 Prozent. 1994 waren es noch 46 Prozent.

Die Spaßgesellschaft könnte sich bereits überlebt haben - sicher nicht ganz freiwillig. Wirtschaftlich schwierige Zeiten gehen oft mit einer Besinnung auf innere Werte einher. Vielleicht keimt auch schon der Gedanke, daß eigene Nachkommen das sind, worauf man sich selbst im Alter und im pflegebedürftigen Zustand noch am ehesten verlassen kann. Das ist keine bloße "Berechnung", sondern entspricht den Grundtatsachen des menschlichen Lebens, auf denen jeder höhere Wert ruht.

Die Jugend ist unser wichtigstes Kapital. Doch trotz frommer Lippenbekenntnisse steht die Bildungspolitik nur selten im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit. Man hält das für "Kulturkram". Realistisch betrachtet sind aber Bildung und Ausbildung unsere wichtigsten "Rohstoffe". Hat unsere Erwachsenenwelt vergessen, daß Kinder nicht nur ihre demographische Ressource bilden, sondern daß sie - im Kleinen wie im Großen - ihren Lebensmut weitergeben? So ist die Bundesrepublik heute in Europa gesellschaftlich wohl am meisten verknöchert, und zugleich gibt es auch die wenigsten Geburten.

Kinder bringen Leben mit sich. Wenn Kinder auf der Bildfläche erscheinen, leuchten die Augen. Es gibt Trubel und Lärm, mitunter Streit und Geschrei, sicher aber Leuchten und Glanz. Der Lebensrhythmus wird dichter, intensiver, erfüllter. Je rückläufiger die Kinderzahlen in einer Gesellschaft sind, je mehr also der Erwachsene dominiert, um so langweiliger und nüchterner wird das Leben. Sachlich, zweckentsprechend, ordentlich und korrekt richten wir unsere Welt ein, und wenn sie "fertig" ist - was den Sinn von vollendet oder erledigt haben kann -, bemerken wir, daß etwas fehlt. Unserer gesamten Welt fehlt etwas: Es ist das Herzklopfen, das Wangenglühen, das Augenstrahlen, die sinnlich erlebte Sinnhaftigkeit und die Gewißheit, daß das Leben sich lohnt.

Wer durch unsere Wohnquartiere geht, gewinnt den Eindruck: Die Menschen werden früher alt; sie sind ernst, mürrisch und ohne Hoffnung. Ganz anders in Städten, in denen sich das Leben von Jungen und Alten gemeinsam auf der Straße abspielt und wo Kinder die Luft erfüllen mit dem Ausdruck ihrer Vitalität. Die Erwachsenen scheinen davon angesteckt zu werden, sie lachen häufiger, als es sonst Erwachsene tun. Forscher haben herausgefunden, daß Erwachsene im Durchschnitt 15mal am Tag lachen oder lächeln - Kinder tun dies im Durchschnitt 180mal.

Viel wird über den Verlust von Hoffnung, Sinn und Mut zur Zukunft gesprochen. Aber der Sinn des Lebens kehrt nicht über die Reflexion, über neue geistige Sinnbildung in die Welt zurück, sondern er springt uns aus dem Lachen des Kindes an. Das Kind verkörpert in sich auf ansteckende Weise Lebensmut, Freude und Zuversicht. Gäbe es mehr Kinder unter uns und mehr vom Kind in uns, so wäre das Sinnproblem der Welt auf eine leichte, ja unmerkliche, aber dennoch wirksame Weise gelöst. So aber nimmt die Zahl der Depressionen zu. Gleichmut und Resignation, Verdrossenheit und unterschwellige Aggressivität überschatten den Alltag und machen aus ihm das bekannte graue Einerlei, bei dem sich Anfang und Ende nicht unterscheiden, sich keine leuchtenden Ziele mehr konstruieren und die Zukunft nicht mehr die Lebensdimension ist, in die hineinzuwachsen sich lohnt.

Kindsein heißt Spontaneität und Unberechenbarkeit, Kreativität und Erneuerung, ja Umsturz und Neuanfang. Dies sind Risikofaktoren, denen gegenüber jede nach Perfektion strebende gesellschaftliche Organisation sich konträr verhält, sie nach Möglichkeit einzugrenzen und aufzuheben versucht. Darum ist für Kinder so wenig Platz. Unsere Lebenspläne im Großen und im Kleinen lassen sie nicht zu.

Dennoch - wir kennen Menschen, von denen wir sagen: "Er ist ein Kind geblieben." Menschen, die sich aus kleinem Anlaß freuen können, die gern mit anderen in Berührung kommen, auch einmal etwas Ungewöhnliches oder Überraschendes tun, die Neugier und Unternehmungsgeist behalten haben, Antrieb, Hoffnung und Spaß. Ein Kind hat es an sich, daß es das Leben noch positiv sieht, noch nicht enttäuscht, resigniert und verbittert ist, daß es rasch hintereinander auf die Erde fallen und wieder aufstehen kann, schnell vergißt und schnell neue Vorsätze faßt. Die Lebensrhythmen verlaufen frischer, die Reaktionen schneller, die Wahrnehmungen bleiben unbefangener.

Wenn der Druck der Verhältnisse übermächtig zu werden droht, reagiert das Kind in uns mit Protest und Weigerung. Es läßt sich nicht versklaven. Das Kind in uns ist Künstler und Revolutionär zugleich: Es produziert dauernd neue Einfälle und wagt sie kreativ und experimentell zu verwirklichen. Es ist auch bereit zum ständigen Protest gegen Unterdrückung, Verplanung, Streß und Überforderung. Es kämpft um die Lebenslust und ist damit ein wichtiger Bundesgenosse des Menschen im Kampf ums Überleben überhaupt.

Diese Seiten des Kindes betont auch Erich Berne, der Begründer der Transaktionsanalyse. Er unterscheidet drei nahezu autonome Personen in uns; das Eltern-Ich, das Erwachsenen-Ich und das Kindheits-Ich. Das Eltern-Ich vereinigt alle die Normen und Erziehungsgrundsätze, die wir in unserem Leben, vor allem an seinem Beginn, aufgenommen haben. Das Erwachsenen-Ich bestimmt die sachliche Beziehung zu unserer Umwelt, und das Kindheits-Ich liefert die vitale Energie dazu, und zwar in der Form des kreativen wie des aufsässigen Kindes.

Hier fällt eine gewisse Ähnlichkeit zur Drei-Instanzen-Theorie von Sigmund Freud auf mit ihrer Grundschicht des Es, was sowohl eine gleichsam kopflose Unpersönlichkeit der Triebschicht als aber auch das Kind meinen kann, von dem wir unpersönlich in der dritten Person als "es" reden. Das unbewußte Es ist unsere psychische Energiereserve. Von da kommen die spontanen Einfälle, die traumhaften Eingebungen, aber auch die neurotischen Hemmungen und Blockaden. Hier ruhen unsere frühen Erinnerungen - der Eisberg unter Wasser, den man nicht sieht und von dem nur die Spitze des Ich hervorschaut.

In der Tat hat das Kind in uns nicht nur positive Seiten. Es lebt auch als Trotzkind weiter und meldet sich in Krisenzeiten in der Form der Regression, des Rückschritts in längst überwunden gemeinte Verhaltensformen. Wenn wir als Erwachsene in psychischen Streß und in soziales Gedränge kommen, fallen die später erlernten, noch so gut eingespielten Verhaltensmuster der Höflichkeit, Korrektheit, Zurückhaltung fort. Wir geraten aus der Fassung und reagieren wie Kinder. Mit jeder Angst tauchen Kinderängste wieder auf, mit jeder Herausforderung der in der Trotzphase erprobte Protest: Auch als Erwachsene können wir schreien und weinen, uns die Haare raufen, uns auf den Boden werfen, uns krümmen und übergeben, affektiv und unangemessen reagieren, beleidigen und zerstören.

Auch das zeugt vom Kind in uns, was wir unter der Bezeichnung "infantile Reaktion" zusammenfassen, und was ungleich gefährdender für das Zusammenleben sein kann, aber vielleicht als seelisches Druckventil und zur Herbeiführung des inneren Gleichgewichts nötig ist. Menschen, die immer nur schlucken und die Form bewahren, sind - wie wir heute wissen - krankheits- und vor allem wohl auch krebsgefährdeter als andere. Möglicherweise schützt uns hier das Kind auch vor uns selbst und vor dem frühzeitigen Erstarren und Erstreben in einem langweiligen Erwachsensein.

Das Kind in uns ist die Wurzel alles Künftigen, die Basis für das Leben, das darauf aufbaut. Kindheit ist die wichtigste Phase der menschlichen Entwicklung überhaupt. Und - vergessen wir das nicht - für die meisten die schönste, verklärteste, begehrenswerteste des Lebens, der sie nachtrauern und um die sie nachwachsende Generationen beneiden.

Was macht die Faszination der Kindheit aus? Nur die vermeintliche Unschuld und Schönheit, die Sorglosigkeit und Verspieltheit, das Glück der Tage, die ungemessen und endlos zu sein scheinen? Ich meine, dies reicht nicht aus, den Zauber zu erklären, den wir mit der Kindheit - der eigenen, aber auch der fremden - zu verbinden pflegen. Kind- sein enthält mehr: kühne Träume und unerfüllte Wünsche, abenteuerliche Entdeckungen, großen Jubel über kleine Dinge, verrückte Einfälle, wilde Streiche, lähmende Ängste vor dem Ertapptwerden - nie wieder klopft das Herz so hoch, schallt der Jubel so laut, bricht sich der Schmerz so hemmungslos Bahn in Geschrei und Tränen. Kindsein heißt intensiv und kreativ, heißt original und emotional, heißt existenziell und essentiell leben, so also, wie der Mensch eigentlich leben sollte: "So ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Reich Gottes kommen", heißt das Bekenntnis des großen Kinderfreundes, der selbst als Zwölfjähriger im Tempel die Schriftgelehrten mit seiner Kinderweisheit erschreckte.

Insofern ist das Kind gleichsam die geniale Instanz in uns. Und nicht zufällig ist auch immer wieder auf die Verwandtschaft von Kindsein und Genie hingewiesen worden - zum Beispiel von Arthur Schopenhauer:

"Worauf nun die Ähnlichkeit des Kindesalters mit dem Genie beruhe, brauche ich kaum noch auszusprechen. Im Überschuß der Erkenntniskräfte über die Bedürfnisse des Willens, und im daraus entspringenden Vorwalten der bloß erkennenden Tätigkeit. Wirklich ist jedes Kind gewissermaßen ein Genie, und jedes Genie gewissermaßen ein Kind. Die Verwandtschaft beider zeigt sich zunächst in der Naivität und erhabenen Einfalt, welche ein Grundzug des echten Genies ist.

Jedes Genie ist schon darum ein großes Kind, weil es in die Welt hineinschaut als in ein Fremdes, ein Schauspiel, daher mit rein objektiven Interesse. Demgemäß hat es, so wenig wie das Kind, jene trockene Ernsthaftigkeit der Gewöhnlichen, als welche, keines anderen als des subjektiven Interesses fähig, in Dingen immer bloß Motive für ihr Tun zu sehen. Wer nicht zeitlebens gewissermaßen ein großes Kind bleibt, sondern ein ernsthafter, nüchterner, durchweg gesetzter und vernünftiger Mann wird, kann ein sehr nützlicher und tüchtiger Bürger dieser Welt sein, nur nimmermehr ein Genie."

Auch von Mozart wie von Goethe hat es übrigens immer wieder geheißen, sie seien lebenslang Kinder geblieben. Und um einen letzten Satz aus einem kaum bekannten Brief zu zitieren, gebe ich dem Fürsten Pückler das Wort, der an seinen todgeweihte Freund Heinrich Heine in dessen Pariser "Matratzengruft" schrieb: "Wissen Sie, worin unsere Ähnlichkeit bei so großer Verschiedenheit des Genies besteht? Darin, daß wir beide hundert Jahre alt werden können, und dennoch immer Kinder bleiben werden. Diese ewige Kindheit ist eine Größe, und vielleicht die beste Garantie für eine Zukunft nach dem Leben. Wir müssen woanders fertig werden, denn hier auf diesem Planeten verstehen wir nicht unsere Sachen zu führen im Interesse des Tages und des Marktes."

Sicher müssen wir erwachsen werden, weil sonst geregelte Kommunikation, Vertragsfähigkeit, Stetigkeit und Sachlichkeit unmöglich wären. Aber unsere Erwachsenheit kippt irgendwann ins Unmenschliche und Unerträgliche um und schreit nach Wiederentdeckung des Wilden, Ursprünglichen und Kindlichen. An diesem Punkt der Zivilisation scheinen wir zu stehen, und darum lohnt es sich darüber nachzudenken, welche Quellen des Lebens in uns selbst liegen und was das Kind in uns vermag: Lebensaussichten im Sinne einer hoffnungsvollen Zukunft für uns zu erneuern.

Die Konsequenzen könnten vielfältig und sie sollten hier nur angedeutet werden: Kinder wichtiger nehmen und ihnen mehr Raum geben, ihre Welt vor uns schützen, denn ihre Welt wird die Welt von morgen sein. Weiter: unsere Kindheit bewahren, die Orte, die Menschen, die Spiele, die Freuden und den Austausch pflegen, die aus unserer Kindheit stammen und uns einst zu beglücken vermochten. Sie bilden die größte Lebensreserve, die uns durch alle späteren Belastungen hindurchträgt. Darum ist es so wichtig, daß wir eine gute, sorglose und schöne Kindheit haben, daß wir geliebt und angenommen werden. Und schließlich, daß wir uns als Erwachsene nicht zu gut sind, dem Kind in uns Raum zu geben. Daß es den Panzer der Konventionen und des Erlernten durchbrechen und sich spontan und frei äußern darf, Lust und Neugier zeigen darf, Experimentierfreude, Vertrauen, Liebe und vor allem Hoffnung, daß das Leben weitergeht und daß es gut wird - ein Elixier, das wir heute wahrscheinlich nötiger brauchen als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Nicht umsonst knüpft sich seit zwei Jahrtausenden dieses Hoffnung an ein Kind, an das Kind in der Krippe, das unserer ausgewachsenen, auswüchsigen Welt das Heil bringen soll.

 

Prof. Dr. Ulrich Beer, Jahrgang 1932, ist Psychologe und Psychotherapeut. Einem breiten Publikum bekannt wurde er als sachverständiger Berater der langjährigen Fernsehsendung "Ehen vor Gericht". Gerade ist von ihm im Echter Verlag das Buch "Lebenslust und Lebenssinn. Ein neues ABC" erschienen.


 
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