© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/03 05. September 2003

 
"Das Urteil ist inakzeptabel"

Hakki Keskin über den deutschen Umgang mit dem "Kalifen von Köln" und die Gefahren des Islamismus
Manuel Ochsenreiter

Herr Professor Keskin, Metin Kaplan wird nicht in die Türkei abgeschoben, sondern bis auf weiteres in Deutschland geduldet. Begründet wird dies mit einem vermeintlich unfairen Prozeß gegen Kaplan in der Türkei. Wie wird diese Entscheidung von den in Deutschland lebenden Türken wahrgenommen?

Keskin: Der allergrößte Teil der hier lebenden Türken findet diese Entscheidung inakzeptabel. Zuerst hieß es, Kaplan dürfe nicht abgeschoben werden, da ihm dort die Todesstrafe drohe - diese wurde bereits vor einiger Zeit abgeschafft. Dann hieß es, es bestehe die Gefahr, daß Kaplan in der Türkei gefoltert werde - daraufhin hat der türkische Innenminister seinem deutschen Amtskollegen zugesichert, daß dies nicht der Fall sein wird. Nun wird gesagt, daß die Zeugen ihre Aussagen im Prozeß unter Folter machen würden. Ich weiß nicht, was das ganze eigentlich soll. In der Türkei wurden gerade in den letzten Jahren und insbesondere auch in diesem Jahr eine Reihe EU-Anpassungsgesetze verabschiedet. Diese Gesetzespakete erfüllen die sogenannten Kopenhagener Kriterien. Sowohl die alte als auch die neue Regierung haben ganz klare Richtlinien an die Justiz- und Innenbehörden gegeben, daß es keinen Gesetzesmißbrauch gegen die Inhaftierten geben darf. Ebenso ist klar, daß solche Verstöße strafrechtlich verfolgt werden, sollten sie geschehen.

Im Raum steht der Vorwurf der Folter- und Willkürjustiz, vor der Moslemextremist Kaplan geschützt werden müsse. Ist dies nicht ein Affront gegenüber dem türkischen Staat?

Keskin: Ich denke, das ist eine Überschätzung der eigenen Position, wenn einige Richter in Köln zusammensitzen und über die Rechtstaatlichkeit und Verfassungsmäßigkeit der Türkei entscheiden. Diese sind ganz offensichtlich nicht auf dem aktuellen Stand. Sie wissen nicht, wie es in der Türkei heute eigentlich aussieht. Ich habe auch das Gefühl, daß die Richter mit einem solchen Urteil und dessen Begründung die Türkei von einem EU-Beitritt fernhalten wollen, indem sie sagen, es gebe dort immer noch systematische Menschenrechtsverletzungen.

Selbst der Grünen-Politiker Volker Beck, der einen EU-Beitritt ausdrücklich wünscht, ermahnte die Türkei, sie solle die menschenrechtlichen Vorraussetzungen für eine Abschiebung Kaplans schaffen.

Keskin: Ich weiß nicht, was er damit meint. Die betreffenden Gesetze wurden bereits verabschiedet. Auch deren Umsetzung soll rasch vorangehen. Sicherlich gab es in der Vergangenheit Menschenrechtsverletzungen, die auch weiterhin vorkommen könnten. Die Regierung kündigt jedoch an, gegen diese hart vorgehen zu wollen. Man hat diesbezüglich auch die strafrechtliche Situation verschärft.

Sind deutsche Politiker, Richter oder Medien Ihrer Erfahrung nach überhaupt kompetent genug, die Situation in der Türkei einzuschätzen?

Keskin: Die Welt ist natürlich kleiner geworden. Wir wissen inzwischen, wo was passiert. Allerdings habe ich den Eindruck, daß in Deutschland nicht ausführlich und objektiv genug über die Situation in der Türkei berichtet wird. Mir ist beispielsweise nicht bekannt, inwiefern überhaupt hier über die bereits erwähnten EU-Angleichungspakete ausgiebig berichtet wurde. Daher habe ich auch meine Zweifel, daß die deutschen Politiker die Situation in der Türkei objektiv beurteilen können. Wenn es heißt, es läge jetzt an der Türkei, die Situation so zu ändern, daß Herr Kaplan abgeschoben werden kann, dann finde ich eine solche Aussage nicht in Ordnung. So etwas kann nur einer totalen Unkenntnis der letzten Entwicklungen in der Türkei entspringen.

Was würde Metin Kaplan nach jetzigem Stand der Dinge in der Türkei erwarten?

Keskin: Ein Prozeß. Der türkische Geheimdienst berichtete vor einigen Jahren, daß Metin Kaplan und seine Anhänger ein spektakuläres Attentat auf die gesamte türkische Staatsführung am Atatürk-Mausoleum geplant haben sollen. Wenn man an solche Szenarien denkt, muß man sagen: Dieser Mann ist offensichtlich zu allem fähig. In meinen Augen ist er ein Psychopath, der sich selbst zum Kalifen erhebt und den Islam in seinem Sinne völlig eigenwillig interpretiert. Darüber hinaus bezieht er terroristische Aktivitäten in diese Haltung mit ein. Gegen diesen Mann muß man mit allen rechtsstaatlichen Mitteln vorgehen.

Müßte sich die Tatsache, daß eine islamistische Partei momentan in der Türkei die Regierung stellt, nicht eher günstig für Metin Kaplan auswirken?

Keskin: Sie haben recht. In der Türkei ist eine islamisch orientierte Partei an der Regierung. Die Erwartung, die Türkei würde gegen religiöse fundamentalistische Kräfte besonders massiv vorgehen, wäre daher völlig falsch. Aber man muß auch folgendes bemerken: Die in Deutschland verbreitete Vorstellung, die türkische Regierung kontrolliere die dortigen Gerichte, ist absurd. Das kann ich Ihnen allein schon an meinem persönlichen Beispiel belegen. Ich wurde Anfang der siebziger Jahre zweimal in der Türkei durch die Regierungen aus politischen Gründen ausgebürgert, und ich habe vor dem höchsten Verwaltungsgericht gegen meine Ausbürgerung geklagt und recht bekommen. Ich habe den Prozeß gegen die damalige Regierung gewonnen. Sehr oft entscheiden die Gerichte gegen die türkische Regierung. Das sind ganz normale rechtsstaatliche Vorgänge. In Deutschland wird oft so getan, als kenne man keine Gewaltenteilung in der Türkei. Man ist hier oftmals über die rechtliche Situation in der Türkei nicht sachlich informiert ...

... aber ist das Klima dort nicht momentan freundlicher für Kaplan als unter einer streng laizistischen Regierung?

Keskin: Der allergrößte Teil der Türken möchte mit Kaplan und dessen Ansichten nichts zu tun haben. Man zählt diese Leute zu den Spinnern und Wahnsinnigen. Allerdings nimmt man in der Türkei sehr ernst, daß sie mit Terror und Gewalt sehr viele Probleme verursachen könnten. Selbst in Erdogans regierender islamisch orientierten Partei gibt es keinerlei Sympathien für die Kaplan-Gruppe. Kaplan und seine Anhänger sind ultra-extreme und fanatische Leute, die den Boden unter ihren Füßen verloren haben. Aus diesem Grund werden diese von der türkischen Bevölkerung in keiner Weise ernst genommen.

Was bedeutet die Entscheidung des Kölner Verwaltungsgerichts für den Integrationsprozeß der in Deutschland lebenden Türken?

Keskin: Das ist eine ganz wichtige Frage. Ich möchte ganz offen sprechen. Ich habe den Eindruck, manchen ist Kaplan in Deutschland willkommen.

Wie meinen Sie das genau?

Keskin: Man zeigt auf Kaplan und sagt: "So ist der Islam. Deshalb können und wollen diese Leute sich nicht integrieren, denn sie sind - wie man an Kaplan sieht - weder integrationswillig noch integrationsfähig." Extremisten wie Kaplan vergrößern die Ängste und verschärfen die bereits vorhandenen Vorurteile insbesondere vor den Türken in Deutschland. Dies schadet den Türken, den übrigen Muslimen und ist ein schlechtes Klima für die Integration der hier lebenden Türken.

Wer hat ein Interesse daran, die Integration zu behindern?

Keskin: Das fragen Sie mich bitte nicht. Es gibt offensichtlich solche Kräfte - egal, ob sie dies bewußt oder unbewußt anrichten. Fakt ist: Dieser Mann vermittelt ein schlechtes Bild der Türken, und obwohl man alle Mittel hätte, ihn loszuwerden, kann er sich weiter in Deutschland betätigen. Das ist doch merkwürdig, was soll das?

Wie werten Sie die vielen Versuche des christlich-islamischen Dialogs in Deutschland, der nicht selten auch islamistisch dominierte Vereinigungen einschließt?

Keskin: Auch das ist meiner Ansicht nach mehr als merkwürdig. Die Türkei ist das einzige mehrheitlich islamische Land, das seit nunmehr über siebzig Jahren verfassungsmäßig laizistisch ist. Die Trennung von Staat und Religion gehört zu den Säulen der modernen Türkei. Wir haben weltweit, glaube ich, 54 Staaten mit islamischer Bevölkerungsmehrheit, das sind etwa 1,3 Milliarden Menschen. Die Türkei könnte für diese Länder ein Modell sein, wie westliche Wertemaßstäbe, Demokratie und Rechtsstaat mit dem Islam zu vereinbaren sind. Gerade die Fundamentalisten bestreiten, daß dies möglich ist. Sie behaupten, die Religion müßte über allen staatlichen und öffentlichen Belangen stehen. Die Staatsform müßte nach den Kriterien der Religion umgeformt werden. Die Kirchen und anderen dialogführenden Organisationen müßten doch gerade wegen der positiven Erfahrung in der laizistischen Türkei mit dieser Orientierung kooperieren und nicht mit Kräften, die das türkische Erfolgsmodell am liebsten sofort beseitigen würden. Doch oft findet genau das Gegenteil statt, man arbeitet mit Kräften zusammen, die sich gegen den Laizismus und die Rechtsstaatlichkeit richten. Ich finde das höchst fragwürdig und gefährlich.

Ist hierbei seitens der Kirchen in der Wahl der Dialogpartner "gut gemeint" das Gegenteil von "gut"?

Keskin: Ich weiß nicht, ob das gut gemeint ist... Denn gerade die Kirchen müßten eigentlich wissen, was wirklich los ist. Über neunzig Prozent der türkischen Bevölkerung will mit diesen Fundamentalisten nichts zu tun haben. Neunzig Prozent, reicht das nicht aus?

... und die anderen immerhin fast zehn Prozent?

Keskin: Wir müssen sehen, daß die marginalen islamistisch-fundamentalistischen Gruppen sehr gut und straff organisiert sind und sich sehr lautstark artikulieren. Dies können sie, da sie über riesige finanzielle Ressourcen verfügen.

Woher kommen diese Finanzmittel?

Keskin: Ihre Moscheen sind zugleich Einkaufs- und Geschäftszentren. Sie verfügen über ein eigenes funktionierendes Netzwerk. Daraus ziehen sie riesige Gewinne. Sie sammeln Spenden in Millionenhöhe. Durch diese Macht und Präsenz treten solche Gruppen einfach intensiver in Erscheinung als die übergroße Mehrheit der türkischen Muslime in Deutschland.

Halten Sie einen konstruktiven Dialog mit fundamentalistischen Organisationen überhaupt für möglich?

Keskin: Es gibt auch in diesen Kreisen durchaus sehr vernünftige Leute. Aber letztendlich entscheidet die Organisation, welche Meinung oder Ansicht sie zu vertreten haben. Wichtig ist: Sobald sie für einen anderen Staat oder eine andere Staatsform als den demokratischen und sozialen Rechtsstaat eintreten, dann muß man sehr vorsichtig sein. Wir haben selbst viele Jahre mit Milli Görüs in der Landesorganisation in Hamburg zusammengearbeitet - auch in der Hoffnung, daß sie sich dadurch besser in den Rechtsstaat integrieren. Wenn ich heute sehe, daß Milli Görüs vom Verfassungsschutz als extremistisch eingeschätzt wird, dann möchte ich, daß sie sich zuerst von diesem Vorwurf der Verfassungsuntreue befreien. Für uns ist klar: Die Religion ist Privatsache und darf nicht mit politischen und ökonomischen Anliegen vermengt werden. Wer dies tut, ist für uns kein Partner. Davor warne ich auch meine deutschen Freunde. Sie sollten tatsächlich darauf achten, mit wem sie Dialoge führen und kooperieren.

Wie bewerten Sie die Diskussion um die bald anstehende Entscheidung im Kopftuch-Streit? Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe will Ende September das Urteil verkünden.

Keskin: In dieser Frage ist es für mich schwer, eine eindeutige Position zu beziehen. Einerseits bin ich Demokrat genug, um zu sagen, wenn jemand aus eigener religiöser Überzeugung ein Kopftuch tragen möchte, dann sollte die Person diese Möglichkeit haben. Andererseits aber, wenn das Kopftuch als Symbol für die Propagierung einer bestimmten politisch-religiösen Orientierung getragen wird, dann habe ich damit Probleme. Die Frage ist, wie man so etwas unterscheiden kann. Das ist in der Tat sehr schwierig. Einerseits gibt es gewiß Leute, die das Kopftuch aus persönlicher Überzeugung tragen, aber es gibt viele, die es mit einer politischen Zielsetzung tragen. Diese Kopftuchdebatte ist auch eine unendliche Geschichte in der Türkei. Das kennen wir von früher überhaupt nicht. Ich selbst habe noch vor über vierzig Jahren in der östlichen Türkei Abitur gemacht. Wir waren eine gemischte Klasse aus Mädchen und Jungen, vom Kopftuch war damals überhaupt nicht die Rede. Die Partei von Erbakan machte dieses Thema zu ihrem Programm. Diese Debatte war stark beeinflußt von der sogenannten "islamischen Revolution". Erst dann wurde das Kopftuch zum Politikum in der Türkei. Es geht den Islamisten nicht um das Kopftuch, sondern darum, den Staat in einen islamistischen Staat umzumodellieren.

Sehen Sie im aktuellen Kopftuchprozeß der Lehrerin Fereshta Ludin eine politische Motivation? Wird das Kopftuch so zum politischen Machtsymbol?

Keskin: Dahinter steckt eine ganz massive politische Orientierung, keine Frage. Wenn der Prozeß zugunsten von Frau Ludin entschieden wird, dann wird man auch in der Türkei das Urteil als Beispiel präsentieren. Das Verfassungsgericht der Türkei hat bereits mehrmals entschieden, daß das Kopftuch in Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen nicht getragen werden darf. Wenn in Deutschland vom obersten Verfassungsgericht eine gegenteilige Entscheidung käme, dann würde das als Argument auch in der Türkei benutzt werden. Glaubhafte Quellen berichten über Gelder, die an Studentinnen in der Türkei gezahlt wurden, damit diese das Kopftuch wieder tragen - sozusagen zur Animierung anderer Studentinnen.

Wird die laizistische Verfassung der Türkei durch deutsche Gerichtsentscheidungen untergraben oder gar angegriffen?

Keskin: Sicher ist: Die Islamisten werden eine solche Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht propagandistisch in der Türkei verwenden.

Wo sehen Sie in Zukunft die Hauptgefahren für die Integration?

Keskin: Gefahren an sich sehe ich keine. Aber gerade die fundamentalistischen Kräfte sind nicht ungefährlich. Denn sie erschweren das Zusammenleben in diesem Lande erheblich. Es kommt schnell zu Verallgemeinerungen. Leider versuchen einige wenige lautstarke Extremisten, das Bild von Deutschland-Türken negativ erscheinen zu lassen.

 

Prof. Dr. Hakki Keskin ist Vorsitzender der 1995 gegründeten Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD). Diese versteht sich als Interessenvertretung der 2,3 Millionen in Deutschland lebenden Türken und repräsentiert als Dachverband über 200 Einzelvereine. Keskin wurde 1943 in der Türkei geboren, studierte und promovierte in Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Von 1979 bis 1980 war er Berater im Planungsstab des türkischen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit. Seit 1982 ist er Hochschullehrer für Politikwissenschaften und Migrationspolitik an der Fachhochschule Hamburg. Von 1993 bis 1997 saß er als SPD-Abgeordneter in der Hamburger Bürgerschaft.

 

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