© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/03 05. September 2003

 
Arbeit als moderner Fetisch
von Claus M. Wolfschlag

Einmal mußte es kommen. Eine Gesellschaft, deren Bedürfnisse überwiegend ökonomisch sind, gerät zwangsläufig in die Sinnkrisen, wenn der Dukatenesel nicht mehr spuckt. Eine Krise kann auch ihr Gutes haben - wenn sie zu einem gründlichen Umdenken führt. Danach sieht es derzeit aber nicht aus.

"Her mit mehr Kindern! Her mit mehr Arbeit!" An diesen Forderungen will keiner zweifeln. Aber wäre es nicht denkbar, daß weniger Kinder und weniger Arbeit zu mehr Lebensqualität führen könnten? Zwar kennen wir alle die schädlichen ökologischen und kulturellen Folgen des enormen Wachstums der Weltbevölkerung - wovon die Zuwanderung in wesliche Industrieländer nur eine Folge ist -, gleichzeitig aber werden pauschal mehr Kinder gefordert. Nach Angaben der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW) ist bis 2050 mit einem Anstieg von gegenwärtig 6,2 Milliarden auf 9,1 Milliarden Menschen zu rechnen.

Sicherlich ist die Geburtenzahl der Deutschen wie in weiten Teilen der westlichen Welt, rückläufig. Dies allein wäre aber nicht unbedingt zu bedauern. Die Bundesrepublik ist ein sehr dicht besiedeltes Land (doppelte Bevölkerungsdichte Frankreichs !) mit zahlreichen Ballungsräumen, so daß eine "Gesundschrumpfung" der Bevölkerung auch als ökologische Entlastung und Hebung der Lebensqualität empfunden werden könnte.

Problematisch ist ein Bevölkerungsrückgang eigentlich nur deshalb, weil durch wahnwitzige politische Konzepte von Rot-Grün bis zur FDP das angebliche deutsche "Bevölkerungsdefizit" mittels forcierter Einwanderung "ausgeglichen" werden soll. Die damit einhergehenden demographischen Veränderungen bergen in der Tat ein enormes ethnisches und soziales Konfliktpotential. Und so hat die Gegenforderung nach mehr deutschen Kindern bisweilen schon den Beigeschmack eines demographischen Wettrennens, bei der die Zuwanderer im Vorteil sind. Die Babys von heute besitzen demnach für beide Seiten beinahe den Charakter zukünftiger Bürgerkriegs- und Drohpotentiale in den vielfach erwarteten sozialen Verteilungskämpfen kommender Jahrzehnte. Die geforderte Auffüllung des "Bevölkerungsdefizits" erfolgt sicher nicht nur aus Kinder- oder "Fernstenliebe".

Konservative sollten sich nicht vereinnahmen lassen von denen, die nun plötzlich nach Kindern rufen, weil ihnen die Beitragszahler ausgehen. Was offenbart es überhaupt für eine Einstellung, die Stellung der Familie im Staat von rein ökonomischen Erwägungen abhängig zu machen?

Wer behauptet, daß es ohne Bevölkerungswachstum nicht ginge, setzt bereits voraus, daß der allgemeine Wohlstand nicht sinken darf. Mit entsprechenden Einschränkungen bei allen, die mehr als das Lebensnotwendige haben, wäre nämlich die "Rentnerlast" durchaus tragbar. Handelt es sich doch um eine vorübergehende Schwierigkeit, die von selbst verschwindet, sobald Geburten und Todesfälle wieder im ausgeglichenen Verhältnis miteinander stehen. Nur um diese Frist zu überbrücken, ohne von allen Opfer verlangen zu müssen, wird heute einer Zuwanderung das Wort geredet, die auch höchstens vorübergehend helfen kann. Denn irgendwann haben auch die Türkinnen ihre Freiheit entdeckt und verweigern die Nur-Mutter-Rolle. Dann steht uns ein neuerliche Überalterung der Gesellschaft bevor, die diesmal insbesondere die Einwanderer betrifft.

Erst dann erhalten Defizite in den Sozialkassen ihre fatale Bedeutung, wenn wie selbstverständlich Lebensqualität gleichgesetzt wird mit bleibendem oder steigendem Wohlstand und individueller Selbstverwirklichung. Es mag paradox klingen, aber erst wenn unsere Einstellung sich so wandelt, daß die Höhe des Gehalts oder der Rente - oberhalb eines existenzsichernden Minimums - nicht mehr lebensentscheidend ist, kann auch die Freude an Kindern wie an vielem anderen wieder gedeihen, das jenseits von Heller und Pfennig liegt.

Das zwanghafte Hochpuschen der Bevölkerungszahl in einem Land, das ganz offensichtlich total überbevölkert ist, führt hingegen zu immer mehr Aggressionen und immer mehr Egoismus. Anstatt selbst zu einer ausgewogeneren Kultur zurückzufinden, ziehen wir Zuwanderer mit billigen Versprechungen in unsere Maschinerie hinein und benutzen sie als "Menschenmaterial" für einen neu angefachten Wachstumsprozeß. Kein Wunder, daß es hier zunehmend zu gewaltsamen Konflikten kommt.

Auch ohne Bevölkerungswachstum wird weder die Menschheit noch das deutsche Volk in absehbarer Zeit aussterben. Es ist in der menschlichen Natur angelegt, Kinder zu lieben und zu gebären. Und das wird auch weiterhin der Fall sein, allen zeitweiligen "Pillenknicks" zum Trotz. Niemand sollte davon abgehalten werden, wenn er sich dafür entscheidet, sechs oder acht Kinder in die Welt zu setzen, sofern dies aus aufrichtiger Liebe zu den Kindern geschieht. Andererseits wird man junge Paare auch durch noch so viele gut gemeinte Aufrufe nicht zwingen können, Kinder zu bekommen, wenn sie es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möchten.

Die ganze bevölkerungspolitische Auseinandersetzung dreht sich letztlich nur darum, ein fehlerhaftes Wirtschafts- und Sozialsystem via "Wachstum" am Leben zu erhalten, um sich um einschneidende Reformen drücken zu können. Kinder sollen her, seien es deutsche oder ausländische. Nicht weil Politiker oder Verbände plötzlich kinderlieb geworden sind, sondern aus reinem Eigennutz. Diese Kinder sollen Geld verdienen und in die Kasse einzahlen. Dazu sollen sie betonieren, roden, produzieren, konsumieren.

Damit sind wir beim Kern des Problems angelangt, den die Gruppe um den undogmatischen Marxisten Robert Kurz "Wahn der Arbeit" nennt. Im "Manifest gegen die Arbeit" formuliert sie ihre Ansätze: "Alle Weltmächte scheinen sich zur Verteidigung der Herrschaft der Arbeit verbündet zu haben. Gewerkschaften und Unternehmer, Kirchenführer und Banker, Sozialdemokraten und Rechtspopulisten fordern allentags mehr Arbeit. Der letzte Bundestagswahlkampf war beherrscht von derartigen Wahlkampfparolen."

Doch Kurz nennt es ein "alptraumhafte Vorstellung", wenn "vier Millionen Arbeitslose in Zukunft, statt zu Hause gemütlich die Beine hochzulegen, nun 'Beschäftigung' erhalten, um noch mehr Wälder abzuholzen, noch mehr Straßen zu asphaltieren, noch mehr Automobile zu produzieren und Abgase in die Luft blasen, um die 'Jobmaschine' im Zuge einer verqueren Wachstumsideologie am Laufen zu halten.

Die letzten Hindernisse für die totale Kommerzialisierung aller sozialen Beziehungen dürfen kritiklos hinweggeräumt werden, wenn ein paar elende 'Arbeitsplätze' in Aussicht stehen. Der Satz, es sei besser, 'irgendeine' Arbeit zu haben als keine, ist zum öffentlichen Glaubensbekenntnis geworden." Daß diese Kritik heute von Marxisten kommen muß, die ja selbst die Arbeit zur Hauptkennzeichen des Menschen erklärt hatten, zeigt die ganze ideologische Verwirrung.

Das Phänomen Arbeit darf eben nicht mit menschlichem Tun schlechthin, der kulturellen Umformung von Natur gleichgesetzt werden. Häuser bauen, Kleidung und Nahrung herstellen, Heilkunst üben, Kunst schaffen, Bücher schreiben, musizieren usw. gehören zum ewigen Schatz menschlicher Tätigkeiten. Heute aber wird einem Abstraktum von "Arbeit"" nachgelaufen, das zum Selbstzweck ohne höheren Sinn geworden ist. Somit bestimmen oft weder der praktische Nutzen noch die gesellschaftlichen oder ökologischen Folgen den Wert der Produktion, sondern allein ihre Vermarktung. "Ob Häuser gebaut oder Tretminen hergestellt, Bücher gedruckt oder Gen-Tomaten gezüchtet werden, ob darüber Menschen erkranken, ob die Luft vergiftet wird oder 'nur' der gute Geschmack unter die Räder kommt - all das ist nicht von Belang, solange sich nur, auf welche Weise auch immer, die Ware in Geld und das Geld in neue Arbeit verwandeln läßt."

Die politische Linke war von jeher eine gnadenlose Vertreterin des Arbeitsprinzips. Ihr ging es nicht um eine grundsätzliche Veränderung des Arbeitsprozesses, sondern allein um die materielle Umverteilung des durch die Arbeit entstehenden "Mehrwerts" zugunsten der unteren Sozialschichten. Diese auf Industrialisierung, Wachstum und Arbeit ausgerichtete Ideologie stand im Gegensatz zu tendenziell arbeitskritischen Strömungen im Bereich des ökologisch orientierten Wertkonservatismus. Die Umweltverschmutzung und Bodenverseuchung in den ehemaligen Ostblock-Staaten zeigte denn auch die desaströsen Auswirkungen dieser Politik.

Die Kritik des Arbeitsprinzips ist deshalb keinesfalls ein Monopol der Linken. Im Gegenteil, die "Arbeiterparteien" traten das Erbe von Protestantismus und bürgerlicher Aufklärung an. Aus dem Elend der Arbeit wurde der Arbeitsstolz des selbstbewußt gewordenen Proletariers. Fortan war nur noch zwischen unterschiedlichen Organisations- und Besitzformen der Arbeitsgesellschaft zu wählen, eine grundsätzliche Alternative wurde aber vom Industrialisierungs-Fanatismus der Kommunisten nie in Betracht gezogen.

Im liberalen Westen sieht es mit der modernen Selbstversklavung kaum anders aus, denn hier fungieren die Führungseliten keineswegs nur als "Ausbeuter", sondern zugleich auch als gestreßte Prototypen des Arbeitssystems: "Keine herrschende Klasse in der Geschichte hat jemals ein derart unfreies und erbärmliches Leben geführt wie die gehetzten Manager von Microsoft, Daimler-Chrysler oder Sony. Jeder mittelalterliche Gutsherr hätte diese Leute abgrundtief verachtet. Denn während er sich der Muße hingeben und seinen Reichtum mehr oder weniger orgiastisch verprassen konnte, dürfen sich die Eliten der Arbeitsgesellschaft selber keine Pause gönnen. Außerhalb der Tretmühle wissen auch sie nichts anderes mit sich anzufangen als wieder kindisch zu werden", heißt es im "Manifest".

In diesem System darf kein Müßiggänger mehr geduldet werden, der lieber an einem schönen Junitag den Vögeln im Park zuschaut, als Börsenkurse zu notieren oder Warenlager umzuräumen. Auch die Frauen wurden über schlechter bezahlte Jobs in das Arbeitssystem eingebunden. Den Fließbandarbeiterinnen, Kassiererinnen und Imbißkräftenwird der Acht-Stunden-Tag als "Befreiung" verkauft.

Zwar waren die alten Agrargesellschaften keine Paradiese, doch fehlte ihnen das Zwangsmäßige der Arbeitsgesellschaften, es fehlten die massiven Auswirkungen der Entwurzelung, wie sie heute in den Slums und Plattensiedlungen an den Rändern der Metropolen zutage treten. In nichtkapitalistischen Kulturen ist die tägliche ebenso wie die jährliche Arbeitszeit weitaus geringer als selbst heute. Und diese Produktion war bei weitem nicht derart verdichtet wie in der Arbeitsgesellschaft, sondern durchsetzt von einer ausgeprägten Kultur der Muße und der relativen Langsamkeit.

Die derzeitige Arbeitslosigkeit ist nicht als kurzfristige Konjunkturflaute, sondern als grundsätzliche Infragestellung zu deuten. Denn einerseits leben wir von der massenhaften Verwertung menschlicher Arbeitsenergie, andererseits zwingt das Prinzip betriebswirtschaftlicher Konkurrenz zur dauernden Produktivitätssteigerung und zum Abbau teurer menschlicher Arbeitskräfte.

Gelöst wurde dieses Dilemma bislang immer durch Expansion, Wachstum. Der Aufwand an Arbeitskraft pro Produkt wurde durch Maschinen reduziert, Bedienstete wegrationalisiert, gleichzeitig aber konnten auch durch eine immer stärkere Erweiterung der hergestellten Produktpalette wieder neue Arbeitskräfte beschäftigt werden. Vor allem die allgemeine Automobilisierung erfolgte nach diesem Prinzip.

Im Zeitalter der Mikroelektronik scheint aber das alte Krisenmanagement seine Kraft zu verlieren. Erstmals werden mehr Arbeitsplätze abgeschafft, als durch Ausdehnung der Märkte reabsorbiert werden können. Elektronische Robotik und neue Kommunikationstechnologien machen Arbeitsplätze selbst im Bereich der gesellschaftlichen Mittel- und Oberschichten zunehmend überflüssig. Die Zahl der Beschäftigten schrumpft beständig. Diejenigen, welche noch über Arbeit verfügen, werden um so größerer Leistungshetze unterworfen. Staatseinnahmen versiegen, die sozialen Netze zerreißen. Die Politik kann dieser systemimmanenten Entwicklung nur noch tatenlos zusehen. Sie wird zum Krisenverwalter mit schwindenden Gestaltungsspielräumen.

Solche Überlegungen, auch wenn sie von ehemaligen Marxisten kommen, sollten heutige Konservative unbedingt berücksichtigen. Könnten nicht weniger Einwohner und weniger Arbeit - nach einer sehr schwierigen Umstellungsphase - eine vernünftige Alternative sein? Wäre es möglich, unseren materiellen Lebensstandard durch Automatisierung großenteils zu erhalten, ohne neue Arbeitsplätze zu schaffen? Könnte durch Umverteilung von Arbeit nicht eine 15- oder 20-Stunden-Woche angestrebt werden? Sollte Einwanderung nicht lieber vermieden und dafür das Rentensystem einer radikalen Umstrukturierung unterworfen werden?

Gerade Konservative sollten nicht dem rein quantitativen Bewerten unterliegen, das die Moderne herausgebildet hat. Und sie sollten in der Lage sein, im Unterschied zu den Etablierten auch radikale Veränderungen zumindest zu denken.

Bild "Kapital und Arbeit" aus: Punch, vol.5, London 1843: So übersichtlich sah es nur am Anfang der bürgerlichen Gesellschaft aus. Unter "Arbeit" war ausschließlich Lohnarbeit zu verstehen.

 

Dr. Claus Wolfschlag ist Autor des Buches "Das antifaschistische Milieu". Zuletzt schrieb er in JF 14/03 über "Steinerne Umerziehung".


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen