© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/03 19. September 2003

 
Gefährlich übermüdet
Gesundheitspolitik: Ein EU-Arbeitszeiturteil erhöht den Kostendruck in deutschen Krankenhäusern
Jens Jessen

Solange Ärzte zurückdenken können, wurden sie im wahrsten Sinne des Wortes ausgebeutet. 24 oder 32 Stunden Dienst im Krankenhaus an einem Stück waren und sind keine Seltenheit. Die reguläre Arbeitszeit beträgt acht Stunden und maximal zwei Überstunden, die aber der Überstundenregelung entsprechend vergütet werden müßten.

Die Arbeitgeber haben diesen Dienst, der über die normale Arbeitszeit hinausgeht, mit dem Wort Bereitschaftsdienst kaschiert und dabei viel Geld gespart. Bereitschaftsdienst wird und wurde von den Arbeitgebern als Arbeitszeit nicht anerkannt. Die Ärzte haben diesen Zustand hingenommen, da die Angst vor Entlassung, Abmahnungen und Behinderung bei der Weiterbildung zum Facharzt jeden Widerstand erstickte.

Wenn sie sich wehrten, wie ein stellvertretender Chefarzt vor drei Jahren in Kiel, wurde mit Kündigung gedroht: Er erhielt zwei Abmahnungen, und die Stellvertretung zum Chefarzt wurde ihm entzogen. Sein Vergehen bestand darin, daß er auf Behandlungsfehler wegen Übermüdung der demotivierten Ärzte hinwies. Trotz des 1994 verabschiedeten Arbeitsgesetzes, das die in den Krankenhäusern praktizierten Gepflogenheiten nicht erlaubt, hat die Gesundheitsministerin nichts zum Schutz der Patienten und Ärzte unternommen. Mit dieser Untätigkeit wollte sie die Anerkennung des Bereitschaftsdienstes als Arbeitszeit verhindern.

Der Stein kam erst ins Rollen, als der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg im Jahr 2000 das neue Jahrtausend mit einem Paukenschlag einleitete. Er gab der Klage von zwei spanischen Ärzten statt, die den Bereitschaftsdienst im Krankenhaus in vollem Umfang als Arbeitszeit anerkannt haben wollten. In Deutschland wurde das zur Kenntnis genommen.

Die Bundesregierung weigerte sich weiterhin, dieses Urteil auf die deutschen Regelungen zu beziehen - obwohl sie wissen mußte, daß EuGH- Urteile für alle Gerichte und alle Bürger in der EU bindend sind. Nationale Gesetze und Gerichtsurteile müssen daher zwingend der Rechtsprechung des EuGH angepaßt werden. Auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) hielt es nicht für nötig, aus diesem Luxemburger Urteil Konsequenzen zu ziehen. Ein Klinikarzt aus Kiel klagte deshalb vor dem Arbeitsgericht in Kiel.

Das Arbeitsgericht wandte sich an den EuGH mit der Bitte um Klärung der Frage. Das war im Jahr 2002. Generalanwalt Dámaso Ruiz-Jarabo vom EuGH wies in seiner Antwort an das Arbeitsgericht darauf hin, daß die Gemeinschaftsrichtlinie 93/104/EG für die Bestimmung der Arbeitszeit drei Kriterien aufgestellt hat, die es einem EU-Mitgliedsland nicht erlauben, einen Arzt, der einen Bereitschaftsdienst in einem Krankenhaus ableistet, anders zu behandeln als einen Arzt, der tagsüber im Krankenhaus tätig ist.

Die Zeit des Bereitschaftsdienstes sei zwar nicht von der gleichen Intensität wie die normale Arbeitszeit, sie verwandele sich dadurch aber nicht in eine Ruhezeit. Die Zeiten der Untätigkeit während des Bereitschaftsdienstes - selbst Schlaf - könnten, so Ruiz-Jarabo, nicht als Ruhezeit eingestuft werden, wenn dem Arbeitnehmer nicht eine bestimmte Zahl von zusammenhängenden Ruhestunden garantiert sei. Dieser Ansicht folgten die Richter des EuGH im September 2003 ohne Abstriche.

Die DKG hatte schon im März 2002 eine Untersuchung vorgelegt, aus der die finanziellen Belastungen des dann am 9. September 2003 vorgelegten EuGH-Urteils abzulesen waren: Mehrkosten von 1,7 Milliarden Euro pro Jahr für die Neueinstellung von 27.000 Ärzten sowie 14.000 Stellen für Verwaltungs- und Pflegekräfte. Das Gesundheitsministerium ging bisher immer von 10.000 zusätzlich benötigten Ärzten aus und sieht auch heute keine Veranlassung, den Kliniken mehr Geld zur Verfügung zu stellen.

In den Haushalten der Krankenkassen sei vorgesehen, den Krankenhäusern für die Jahre 2003 und 2004 jeweils 200 Millionen Euro zu Verfügung zu stellen, um dem EuGH-Urteil angepaßte Arbeitszeitregelungen umzusetzen. Daß Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) mit den Grundrechenarten auf dem Kriegsfuß lebt, zeigt jeder Haushaltsentwurf, den er in den letzten Jahren vorgelegt hat. Daß Eichels Parteikollegin Gesundheitsministerin Ulla Schmidt ebenfalls auf diesem Gebiet mit Schwierigkeiten kämpft, gibt zu erheblichen Befürchtungen Anlaß.

Selbst die vom Ministerium präferierten 10.000 Neueinstellungen von Ärzten lassen sich mit den vorgesehenen 200 Millionen Euro nicht finanzieren. Ein Gehalt plus Sozialabgaben von 20.000 Euro für jeden neu eingestellten Arzt zeigt ministerialen Realitätsverlust. Der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, ist da weitaus realistischer. Um das von Wolfgang Clement zwei Tage nach Bekanntgabe des EuGH-Urteils vorgelegte Arbeitzeitrecht umsetzen zu können, reicht seiner Ansicht nach nicht einmal eine Milliarde Euro.

Vielleicht ist das alles aber auch nur ein Versuch des Ministeriums, die erwartete Welle von Fusionen, Übernahmen und Kooperationen bei den Krankenhäusern zu forcieren. Berater des Ministeriums haben schon Anfang diesen Jahres davon gesprochen, daß 40 Prozent der Krankenhäuser überflüssig seien. Das neue Arbeitszeitrecht ist mit dem Dreischichtbetrieb auf der Basis eines achtstündigen Arbeitstages in kleineren Krankenhäusern ebensowenig praktizierbar wie in kleinen Abteilungen großer Krankenhäuser.

Bis zum Jahr 2005 wird unter dem Druck der Einsparungen im Sozialbudget in vielen Krankenhäusern das Licht ausgehen. Der Weg der Patienten zum nächsten Krankenhaus wird vor allem in ländlichen Gegenden länger werden. Der Arbeitsdruck nimmt in der normalen Arbeitszeit zu, die Qualität der Versorgung sinkt. Die ab 2004 in den Krankenhäusern verwendeten Fallpauschalen werden dafür sorgen, daß die Patienten früher entlassen werden, um bei einem Pauschalpreis für die erbrachte Leistung mehr Profit zu erwirtschaften. Das deutsche Gesundheitswesen wird damit seine internationale Vorbildfunktion endgültig verlieren.


 
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