© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/03 19. September 2003

 
Mythos Globalisierung
von Oliver Luksic

In dem mexikanischen Kurort Cancun findet zur Zeit ein Gipfeltreffen der Welthandelsorganisation (WTO) statt. Sieht man sich die Delegierten an, so stammen sie längst nicht mehr nur aus westlichen Ländern. Obwohl viele die Globalisierung kritisieren, will offenbar jeder daran teilhaben.

Eine historische Betrachtung zeigt, daß es sich um kein völlig neuartiges Phänomen handelt. Der von vielen Seiten kritisierte Freihandel kann durchaus auch als Erfolgsgeschichte gelesen werden. Durch die neuen Handelsmöglichkeiten ist Europa von einer relativ rückständigen Region im 19. Jahrhundert schließlich zur Führung gelangt. Bereits im antiken Rom konnten Geld und Güter in erstaunlichem Maße frei zirkulieren. Auch das Mittelalter war für die Globalisierung von großer Bedeutung, man spricht von einer "Handelsrevolution", wenn man die Periode von 1180 bis 1320 meint, in der Europa seine Dominanz über den mediterranen Raum festigte und ein komplexes Bank- und Finanzwesen entstand. Zwei große Handelszentren bildeten sich, Norditalien mit Venedig, das insbesondere mit dem Orient Waren austauschte, und Flandern, wo sich vor allem ein bedeutender Textilhandel mit dem meridionalen Europa entwickelte. Das 19. Jahrhundert war eine mit der heutigen vergleichbare Zeit, was die Steigerung des Handels angeht. Damals waren vor allem die technischen Innovationen von Bedeutung, aber auch eine allgemeine Tendenz hin zum Freihandel, besonders die Abschaffung der Corn-Laws in Großbritannien spielte eine große Rolle. Die neuen Möglichkeiten der Infrastruktur, der Kommunikation und das Senken der Handelsbeschränkungen dank GATT und WTO haben bewirkt, daß es ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer weniger Beschränkungen des Handels gab.

Da es einige hartnäckige Mythen gibt, muß man darauf hinweisen daß die Globalisierung keine eindeutige Bedrohung darstellt und daß sie nicht von einer kleinen kapitalistischen oder "neoliberalen" Elite gegen den Willen der Menschen betrieben wird, wie es viele Beobachter von ganz rechts und vor allem von links immer wieder behaupten. Die Globalisierung ist ein langer und vor allem dezentraler Prozeß. Die wichtigsten Reformer waren weder Thatcher noch Reagan, es waren die Kommunisten in China und in der Sowjetunion, Nationalisten in Asien oder auch Sozialdemokraten in Europa, die ihre Gesellschaften und die ganze Welt stark verändert haben.

Viel ist die Rede von "Turbokapitalismus", "Kasinokapitalismus" oder "unkontrolliertem Neoliberalismus". Wer die Zahlen betrachtet, muß jedoch feststellen, daß diese Begriffe nicht nur völlig überzogen sind, sondern fast schon als postmarxistische Kritik an der Marktwirtschaft verstanden werden müssen. Der öffentliche Sektor in allen Ländern der OECD war niemals größer als heute, es hat also noch nie mehr Staat gegeben. Es gibt allerdings in der Tat einen Bedeutungsverlust des klassischen Nationalstaates, weswegen oft auch von "Glokalisation" die Rede ist.

Schon das "Kommunistische Manifest" nennt "Rohstoffe aus den entlegensten Zonen" und Konsum "in allen Weltteilen zugleich" als Kennzeichen der bürgerlichen Gesellschaft. Was Attac bekämpft, ist also nichts Neues.

Der Staat wird von weltweiter bzw. von einer supranationalen Ebene ausgehöhlt, wie es in Europa mit der EU der Fall ist. Aber es gibt auch mehr und mehr lokale Machtzentren, die an Gewicht gewinnen: die Dezentralisierung in Frankreich, das föderale System in der Schweiz oder den USA oder die bevorstehende Föderalismusreform in Deutschland verdeutlichen diese Entwicklung.

Das Phänomen der Globalisierung wurde bereits im 19. Jahrhundert von einigen Autoren treffend beschrieben: "Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumption aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet worden und werden täglich vernichtet, sie werden verdrängt durch neue Industrien, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedeten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur. Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation." Würde man "barbarischste Nationen" und "entlegenste Zonen" sinngemäß mit "Entwicklungsländer" übersetzen, so würde diese Beschreibung aus dem "Kommunistischen Manifest" den historischen Prozeß der Globalisierung treffend beschreiben.

Die globale Situation hat sich in den letzten Jahrzehnten unbestreitbar verbessert. Das durchschnittliche Einkommen stieg bis 1998 weltweit von 2.497 Dollar 1969 auf 4.839 Dollar an. Nicht nur die Industrieländer haben daran Anteil: Die Armut ist weltweit im Sinken begriffen. Vor allem Asien mit Indien, China und den südost-asiatischen Staaten hat von dieser Entwicklung profitiert.

Wegen des schnelleren Wachstums in unterentwickelten Regionen ("catch-up effect") wird Armut und Ungleichheit weltweit weiterhin stetig abnehmen. Die Bilanz Afrikas bleibt zweideutig: mehr als 20 Länder haben in den letzten Jahrzehnten eine stagnierende oder gar rückläufige Entwicklung. Daran ist jedoch nicht die Globalisierung schuld, sondern der Mangel an politischer Stabilität. Eine positive Entwicklung ist überall nur möglich, wenn Marktwirtschaft, Demokratie und Rechtsstaat sich behaupten. Auch die demographische Entwicklung kann erklären, warum die Armut in absoluten Zahlen bei einigen Statistiken steigt, während sie in relativen Zahlen sinkt. Obwohl die Lage vielerorts katastrophal bleibt, sollte man nicht vergessen, daß der Prozentsatz der Menschen, die an Hunger sterben, nach Angaben der Vereinten Nationen stetig sinkt. Auch der Human Development Index, der neben wirtschaftlichen Daten auch beispielsweise die gesundheitlichen Aspekte und den Wissensstand einer Gesellschaft berücksichtigt, ist für die Entwicklungsländer in den letzten Jahrzehnten signifikant gestiegen.

Die Schere innerhalb der Länder scheint weiter auseinanderzugehen, während die Situation der Länder untereinander sich angleicht. In den entwickelten Ländern spielt der Faktor der niedrig qualifizierten Arbeit eine immer weniger wichtige Rolle, die Lohnkosten der Entwicklungsländer sowie sozialstaatliche Maßnahmen erklären dies. Während hier die Löhne tendenziell stagnieren, steigen die Löhne der Hochqualifizierten an, weil dieser Faktor für entwickelte Länder von großer Bedeutung ist. Aber auch der Niedriglohnbereich wird auf Dauer wegen des Kostendrucks durch die Globalisierung nicht verschwinden: viele Sektoren sind keiner ausländischen Konkurrenz ausgesetzt, wie zum Beispiel der Dienstleistungsbereich. Die Ungleichheit zwischen den Ländern verringert sich jedoch ohne Zweifel. Theoretisch ist dies mit einer Angleichung der Produktionsfaktoren auf lange Sicht zu erklären. Besonders wichtig erscheint jedoch der Hinweis, daß die Ungleichheit in nicht-kapitalistischen Ländern weitaus größer ist als in marktwirtschaftlichen Ländern, da eine kleine Funktionärselite in kommunistischen Ländern meist alle Privilegien genießt, die dem Volk vorenthalten werden.

Die Globalisierungskritik beruht hauptsächlich auf dem Argument, daß gewisse Länder vom Freihandel nicht profitieren können, sondern "ausgebeutet" würden. Diese neomarxistische Sichtweise ist weder theoretisch noch praktisch zu belegen. Die Lösung liegt vielmehr im Prinzip des komparativen Vorteils. Individuen und Länder spezialisieren sich auf die Produktion von Gütern, in denen sie relativ (und nicht absolut) am besten sind. Ob Individuen oder Länder, jeder gewinnt beim freiwilligen Handel. Wenn eine der beiden Seiten verlöre, würde sie logischerweise den Handel ablehnen.

Die Wirtschaftswissenschaft ist mit großer Mehrheit dem Protektionismus generell abgeneigt. Jeder Unternehmer muß das Risiko der Pleite ertragen. Durch Protektionismus wird Innovation verhindert und die Einfuhr billigerer ausländischer Produkte erschwert, was zu Lasten der Konsumenten geht. Oftmals ist es meist zudem eine sehr kleine Minderheit der Wirtschaft, die durch Lobbyarbeit protegiert wird. Ein Sektor ohne Konkurrenz geht zu Lasten der Verbraucher, Innovation findet nicht statt, und Arbeitsplätze in anderen Bereichen werden nicht geschaffen. Der Fall Holzmann in Deutschland zeigt sogar, daß Arbeitsplätze bei mittelständischen Unternehmungen verlorengingen. Überlegungen in der US-Administration, die Strafzölle auf ausländischen Stahl abzuschaffen, hängen nicht nur mit den Klagen bei der WTO zusammen, sondern auch mit Analysen, nach denen sich die eigene Wettbewerbsfähigkeit dadurch verschlechtert und die volkswirtschaftlichen Kosten hoch sind.

Als Alternative zum Welthandel gibt es nur die Entwicklungshilfe. Doch deren Bilanz ist mehr als ernüchternd. Ein Land wie Singapur hat nie eine solche Hilfe erhalten, nach Afrika flossen wahre Reichtümer.

Ob der Ansatz von Organisationen wie Attac wirklich den Interessen der Dritten Welt dient, ist mehr als fragwürdig. Ein Hauptgrund für die dortige Unterentwicklung ist zweifelsohne die europäische Landwirtschaftspolitik. Die Landwirtschaft wird nicht nur mit mehr als 40 Prozent des EU-Budgets subventioniert, schlimmer noch ist, daß damit eigentlich die Armut in der Dritten Welt noch gefördert wird. Die Überproduktion aus europäischen Ländern wird in diese Gegenden oft noch verkauft, womit die einheimische Landwirtschaft vernichtet wird. Gerade die Ausnahmen der Liberalisierung im Landwirtschaftsbereich sind fast schon ein Armutsprogramm für die Dritte Welt, das durch die ökonomisch oft unsinnige Entwicklungshilfe nicht mal ansatzweise ausgeglichen wird. Auch der Schutz des Textilsektors ist beispielhaft für diese Politik. Der WTO-Gipfel in Cancun wird aller Voraussicht nach wenig an diesen Problemen lösen.

Die Entwicklungsländer wollten bei der Doha-Runde verhindern, den gleichen sozialen Normen unterzogen zu werden wie die Industrienationen, sie wollten zudem eine Öffnung der Märkte in den entwickelten Länder. Gerade in diesem Punkt vertritt jedoch Attac nicht die Interessen dieser Regionen, da eine schnelle Angleichung der sozialen Rahmenbedingungen in der Dritten Welt zwar das beste Programm zu unserem Schutz wäre, jedoch verheerende Folgen für diese Länder hätte.

Die Weltbank und der Internationale Währungsfonds (IWF) müssen viel Kritik einstecken, die teilweise auch berechtigt ist. Vor allem der Mangel an Transparenz ist hier in der Tat zu bemängeln. Von ökonomischem Standpunkt wäre vor allem das Problem des "moral hazard" kritikwürdig. Die Institutionen sind da, um Krisensituationen zum Beispiel durch Kredite zu verhindern. Das Vertrauen in deren Hilfe führt jedoch oftmals zu risikoreichem Handel, einige große Länder gehen zudem sorglos mit ihren Hilfen um ("too big to fail"-Prinzip).

Die Finanzmärkte kennen in der Tat keine globale Regulierung, hier werden als Reaktion auf die letzten Skandale und Krisen jedoch einige Reformen im nationalen Bereich umgesetzt. Vor allem die Rolle der Banken, die oft ausführendes Organ und eigene Kontrolle zugleich sind, müßte geändert werden. Denkbar wäre mit Sicherheit auch ein weltweites Kartellrecht, da die Marktmacht einiger Firmen bedrohlich zunimmt. Ein großer Fehler wäre mit Sicherheit die von linken Organisationen bis hin zu den Kirchen geforderte bedingungslose Streichung aller Auslandsschulden für Dritt-Welt-Länder. Dies würde nicht nur seriös wirtschaftende Länder bestrafen, sondern auch despotische Regime belohnen und außerdem zu sorglosem Umgang mit staatlichen Finanzen führen, denn nichts würde gegen einen erneuten Schuldenerlaß sprechen.

Die Bilanz der Entwicklungshilfe ist mehr als ernüchternd. Betrachtet man den Aufstieg eines Landes wie Singapur, das niemals eine solche Hilfe erhielt, sind die oft negativen Anreizwirkungen solcher Hilfen deutlicher sichtbar. Die Einführung einer Tobin-Steuer ist mit Sicherheit ebenfalls kein sinnvoller Weg. Diese ist technisch unmöglich und wegen der Komplexität der Finanzderivate sinnlos. Die Tobin-Steuer soll "Spekulation" vermeiden, da sie Transaktionen einschränkt. Dies würde jedoch die Volatilität des Marktes steigern, das heißt, es würde nicht geringere, sondern noch größere Kursschwankungen geben.

Wie werden sich die großen Regionen in Zukunft entwickeln? Schon jetzt ist ein langfristiger Trend erkennbar. Asien ist mit Sicherheit die Region mit den größten Chancen, Indien und China sind bereits in einer Phase eines stetigen Aufstiegs. Europa hat den Sprung von der Industrie- zur Wissensgesellschaft im Vergleich zu den USA verschlafen. Das europäische Wohlfahrtsmodell stößt an seine Grenzen. Nicht Länder und Regionen im globalen Wettbewerb sind die Verlierer, sondern diejenigen, die von der Globalisierung ausgegrenzt sind oder sich abschotten wollen.

Deutsche Hanseschiffe im Mittelalter, Holzstich um 1890 nach C. Bolonachi: Der Welthandel begann früh und trug Europa zunächst zur Blüte

 

Oliver Luksic, Jahrgang 1980, ist Landesvorsitzender der Jungen Liberalen im Saarland und studiert am Institut d'Etudes Politiques, Paris.


 
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