© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/03 26. September 2003

 
Rebellion in Stalins Knochenmühle
Ehemalige Gefangene gedachten des Aufstandes im sowjetischen Strafarbeitslager Workuta vor fünfzig Jahren
Ekkehard Schultz

Vom diesjährigen 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 wurde in der öffentlichen Wahrnehmung fast vollkommen überschattet, daß nur einen Monat nach diesen Ereignissen ein weiterer massiver Aufstand gegen das kommunistische System stattfand: Im sowjetischen Zwangsarbeitslager Workuta leisteten - erstmals in der Geschichte dieser Einrichtungen - Häftlinge wegen der dortigen unmenschlichen Lebensbedingungen Widerstand.

Um dieses wichtige Datum dennoch nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, fanden am 15. und 16. September im Berliner Abgeordnetenhaus Gedenkveranstaltungen und historische Vorträge zu dieser Thematik unter der Leitung des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. statt. Die etwa 150 Zuhörer setzten sich in erster Linie aus Angehörigen des Vereines "Lagergemeinschaft Workuta und alle anderen GULag-Strafregionen in der ehemaligen Sowjetunion" und anderer Mitgliedsverbände der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) zusammen. Weitere Teilnehmer waren Marianne Birthler, der SPD-Bundestagsabgeordnete Markus Meckel sowie der Präsident des Brandenburgischen Landtages, Herbert Knoblich.

Auch Stalins Tod veränderte die Haftbedingungen nicht

Workuta, auch als "Retschnoj Lager" bezeichnet, lag 120 Kilometer jenseits des nördlichen Polarkreises an der Westseite des oberen Ural und galt als einer der berüchtigtsten Orte innerhalb des damaligen Lagersystems. Den Durchschnittstemperaturen von minus 30 bis minus 45 Grad und ständigem Schneesturm waren eine Vielzahl der Hunderttausende von Häftlingen nicht gewachsen. Zugleich waren die Arbeitsnormen sehr hoch, die Essensrationen minimal. Der überwiegende Teil der Zwangsarbeit bestand im Abbau von Steinkohle. Daneben wurden Häftlinge zum Barackenbau, zum Anlegen von Holzeinschlagplätzen, zum Betrieb von Ziegelbrennereien und zum Bau der Petschorabahn, einer fast 1.850 Kilometer langen Eisenbahnstrecke von Kotlas nach Workuta, eingesetzt. Ende Juli 1953 - zum Zeitpunkt des Aufstandes, wenige Monate nach Stalins Tod - fristeten in den Arbeitslagern von Workuta etwa eine Viertelmillion Gefangene ein elendes Dasein. Bereits damals dürfte die Zahl der vor Ort ums Leben gekommenen Häftlinge bei nahezu 200.000 gelegen haben.

Die Lagergemeinschaft in Workuta war sehr vielgesichtig: Kriminelle und politische Häftlinge sowie Kriegsgefangene hausten gemeinsam in den Baracken. Ethnisch setzen sich die Gruppen aus Russen, Ukrainern, Georgiern, Deutschen, Litauern, Letten, Esten, Polen, Tschechen und Slowaken, Ungarn, Rumänen und Bulgaren, aber auch aus Westeuropäern zusammen. Ebenso heterogen war auch die Zusammensetzung der vielen deutschen Häftlinge: Kriegsgefangene, Angehörige deportierter deutscher Minderheiten in Mittel- und Osteuropa, Verschleppte aus Ostpreußen und Schlesien, ehemalige Internierte aus Speziallagern in der SBZ .

Der Streik begann am 21. Juli im Lagerabschnitt 10, der zu diesem Zeitpunkt zirka 2.500 Zwangsarbeiter umfaßte. Dem Aufruf zur Niederlegung der Arbeit schlossen sich in kurzer Zeit die Häftlinge von zehn Kohlenschächten (von 32) an. In der Eingabe, die die Häftlinge der 10. Lagerabteilung in Workuta an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion richteten, hieß es: "Unsere Entscheidung, die Arbeit einzustellen, ist durch die feste Überzeugung motiviert, daß an uns großes Unrecht verübt wurde, daß unsere menschliche Würde entgegen dem verfassungsmäßigen Recht der Persönlichkeit mit Füßen getreten wurde, daß wir der Willkür der Organe des MWD (sowjetisches Innenministerium) und MGB zum Opfer gefallen sind." Die Häftlinge forderten neben der Freilassung aller politischen Häftlinge aus dem Lager das Recht für Ausländer, in ihre Heimat zurückzukehren. Drittens sollte eine Garantie von Straffreiheit für alle Streikenden abgegeben werden.

Als sich die Situation zuspitzte, machte das MWD in Moskau am 24. Juli erste Zugeständnisse: Sie versprach allen Häftlingen die Einführung des Neun-Stunden-Arbeitstages. Ferner sollte die Nummer auf der Kleidung abgeschafft und die Zusendung eines Briefes pro Monat erlaubt werden. Diese Konzessionen führten jedoch nicht zur beabsichtigten Eindämmung des Aufstandes, sondern dazu, daß sich der Streik weiter ausweitete. Am 25. Juli legten bereits 8.700 Häftlinge die Arbeit nieder. Doch auch mit diesem Vorgehen begnügten sich Teile der Häftlinge nicht mehr: Sie versuchten, die Strafbaracke, in der die Insassen einem besonders demütigendem Regime unterworfen waren, zu stürmen. Die erstrebte Befreiung gelang; allerdings erst, nachdem die Wachsoldaten ihr Gewehrfeuer aufgrund der Überzahl der Aufständischen einstellen mußten, dem zuvor zwei Häftlinge zum Opfer gefallen waren.

Die Reaktion der Moskauer Regierung war blutig

Die Reaktion der Moskauer Regierung ließ jedoch nicht lange auf sich warten: Eine achtköpfige Kommission des Innenministeriums unter Leitung des Armeegenerals und stellvertretenden Innenministers Iwan Maslennikow, reiste eigens von Moskau nach Workuta, um zusammen mit der Lagerleitung den Streik abzuwürgen. Als Maslennikows Beschwichtigungsversuche ohne Erfolg blieben, erteilte er am 1. August den mobilisierten Sicherheitskräften den Befehl zum Schießen. Mindestens 53 Häftlinge kamen bei dem anschließenden Blutbad ums Leben; mehr als doppelt so viele wurden schwer verletzt. Damit fand der verzweifelte Massenprotest ein blutiges Ende. In allen Lagerabteilungen wurden 1.192 Häftlinge isoliert, die sich tatsächlich oder vermeintlich aktiv daran beteiligt hatten.
Workuta hatte ein Zeichen auch für andere Zwangsarbeitslager gesetzt. Auch in Norilsk, einer "Strafkolonie" jenseits des Polarkreises in der Mündung des Jennissej, kam es zu einer Häftlingsrevolte, die am 4. August ebenfalls mit Waffengewalt niedergeschlagen wurde. Auch in anderen Gegenden fanden ähnliche Aufstände - wenn auch in geringerem Ausmaße - statt.

Foto: Von Gulag-Gefangenen errichtete Industrieanlagen bei Workuta: Hohe Arbeitsnormen, wenig Nahrung

Vertiefende Literatur: Jan Foitzik, Horst Hennig, Begegnungen in Workuta - Erinnerungen, Zeugnisse, Dokumente. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2003, gebunden, 320 Seiten, 19 Euro


 
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