© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/03 26. September 2003

 
Sozialstaat retten
von Eberhard Straub

Ich hätte, denke ich, die Freiheit zu allen Zeiten geliebt, in der heutigen aber neige ich dazu, sie zu vergöttern." Denn nichts schien Alexis de Tocqueville, von dem dies sehr persönliche Bekenntnis stammt, um 1835 so gefährdet wie die Freiheit des Einzelnen und der gesellschaftlichen Gruppen oder Einrichtungen. Seine Sorge war, wie es möglich sein könne, "aus dem Schoß der Demokratie, in der Gott uns zu leben heißt, die Freiheit hervorgehen zu lassen". Bekümmert fürchtete er, daß eine verabsolutierte Demokratie und ununterbrochene Demokratisierung nicht zu mehr Freiheit führe, sondern zu einem ungeahnten Staatsabsolutismus, der mit seiner Fürsorglichkeit alles selbständige Leben ersticke. Das demokratische Prinzip ist die Gleichheit, das, weil vollständige Gleichheit nie zu erreichen ist, für dauernde Unruhe sorgt, um sich diesem Ziel wenigstens anzunähern. Vor der sanften Despotie im Wohlfahrtsstaat weitgehend Egalisierter schützten nur die Idee der Freiheit, wie Tocqueville vermutete, und das Christentum, das die Welt mit der Freiheit der unter sich gleichen Menschen und deren unantastbarer Würde vertraut macht.

Tatsächlich ist man überall in Europa bei der Bemühung, den Rechtsstaat zum Sozialstaat zu erweitern, mehr den Imperativen des Gleichheitspostulates gefolgt, um eine Homogenisierung in der einen, gleichen und unteilbaren Nation zu erreichen. Die Idee der Nation mußte dem sozialen Gedanken weit entgegenkommen, um alle zu nationalisieren, was bedeutete, die unvermeidlichen sozialen Unterschiede abzuflachen und jedem die Chance zum sozialen Aufstieg einzuräumen. Die egalisierende Absicht entband damit dennoch eine Dynamik und darüber eben auch Freiheiten. Die Parole "Freiheit oder Sozialismus" führt in die Irre. Erst der "Sozialismus", sozialstaatliche Eingriffe und Korrekturen, schufen überhaupt die Voraussetzungen dafür, daß der Mensch sich tatsächlich zum freien Menschen auszubilden vermochte und damit in den Vollbesitz seiner Würde gelangte. Man sollte also die Überlegungen eines Freundes der Freiheit wie Tocqueville nicht auf eine Warnung vor dem Sozialstaat einengen.

Tocqueville begrüßte leidenschaftlich sämtliche Regungen, die zur Freiheit führten oder zu mehr Freiheiten: denn auch die Freiheit kennt keine Grenzen. Alle Übertreibungen, die eine gerechte, harmonische Ordnung gefährden, bedürfen deshalb einer angemessenen Einschränkung. Auch die Freiheit muß sich, um wohltätig wirken zu können, mit der Sozialverträglichkeit aussöhnen, will sie nicht ihrerseits wieder zur Herrschaft weniger über die meisten führen. Tocqueville fürchtete die lähmenden Wirkungen eines demokratischen Wohlfahrstaates ohne die korrigierende Freiheit. Er fürchtete nicht minder eine neue Aristokratie, die des Geldes, deren Freiheit, keiner sittlichen Idee verpflichtet, nur Ausdruck des immer beweglichen und nach Vermehrung drängenden Kapitals ist. In diesen eigensinnigen Plutokraten, wie man damals in Frankreich sagte, erkannte er die grausamsten Feinde der Freiheit. Mit ihrer ausgreifende Handlungsfreiheit trachten sie danach, sich alles unterzuordnen, was ihrem Erfolg im Wege steht. Der Erfolg ist der Ruhm solch kleiner Leute, die keine großen, sittlichen Leidenschaften kennen, aber großen Einfluß gewinnen, den ihnen ihr Reichtum ermöglicht.

Tocquevilles Liberalismus kannte nicht die Freiheit, individuelles Eigentum zu erwerben und auf Kosten der meisten zu mehren. Aufgrund seiner katholischen wie aristokratischen Herkunft betrachtete er Gerechtigkeit weiterhin als höchstes Staatsziel, was für ihn als energischen Sozialpolitiker soziale Gerechtigkeit einschloß. Ein unkontrollierter Wirtschaftsliberalismus müsse unweigerlich in Unordnung und Unfreiheit führen. Darin war er sich mit libertären Sozialisten wie Pierre-Joseph Proudhon weitgehend einig, obschon er sie als Feinde der staatlichen Rechtsordnung bekämpfte. Der Wirtschaftsliberalismus bedarf der Korrekturen durch den Staat, damit er sich innerhalb einer vom Staat gewährleisteten Ordnung zum Nutzen aller auswirken kann. Das verkündeten später die Ordo-Liberalen und Ludwig Erhard. Denn der freie Markt und die freie Konkurrenz können aus sich heraus keine gerechten Verhältnisse schaffen. Nicht als freie Marktwirtschaft, vielmehr als soziale fügt sie sich in eine dem Zusammenleben der Menschen dienende staatliche Ordnung ein.

Der zügellose Wettbewerb verlangt nach Ausdehnung - "sich regen bringt Segen"- , um Marktführer zu werden und endlich den Markt souverän zu beherrschen und den Wettbewerb zu beseitigen. Der Wettbewerb ohne Regeln und Aufsicht - gänzlich irrational in seiner Dynamik - vernichtet, er saugt auf, er zerstört. Die Freiheit des Wirtschaftsliberalismus vermag sich wohltätig unter der Voraussetzung zu entfalten, daß sie auf übergeordnete Ziele und Aufgaben verpflichtet wird, die außerhalb ihrer selig in sich selbst ablaufenden Mechanismen liegen. Sie muß im Zusammenhang mit einem Weltbild gehalten werden, das den Menschen, seine unverletzliche Würde, Freiheit und die Gerechtigkeit in den Mittelpunkt rückt.

Deshalb legte Tocqueville so großen Wert auf die Religion, um die politische Freiheit zu sichern. Freiheit kann nur als sittliche und gemeinnützige Freiheit gelebt werden, anderenfalls erschöpft sie sich in egoistischer Vorteilssuche zum Nachteil der vielen anderen. Es bedarf also immer ordnungspolitischer Eingriffe, um die Bestrebungen nach Gleichheit und die Freiheitswünsche in einer Balance zu halten, die eine soziale Ordnung dazu befähigt, sich als gerechte zu entwickeln und auszufalten.

Mit "sozialer Gerechtigkeit" können mittlerweile selbst Sozialdemokraten nur noch wenig anfangen. Das ist nicht einmal überraschend. Wird der Mensch vorzugsweise als verwertbare "Humanressource" angesehen und als solche aus- und abgeschöpft oder als "Humankapital" voll zum Einsatz gebracht, erübrigen sich selbstverständlich Erinnerungen an Gerechtigkeit. Sie gehören dann zur politischen Sozialromantik. Gerechtigkeit "rechnet" sich nicht. Sie verursacht Kosten, und die wirtschaftliche Rationalität zwingt dazu, unrentable Kostenverursachung zu vermeiden. Was sich nicht "auszahlt", muß als unbrauchbares Menschenmaterial freigesetzt werden. So verlangt es die Funktionsgerechtigkeit des freien Marktes. Ein entfesseltes ökonomisches Denken mit seiner Rationalität der technischen Verwertung verdrängt die Vorstellungen vom freien Menschen mit seiner Würde. Der Mensch ist mehr als ein Rohstoff, mehr als ein kostengünstiges Werkzeug oder unter Umständen interessantes Wagniskapital.

Solche Reduzierungen und Instrumentalisierungen verletzen unmittelbar die menschliche Würde und ihre Freiheitsrechte, die vor dem Staat da waren, der nur gegründet wurde, um sie vor solchen Anschlägen zu sichern. Die Freiheit der Person schwebt allerdings im Ungewissen, sobald die materiellen Voraussetzungen für ihre sittliche Entfaltung fehlen. Es ist die Aufgabe des Staates, dafür zu sorgen, daß jeder die praktische und nicht nur ideelle Chance erhält, sich frei zu entwickeln. Er machte sich das zu seiner Aufgabe, zumindest in Europa, nicht zuletzt um die Wirtschaftsfreiheit sozialverträglich zu bändigen. Der Staat kann jetzt nicht einfach vor industriellen Einzelinteressen kapitulieren und alles übrige Gesetzmäßigkeiten des Marktes und seiner Prozesse überlassen. Der Staat hat selten den Markt sich selber überlassen, eben um vorsichtig Unordnung und Ungerechtigkeit einzugrenzen oder gar nicht erst aufkommen zu lassen. Viele mittlerweile offenkundigen Mißstände entstanden dadurch, daß es der Staat, und nicht nur in Deutschland, gar nicht mehr wagte, mit seiner Vernunft rein ökonomischen, eigennützigen Interessen entgegenzutreten.

Alle Basteleien in reformierender Absicht taugen wenig, wenn der Staat sich nicht dazu entschließt, wieder Ausdruck eines politischen Willens zu werden und ihn als tatsächlich ordnende Kraft allen gegenüber zur Geltung zu bringen. Freiheit und Menschenwürde bedürfen zu ihrem Schutz immer noch des nationalen Sozialstaates. Nicht ein übermächtiger Staat bedroht heute die Freiheit, sondern ein schwacher, der die Auseinandersetzung mit den asozialen Kräften scheut, die sich zum Vollstrecker unausweichlicher "Globalisierungseffekte" und ökonomischer Gesetze stilisieren. Wir sollten nicht so feige sein, um mit Tocqueville zu reden, uns den angeblichen Gesetzen des Marktes als einer Macht des Schicksals auszuliefern.

 

Dr. habil. Eberhard Straub, Jahrgang 1940, ist Journalist und Historiker. Zuletzt erschienen von ihm im Siedler Verlag, Berlin, die Bücher "Albert Ballin - der Reeder des Kaisers" und "Eine kleine Geschichte Preußens".


 
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