© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de 43/03 17. Oktober 2003
 


Staatlicher Grundrechtseingriff
Dokumentation: Aus der neuen Klageschrift gegen das NRW-Innenministerium / Parallelverfahren zur Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eröffnet

II.

Die Berichterstattung des Beklagten über die JF im VSB 2002 greift in die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit, das Persönlichkeitsrecht und die Berufsfreiheit der Klägerin ein.

Zur näheren Begründung, daß hier ein Eingriff in die genannten Grundrechte vorliegt, zitiere ich im folgenden aus der erwähnten Verfassungsbeschwerde:

"1. Schutzbereich

a) Meinungsfreiheit, Art. 5 I 1 GG

Mit der Erwähnung der Beschwerdeführerin im Verfassungsschutzbericht werden bestimmte in der JUNGEN FREIHEIT publizierte Meinungen sanktioniert. Die Einordnung einer politischen Gruppe oder - wie hier - eines Presseorgans in das Kapitel "Rechtsextremismus" des Verfassungsschutzberichts hat abschreckende Wirkung. Mit dem Verfassungsschutzbericht wird - wenn auch ohne Zwang - hoheitlich darauf hingewirkt, daß solche Meinungen nicht vertreten werden. (Dazu näher unter dem Aspekt des Eingriffs unten unter Gliederungspunkt 2.)

Somit ist durch die angegriffenen Verfassungsschutzberichte die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin betroffen. Die angegriffenen Berichte erschweren der Beschwerdeführerin die Betätigung im Schutzbereich von Art. 5 I 1 GG.

b) Pressefreiheit, Art. 5 I 2 GG

Wie schon erwähnt, hat der Verfassungsschutzbericht eine Sanktionsfunktion, außerdem eine Warnfunktion. (Auch hierzu näher unter dem Aspekt des Eingriffs unten unter Gliederungspunkt 2.) Die Öffentlichkeit wird vor den im Verfassungsschutzbericht erwähnten Presseorganen gewarnt. Durch ihre Erwähnung in den Verfassungsschutzberichten des Landes Nordrhein-Westfalen wird der Beschwerdeführerin die Betätigung im Schutzbereich des Grundrechts auf Pressefreiheit erschwert. Denn auf diese Weise wird es ihr schwerer gemacht, Leser zu gewinnen, Abonnenten zu werben, Informationen zu erhalten, Interviewpartner oder Autoren und Mitarbeiter zu gewinnen. Wie schon erwähnt, kann die Beschwerdeführerin auch keine wirksame Werbung mehr machen, weil wegen der Erwähnung im Verfassungsschutzbericht die in Betracht kommenden Werbeträger, die überregionalen Tageszeitungen, die Veröffentlichung von Inseraten der Beschwerdeführerin ablehnen.

Somit ist der Schutzbereich der Pressefreiheit berührt.

c) Das Persönlichkeitsrecht, Art. 2 I i.V.m. 1 I (oder 5 I 2 bzw. 12 I)

Das allgemeine Persönlichkeitsrecht steht auch juristischen Personen zu. Auch wenn man annimmt, daß es sich nicht wie bei natürlichen Personen auf die Menschenwürdegarantie stützen läßt (Art. 2 I i.V.m. 1 I GG), so ist es jedenfalls in Art. 2 I GG (ohne die zusätzliche Abstützung in Art. 1 I GG) geschützt. Im Falle eines Presseunternehmens könnte man es auch als Ausfluß der Pressefreiheit (Art. 5 I 2 GG) verstehen, oder man könnte es bei einem Wirtschaftsunternehmen in Art. 12 I GG ansiedeln. Unzweifelhaft ist jedenfalls, daß auch der gute Ruf eines Unternehmens geschützt ist, zumal jedenfalls im vorliegenden Fall die Personen, die hinter der juristischen Person stehen, nämlich Geschäftsführung des Verlags und Redakteure der Zeitung, von der Diffamierung der Zeitung betroffen sind. Wie immer man das Persönlichkeitsrecht einer juristischen Person auch einordnet - an dem grundrechtlichen Schutz des sozialen Geltungsanspruchs, des guten Rufs der Beschwerdeführerin gibt es keinen Zweifel.

Die Verfassungsschutzberichte 1994 und 1995 des Landes Nordrhein-Westfalen enthalten negative Werturteile über die Beschwerdeführerin. Sie berühren also ihr Persönlichkeitsrecht.

d) Die Berufsfreiheit, Art. 12 I GG

Die Berufsfreiheit steht auch juristischen Personen zu. Die Beschwerdeführer gibt die Zeitung JUNGE FREIHEIT nicht als Hobby bzw. Liebhaberei heraus, sondern gewerbswirtschaftlich. Als Presseunternehmen ist die Publikation einer Zeitung ihr Beruf.

Aus den bereits unter dem Aspekt der Pressefreiheit erwähnten Gründen, wird der Beschwerdeführerin die Ausübung ihres Berufs, also die Betätigung im Schutzbereich von Art. 12 I GG erschwert. Somit ist auch der Schutzbereich der Berufsfreiheit berührt.

2. Eingriff

Die angegriffenen Verfassungsschutzberichte und somit auch die sie aufrechterhaltenden Gerichtsurteile greifen in die Grundrechte der Beschwerdeführerin ein.

a) Hinsichtlich des Persönlichkeitsrechts ist ein Eingriff völlig unproblematisch gegeben. Die Veröffentlichung negativer Werturteile durch eine Behörde ist eindeutig ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht.

b) Ein Eingriff in die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und die Berufsfreiheit ist unter denselben sachlichen Aspekten gegeben und wird im folgenden für die drei Grundrechte gemeinsam begründet.

aa) Durch die angegriffenen Verfassungsschutzberichte wird der Beschwerdeführerin kein Verhalten im Schutzbereich ihrer Grundrechte ge- oder verboten. Es liegt somit kein "klassischer", imperativer Eingriff vor.

bb) In Rechtsprechung und Literatur herrscht jedoch heute Einvernehmen darüber, daß der sogenannte klassische Eingriffsbegriff zu eng gefaßt ist. Unter einem Eingriff wird heute nicht nur ein Rechtsakt verstanden, durch den ein Verhalten ge- oder verboten wird, sondern auch jede hoheitliche Maßnahme, durch die das Verhalten im Schutzbereich eines Grundrechts faktisch unmöglich gemacht oder erschwert wird. Schon die bloß "faktische" Erschwerung des Verhaltens im Schutzbereich eines Grundrechts also ist ein Eingriff, zumindest dann, wenn sie gezielt erfolgt.

"Eingriff ist jedes staatliche Handeln, das dem einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht, gleichgültig ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich (faktisch, informal), mit oder ohne Befehl oder Zwang erfolgt."(1) 

Völlig unstreitig ist heute, daß auch bloß "faktische" Einwirkungen als Grundrechtseingriffe zu qualifizieren sind, wenn es sich um staatliche Maßnahmen handelt, die die Grundrechtsausübung erschweren(2).

cc) Dies gilt insbesondere auch für Eingriffe durch staatliches Informationshandeln. Der moderne Staat wirkt auf das Verhalten seiner Bürger nicht nur durch die klassischen "obrigkeitsstaatlichen" Maßnahmen ein, sondern bedient sich zur Verhaltenssteuerung in zunehmendem Maße sogenannter "weicher" Maßnahmen, die nicht im Sinne strikter Ge- oder Verbote wirken, sondern mit (z.B. finanziellem) Anreiz oder Abschreckung, mit Warnung oder Empfehlung auf das Verhalten der Menschen einwirken. Derartige Mittel der Verhaltenslenkung sind insofern freiheitsschonend, als sie bestimmte Verhaltensalternativen nicht völlig ausschließen. Dennoch wirken sie auf das Verhalten der Grundrechtssubjekte im Schutzbereich der Grundrechte ein; sie sind geradezu dazu bestimmt, die Freiheitsausübung zu beeinflussen. Die Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung durch derartige Maßnahmen kann sehr groß sein, in Einzelfällen sogar größer als bei imperativen Maßnahmen. Deshalb müssen auch sie an den jeweils betroffenen Freiheitsrechten gemessen werden(3) . Dies ist in Rechtsprechung und Literatur inzwischen ziemlich einhellig anerkannt, auch wenn es noch in einigen Einzelfragen Meinungsunterschiede hinsichtlich der dogmatischen Konsequenzen - etwa hinsichtlich der Anforderungen an die Beachtung des Vorbehalts des Gesetzes - gibt.

Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu den Fällen, in denen es um staatliche Einwirkung auf die Freiheitsausübung durch hoheitliche Warnungen, Empfehlungen oder Kritik geht(4) , ist hier wegweisend(5) . Ihre Maßstäbe müssen auch für die grundrechtsdogmatische Einordnung von Verfassungsschutzberichten herangezogen werden.

(1) Eine Fallgruppe innerhalb dieser Rechtsprechung ist die Warnung vor bestimmten Sekten durch Staatsorgane oder durch vom Staat zu diesem Zweck finanzierte gesellschaftliche Gruppen. In solchen Warnungen sieht das Bundesverwaltungsgericht zu Recht einen Eingriff in die Religionsfreiheit (Art. 4 I, II GG), nicht etwa nur in das Persönlichkeitsrecht oder das informationelle Selbstbestimmungsrecht:

"Die hier streitigen Äußerungen ... haben ... den Charakter einer öffentlichen Warnung und greifen damit in die ... Grundrechte der Kläger aus Art. 4 Abs. 1 GG ein. Es bedarf keiner näheren Darlegung, daß derartige öffentliche Äußerungen des Staates nicht zuletzt wegen der mit ihnen in Anspruch genommenen Staatsautorität für die Ausbreitung der angesprochenen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft und ihre Rolle in der religiös-weltanschaulichen Auseinandersetzung, mithin für den von Art. 4 Abs. 1 GG geschützten Freiheitsraum (BVerfGE 24, 236 [245]; BVerwGE 30, 29 [30f.]) schwerwiegende Folgen haben können. Diese Folgen sind, soweit sie das Verhalten der gewarnten Öffentlichkeit betreffen, beabsichtigt und im übrigen vorhergesehen und in Kauf genommen. Sie müssen daher mit ihrem vollen Gewicht dem Staat zugerechnet und wegen ihrer freiheitsmindernden Bedeutung als Grundrechtseingriffe behandelt werden."(6) 

In den Fällen, in denen ein Staatsorgan die Verbraucher vor bestimmten Produkten wegen Gesundheitsgefahren gewarnt hatte, hat die Rechtsprechung ebenso zutreffend einen Eingriff in die Berufsfreiheit (Art. 12 I GG) des Produzenten bejaht. So hat das Bundesverwaltungsgericht im Glykol-Fall die Veröffentlichung einer Liste mit Dietylenglykol kontaminierter Weine mit den Namen der Weinabfüller durch den Bundesgesundheitsminister als Eingriff in die Berufsfreiheit qualifiziert(7) . Die Rechtsprechung zu den hoheitlichen Produktwarnungen hat ein besonders großes Echo in der Literatur gefunden. Bei aller Kritik im einzelnen - die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts erschienen den Kritikern nicht in allen Einzelheiten überzeugend begründet - fand diese Rechtsprechung im grundrechtsdogmatischen Ansatz, daß nämlich die Warnung vor einem Produkt in die Berufsfreiheit des Produzenten eingreife, nahezu einhellige Zustimmung(8).

(2) Eine zweite Fallgruppe von Grundrechtseingriffen durch staatliches Informationshandeln ist die amtliche, hoheitliche Kritik. Sicherlich ist nicht jede öffentliche Kritik ein Grundrechtseingriff, und insbesondere müssen sich im politischen Bereich alle Personen, die sich selbst am politischen Meinungskampf beteiligen, mit kritischen Stellungnahmen auch von Staatsorganen rechnen, wenn sie durch ihre eigenen Stellungnahmen oder durch ihr Verhalten dazu Anlaß gegeben haben. Zum demokratischen Willensbildungsprozeß gehört die kritische Auseinandersetzung, und daran dürfen und müssen sich auch die Staatsorgane - im Rahmen ihrer Kompetenzen - beteiligen. Insoweit ist Kritik kein Grundrechtseingriff.

Anders ist dies jedoch dann, wenn Kritik hoheitlich geübt wird, wenn also negative Werturteile unter Inanspruchnahme staatlicher Amtsautorität sozusagen von Amts wegen ausgesprochen werden und sich das den Grundrechtsträger kritisierende Staatsorgan nicht auf der Ebene der Gleichberechtigung - sozusagen als ein Diskussionspartner unter anderen - am Willensbildungsprozeß beteiligt, sondern von Amts wegen Feststellungen und Wertungen ausspricht. Diese hoheitliche Kritik ist ein Grundrechtseingriff, auch wenn sie den Betroffenen weniger belastet als eine Warnung(9).

Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in zwei sehr Fällen klar hervorgehoben. Der eine Fall betraf Warentests, die von einer Landwirtschaftskammer vorgenommen und publiziert wurden. Das Bundesverwaltungsgericht hat hierin einen Eingriff in die Berufsfreiheit gesehen(10).

(...)

(3) Selbst wenn der Staat weder vor einem Grundrechtssubjekt warnt noch sein Verhalten kritisiert, kann staatliche Informationstätigkeit ein Grundrechtseingriff sein. Ein Beispiel hierfür bildet das Transparenzlistenurteil des Bundesverwaltungsgerichts(11). Allein die hoheitliche Abgabe von Werturteilen über ein grundrechtlich geschütztes Verhalten (hier die Produktion und den Vertrieb von Arzneimitteln) ist nach dieser Entscheidung ein Grundrechtseingriff (in diesem Fall ein Eingriff in die Berufsfreiheit), wenn sie die Betätigung des Grundrechtssubjekts im geschützten Freiheitsbereich erheblich beeinträchtigt. (...) In all diesen Fallgruppen hat die Rechtsprechung also Grundrechtseingriffe bejaht, obwohl der Staat nichts verbindlich geregelt, nichts vorgeschrieben hat, sondern lediglich mit Werturteilen, Kritik oder Warnungen die Öffentlichkeit informiert hat. Negative Werturteile greifen nach dieser Rechtsprechung nicht nur in das Persönlichkeitsrecht ein, sondern auch in dasjenige Freiheitsrecht, welches das Verhalten schützt, das vom Staat mit negativen Werturteilen, Warnungen oder Kritik belegt wird.

Voraussetzung dafür, daß staatliches Informationshandeln als Grundrechtseingriff zu qualifizieren ist, ist nach dieser Rechtsprechung, so wurde das in der Literatur zusammengefaßt, daß es

- unter Inanspruchnahme staatlicher Amtsautorität erfolgt und

- entweder auf die Verhaltenslenkung in dem geschützten Bereich abzielt (Finalität)

- oder die Lenkung des Verhaltens Dritter bezweckt, als dessen Kehrseite Nachteile im grundrechtlich geschützten Freiheitsbereich des Grundrechtssubjekts notwendig auftreten

- oder wenn sie im geschützten Freiheitsbereich erhebliche (schwerwiegende) Nachteile hervorruft, die vom Staat vorhergesehen werden konnten und in Kauf genommen wurden.12 

dd) Diese Voraussetzungen eines Eingriffs sind im vorliegenden Fall erfüllt.

(1) Die Darstellung der Beschwerdeführerin in den Verfassungsschutzberichten durch den Verfassungsschutz des Landes Nordrhein-Westfalen hat - auch - den Charakter einer hoheitlichen Warnung.

Eine Warnung im Sinne der Rechtsprechung zum Eingriff durch hoheitliche Warnungen liegt nicht nur dann vor, wenn die Behörde ausdrücklich formuliert: "Wir warnen die Bevölkerung vor ...", sondern auch dann, wenn sich aus dem Kontext der öffentlichen Äußerung, insbesondere wenn es sich um ein negatives Werturteil handelt, die Warnfunktion ergibt.

Dies ist hier der Fall. Denn der Sinn des Verfassungsschutzberichts besteht darin, die Öffentlichkeit über verfassungsfeindliche Bestrebungen zu unterrichten und sie auf diese Weise davon abzubringen, diese zu unterstützen. Der Verfassungsschutzbericht geht aber nach der mit ihm verfolgten Intention über eine herkömmliche Warnung sogar hinaus. Während nämlich die herkömmlichen Warnungen dazu dienen, den Warnungsempfänger in seinen Rechten zu schützen und ihm somit seine freie Entscheidung darüber belassen, ob er das Risiko, vor dem der Staat ihn bewahren will, auf sich nimmt oder nicht, übt der Verfassungsschutzbericht auch auf ihn selber Druck aus: Geschützt werden soll ja nicht der Warnungsempfänger, sondern der Staat und seine Verfassungsordnung, und wer die implizit im Verfassungsschutzbericht enthaltene Warnung, sich nicht mit den dort als "extremistisch" bezeichneten Kräften einzulassen, mitachtet, gerät selbst in das Visier des Verfassungsschutzes und wird selbst des Extremismus verdächtigt. Er wird gezwungen, die Warnung zu befolgen, wenn er sichergehen will, daß er nicht auch unter Beobachtung der Verfassungsschutzbehörde gerät oder gar im Verfassungsschutzbericht erwähnt wird. Die Folgerung, wer mit Extremisten verkehrt, ist selber Extremist, ist ein in Verfassungsschutzberichten gängiges Argumentationsmuster. Wer einer vom Verfassungsschutz als extremistisch eingestuften Organisation angehört, ist nach dieser Auffassung - ungeachtet seiner persönlichen Ansichten - selber Extremist. Läßt eine Zeitung einen solchen Extremisten auf ihren Seiten zu Wort kommen, ist dies in den Augen der Verfassungsschutzbehörde ein tatsächlicher Anhaltspunkt für eigenen Extremismus, auch dann, wenn dieser Extremist in dieser Zeitung gar nichts Extremistisches schreibt. Dieser Mechanismus führt dazu, daß die Bewertung als extremistisch durch den Verfassungsschutz einer politischen und gesellschaftlichen Ächtung gleichkommt. Sie tangiert die betroffenen Grundrechte - bei einer Zeitung also neben dem Persönlichkeitsrecht vor allem die Pressefreiheit - in ungleich stärkerem Maße als eine bloße Warnung. Schließlich ist das Urteil der Verfassungsfeindlichkeit in einem Verfassungsstaat das schärfste Unwerturteil, das sich außerhalb des Bereichs des Kriminalstrafrechts denken läßt(13).

(2) Diese und weitere Auswirkungen der Erwähnung im Verfassungsschutzbericht zeigen, daß der Verfassungsschutzbericht neben seiner Warnfunktion auch eine Sanktionsfunktion hat. Die Einstufung als "extremistisch" im Verfassungsschutzbericht erfolgt als Sanktion auf vorherige Meinungsäußerungen bzw. die Publikation dieser Meinungsäußerungen, die von der Verfassungsschutzbehörde für verfassungswidrig gehalten werden. Diese Einstufung und ihre Veröffentlichung im Verfassungsschutzbericht ist eine öffentliche Anprangerung. Sie zielt darauf ab, den Betroffenen aus dem demokratischen Diskurs auszugrenzen. Sie hat schwerwiegende Nachteile für den Betroffenen zur Folge, die von der Verfassungsschutzbehörde auch intendiert, zumindest aber vorausgesehen und in Kauf genommen sind. Dazu gehören im Falle eines Zeitungsverlages die Verminderung der Chance, Leser zu gewinnen, Abonnenten und Anzeigenkunden zu werben, Mitarbeiter, Autoren und Interviewpartner zu gewinnen, zu Diskussionsveranstaltungen, Talkshows und anderen öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen in Bildungseinrichtungen, Funkmedien usw. eingeladen zu werden und vieles mehr. Diese Folgen liegen auf der Hand. Was das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Sektenwarnung für die Religionsfreiheit gesagt hat, nämlich

"­­Es bedarf keiner näheren Darlegung, daß derartige öffentliche Äußerungen des Staates nicht zuletzt wegen der mit ihnen in Anspruch genommenen Staatsautorität für die Ausbreitung der angesprochenen Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft und ihre Rolle in der religiös-weltanschaulichen Auseinandersetzung, mithin für den von Art. 4 Abs. 1 GG geschützten Freiheitsraum ... schwerwiegende Folgen haben können. Diese Folgen sind, soweit sie das Verhalten der gewarnten Öffentlichkeit betreffen, beabsichtigt und im übrigen vorhergesehen und in Kauf genommen. Sie müssen daher mit ihrem vollen Gewicht dem Staat zugerechnet und wegen ihrer freiheitsmindernden Bedeutung als Grundrechtseingriffe behandelt werden."(14),

gilt für die Einstufung als "extremistisch" im Verfassungsschutzbericht erst recht. Die negativen Folgen sind evident, und sie sind intendiert. Der Verfassungsschutzbericht soll ja gerade die Allgemeinheit davon abhalten, sich in irgendeiner Weise mit den dort als "extremistisch" stigmatisierten Gruppen, Personen oder Publikationen einzulassen.

Da also die Verfassungsschutzbehörde als Reaktion auf in der Zeitung der Beschwerdeführerin publizierte Meinungen die Zeitung im Verfassungsschutzbericht als "extremistisch" anprangert, werden diese Meinungen und ihre Publikation durch die Beschwerdeführerin mit dem Verfassungsschutzbericht sanktioniert. Jede Sanktion für ein bestimmtes Verhalten ist zweifellos ein Grundrechtseingriff. Die Sanktion greift in dasjenige Grundrecht ein, in dessen Schutzbereich sie Lenkungswirkung entfaltet. Dies ist hier die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit und die Berufsfreiheit (sofern man nicht annimmt, daß die berufliche Betätigung im Pressebereich allein durch Art. 5 I 2 GG geschützt ist). Die Einstufung als "extremistisch" im Verfassungsschutzbericht "bestraft" nämlich Verhaltensweisen in den Schutzbereichen dieser Grundrechte, indem sie diese mit erheblichen Nachteilen belegt, und sie schreckt zugleich davon ab, solche Verhaltensweisen zu wiederholen: Wer vermeiden will, künftig im Verfassungsschutzbericht als Extremist bezeichnet zu werden, muß die Äußerung der als extremistisch qualifizierten Meinungen unterlassen.

Somit liegt auch unter diesem Aspekt eindeutig ein Eingriff vor.

(3) Dies ist besonders evident, wenn man berücksichtigt, daß nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ja Warnung oder Sanktion nicht einmal erforderlich sind, um einen Grundrechtseingriff durch staatliches Informationshandeln zu begründen, sondern daß schon die bloße hoheitliche Kritik eines grundrechtlich geschützten Verhaltens einen Eingriff darstellt.

...

(4) Erwähnung, daß Verdacht vorliegt, schließt Eingriff nicht aus

Diese Funktionen - hoheitliche Warnung, Sanktion und hoheitliche Kritik - hat der Verfassungsschutzbericht nicht nur insoweit, als er behauptet, die Verfassungsfeindlichkeit einer Bestrebung sei nachweisbar. Vielmehr hat er diese Funktionen ebenso, soweit er erwähnt, daß hinsichtlich bestimmter Gruppen tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht bestehen, daß sie verfassungsfeindliche Ziele verfolgen. Diese Gruppen werden durch den Verfassungsschutzbericht ebenso stigmatisiert wie die Gruppen, die nachweislich verfassungsfeindliche Ziele verfolgen. Der Verfassungsschutzbericht warnt vor allen Gruppen in der gleichen Weise und kritisiert sie wegen ihrer angeblich extremistischen Zielsetzung. Dies entspricht sowohl der Intention als auch der objektiven Funktion und der objektiven Wirkung der Verfassungsschutzberichte. Diese dienen ja dem "Verfassungsschutz durch Aufklärung der Öffentlichkeit", wie die nordrhein-westfälische Verfassungsschutzbehörde ihre mit den Verfassungsschutzberichten wahrgenommene Aufgabe selbst versteht (vgl. z.B. VSB 1994, S.238; VSB 1995, S.300), und wie die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage (§ 15 II VSG NW) den Zweck der Verfassungsschutzberichte ausdrücklich benennt. Die Öffentlichkeit soll über verfassungsfeindliche Bestrebungen aufgeklärt werden. Sie wird damit vor diesen Bestrebungen gewarnt. Diese Warnfunktion und die Warnwirkung mit ihren oben dargestellten einschneidenden Folgen für die Betroffenen haben die Verfassungsschutzberichte auch für diejenigen Gruppen, von denen der Verfassungsschutzbericht erwähnt, daß im Hinblick auf sie tatsächliche Anhaltspunkte für einen Verdacht bestehen. Dies gilt sowohl für die objektive Zwecksetzung des Verfassungsschutzberichts als auch für seine Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit. Der Verfassungsschutzbericht ist ein Mittel zur Bekämpfung einer Bestrebung, die die Verfassungsschutzbehörde als verfassungsfeindlich ansieht, auch wenn sie insoweit nur einen Verdacht hat. Dies ist nicht etwa nur eine Bewertung der Funktion des Verfassungsschutzberichts durch die Beschwerdeführerin, sondern dies entspricht auch dem Selbstverständnis der Verfassungsschutzbehörde. So hat das Innenministerium Nordrhein-Westfalen im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht ausdrücklich betont, es gehe darum, eine gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebung "in einem frühen Stadium, in dem nur tatsächliche Anhaltspunkte für einen diesbezüglichen Verdacht vorliegen" durch Aufklärung der Öffentlichkeit "zu bekämpfen"15  Auch das Verwaltungsgericht hat die "Warnfunktion" des Verfassungsschutzberichts ausdrücklich auch auf diejenigen Bestrebungen bezogen, hinsichtlich derer nur ein Verdacht besteht (S.20) Für die allgemeine Öffentlichkeit bedeutet die Erwähnung einer Person, Organisation oder sonstigen "Bestrebung" im Verfassungsschutzbericht, daß diese als "extremistisch" geächtet wird. Ein Unterschied zwischen Gruppen, die der Verfassungsschutzbericht als nachweislich extremistisch bezeichnet, und solchen, für die ein Verdacht geltend gemacht wird, wird in der öffentlichen Wahrnehmung der Verfassungsschutzberichte nicht gemacht. Wer dort genannt wird, gilt als "Extremist" und wird aus dem demokratischen Diskurs ausgeschlossen. Es ist offenkundig, daß sich insoweit alle relevanten gesellschaftlichen Gruppen an den Verfassungsschutzberichten orientieren: Einladungen zu Fernsehdiskussionen, zu Beiträgen in Zeitungen, zu Podiumsdiskussionen in Universitäten oder Erwachsenenbildungseinrichtungen usw. kommen für niemanden in Betracht, der im Verfassungsschutzbericht erwähnt wird." (...)

 

III.

Der Eingriff in die Grundrechte der Klägerin läßt sich nicht rechtfertigen. Voraussetzung für die Rechtfertigung wäre zunächst, daß der Beklagte überhaupt zuständig ist. Materiellrechtlich müßte sich der Eingriff auf eine verfassungsmäßige gesetzliche Grundlage stützen lassen. Im übrigen müßte die Anwendung der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage im konkreten Fall verfassungsmäßig, d.h. insbesondere mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar sein. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Denn zum einen fehlt dem Beklagten die Verbandskompetenz zur Berichterstattung über die JF (1.). Zum anderen ist die Berichterstattung über die JF durch die - verfassungskonform ausgelegte - Ermächtigungsgrundlage nicht gedeckt, weil diese nicht zur Berichterstattung in Verdachtsfällen ermächtigt (2.) und weil die Klägerin bzw. die JF keine "Bestrebung" i.S. von § 3 I Nr. 1 VSG NW ist (3.). Und darüber hinaus ist die Anwendung des Gesetzes auf den konkreten Fall mit den Grundrechten der Klägerin auch deshalb nicht vereinbar, weil (4.) die Klägerin bzw. die JF keine verfassungsfeindlichen Ziele verfolgt und weil (5.) auch keine hinreichenden Anhaltspunkte für den Verdacht vorliegen, daß sie solche Ziele verfolgt, weil weiterhin (6.) eine Gesamtbetrachtung den Eingriff nicht rechtfertigt, weil (7.) der Eingriff außerdem gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip verstößt und weil schließlich (8.) eine Verdachtsberichterstattung - wenn man sie denn überhaupt als zulässig ansieht - nicht über viele Jahre hinweg aufrechterhalten werden darf. (...)

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1 Pieroth/Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II. 16. Aufl. 2000, Rn. 240.

2 Vgl. neben Pieroth/Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II. 16. Aufl. 2000, Rn. 240, z.B. Hans-Ullrich Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte, 1970; Bleckmann/Eckhoff, DVBl. 1988, S.373; Gertrude Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, 1988; R. Eckhoff, Der Grundrechtseingriff, 1992; Beatrice Weber-Dürler, Der Grundrechtseingriff, VVDStRL 57 (1998), S.57 (insb. S.66ff., 74ff., 85ff.); Horst Dreier, in: ders. (Hg.), Grundgesetz-Kommentar Bd. 1, Vorb. Rn. 82 m.w.N.; Siekmann/Duttge, Staatsrecht I: Grundrechte, 1998, Rn. 154ff.; Michael Sachs, in: ders. (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, 2. Aufl. 1999, Vor Art. 1 Rn. 83ff. m.w.N.; zum Teil wird vorgeschlagen, hier auf den Begriff des Eingriffs zu verzichten, dennoch aber die grundrechtliche Rechtfertigungsbedürftigkeit anzunehmen, vgl. Jörn Ipsen, Staatsrecht II (Grundrechte), 1997, Rn. 123ff.

3 Vgl. z.B. Udo Di Fabio, Grundrechte im präzeptoralen Staat am Beispiel hoheitlicher Informationstätigkeit, JZ 1993, S.689ff.; Dietrich Murswiek, Staatliche Warnungen, Wertungen, Kritik als Grundrechtseingriffe, DVBl. 1997, S.1021ff.

4 BVerwGE 71, 183 (189ff.) - Transparenzlistenurteil; BVerwGE 82, 76 - Transzendentale Meditation ("Jugendsekten"-Urteil); BVerwG, 4.5.1993, NVwZ 1994, 162 (163); BVerwGE 87, 37 - Glykol; BVerwGE 90, 112 (118ff.) - Osho; BVerwG, 7.12.1995, DVBl. 1996, 807 - Warentests; BVerwG, 11.12.1996, NJW 1997, 1996ff. - Forschungskritik.

5 Zusammenfassende Darstellung dieser Rechtsprechung bei Murswiek, Staatliche Warnungen, Wertungen, Kritik als Grundrechtseingriffe, DVBl. 1997, S.1021 (1023f.).

6 BVerwGE 82, 76 (79) - Jugendsekten - TM; vgl. auch BVerwG, 4.5.1993, NVwZ 1994, 162 (163); BVerwGE 90, 112 (118ff.) - Osho.

7 BVerwGE 87, 37 (41ff.)

8 Vgl. z.B. Markus Heintzen, Staatliche Warnungen als Grundrechtsproblem, VerwArch. 1990, S.532ff.; ders., Hoheitliche Warnungen und Empfehlungen im Bundesstaat, NJW 1990, S.1448ff.; Friedrich Schoch, Staatliche Informationspolitik und Berufsfreiheit, DVBl. 1991, S.667ff.; Udo Di Fabio, Information als hoheitliches Gestaltungsmittel, JuS 1997, S.1ff.; Dietrich Murswiek, Staatliche Warnungen, Wertungen, Kritik als Grundrechtseingriffe, DVBl. 1997, S.1021ff.

9 Vgl. z.B. Murswiek, DVBl. 1997, S.1021 (1028).

10 BVerwG, 7.12.1995, DVBl. 1996, 807.

11 BVerwGE 71, 183 (189ff.).

12 Murswiek, DVBl. 1997, S.1024f.

13 Vgl. Murswiek, DVBl. 1997, S.1028.

14 BVerwGE 82, 76 (79) - Jugendsekten - TM; vgl. auch BVerwG, 4.5.1993, NVwZ 1994, 162 (163); BVerwGE 90, 112 (118ff.) - Osho.

15 Schriftsatz vom 8.11.1996 (Klageerwiderung), S.99.


 
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