© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de 43/03 17. Oktober 2003
 


Freiheit wagen - Werte leben
von Jörg Schönbohm

Erstens: Wir brauchen eine "Renaissance" bürgerlicher Werte. Dabei steht vornan, daß Verlustängste überwunden werden und dem Einzelnen persönliche Freiheit und Eigenverantwortung eine Richtschnur im Leben sind.

Zwischen individueller Freiheit und staatlicher Regelung muß umgehend wieder die Balance hergestellt werden. Der Staat und seine Bürokratie legen heute Regelungen fest, wo die Verantwortung des Einzelnen möglich ist. Anstelle von Intervention brauchen wir Wettbewerb, anstelle von Regulierung - Flexibilität, anstelle von Bürokratie - Freiräume für individuelle Entscheidungen.

Unser Menschenbild des freien, verantwortungsbewußten Bürger sollte unser Maßstab sein - an ihm ist zu messen, was er selbstverantwortlich entscheiden kann und was der Staat leisten muß. Der Grundgedanke ist einfach und klar. Die staatliche Umklammerung des Einzelnen muß verringert werden. (...)

Wenn der Staat beispielsweise - wie früher in der DDR - alle Entscheidungen trifft und Regelungen vorgibt, raubt er den Bürgern nicht nur Eigenverantwortung, sondern auch die Entscheidungsfreiheit und Möglichkeit, seine Fähigkeiten wahrzunehmen. (...)

Wir müssen die staatliche Umsorgung überall dort abbauen, wo der Einzelne für sich selbst sorgen kann. Das steigert seine persönliche Unabhängigkeit, sein Selbstvertrauen und auch sein "Glücksgefühl", wie es in der amerikanischen Verfassung als "pursuit of happiness" beschrieben ist.

Hierzu gehört zwangsläufig, daß unsere Bürger die Chance haben müssen, in ihrem Berufsleben Eigentum zu bilden. Freiheit, Eigenverantwortung und Eigentum stehen im gleichen Sinnzusammenhang. Das Streben nach Eigentum und Besitz und die Freude daran ist ein Wesensmerkmal des Menschen.

In diesem Zusammenhang ist es ein Muß, daß Steuerquote und Lohnnebenkosten gesenkt werden. Bei weniger Einnahmen kann der Staat weniger Aufgaben wahrnehmen, er ist auf seine Kernkompetenzen begrenzt, und die Sozialgesetze müssen dahingehend verändert werden, daß sie dem Bild und der Vorstellung vom freien, mündigen Bürger entsprechen.

Der Einzelne muß sich bewußt sein, daß er für die Risiken einzutreten hat, die er aus eigenem Entschluß eingeht. Der Einzelne gestaltet sein Leben verantwortlich - nicht der Staat bestimmt über ihn und seine Lebensgestaltung.

Jeder hat auch eine "Holpflicht" zum Beispiel bei seiner eigenen Ausbildung. Wer nicht bereit ist, zu lernen und die mit der Ausbildung verbundenen Anforderungen anzunehmen, darf sich nicht über geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt beklagen. Dem Staat obliegt natürlich die Bringpflicht bezüglich der Vielfalt der Schulen beziehungsweise Ausbildungsstätten.

Ebenso hat der Einzelne eine Bringschuld beim Finden eines Arbeitsplatzes und da eventuell Kompromisse einzugehen - hinsichtlich der Länge des Weges, der Art der Beschäftigung und der Veränderung des Wohnortes oder dergleichen.

Die Zeiten, in denen der Staat alle persönliche Unbill auszugleichen hatte, in denen alles organisiert und abgesichert war, müssen vorbei sein.

Wir leben in einem freiheitlichen System. Nach all dem Leid, dem Mißbrauch der Menschen, die im vergangenen Jahrhundert unter zwei Diktaturen in Deutschland gelitten haben, sollten wir den Wert der Freiheit angemessen bewerten.

Freiheit bedeutet nicht: Alles ist möglich, weil nichts verbindlich ist! Alle Optionen werden offen gehalten, denn es wird nur akzeptiert und getan, was Spaß macht. Beliebigkeit ist Trumpf. Nicht Freiheit wovon ... - sondern Freiheit wofür (!): Zur Gestaltung meines Lebens, das ich nur ein einziges Mal lebe. Freiheit und Verantwortung sind untrennbar miteinander verbunden. Nur mit Übernahme von Verantwortung für sich und die Gemeinschaft verwirklicht sich Freiheit.

Mit diesem sich bedingenden Freiheits- und Verantwortungsverständnis muß zweitens eine familienpolitische Vision und die Revitalisierung der Familie einhergehen.

Deutschland hat eine der niedrigsten Geburtenraten in der Europäischen Union. Wir stehen mit 1,3 Kindern pro Frau mit Italien, Spanien, Österreich und Griechenland am Tabellenende des EU-Vergleichs.

Die Konsequenzen sind dramatisch. Wenn wir nicht gegensteuern, wird die Bevölkerung in Deutschland bis zum Jahre 2050 auf 58 Millionen schrumpfen. Das Verhältnis Erwerbstätige zu Rentner wird sich auf zwei zu eins dramatisch verschlechtern.

Wir müssen umsteuern. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Die zentralen Fragen, die wir beantworten müssen, lauten: Wie wollen wir in Zukunft leben? Wie soll unser Gemeinwesen künftig funktionieren? Was müssen wir tun, damit Kinder in Deutschland wieder eine Haupt- und nicht nur eine Nebenrolle spielen?

Wir dürfen nicht vor niedrigen Geburtenraten kapitulieren oder sie als gegeben hinnehmen. Wir wollen nicht, daß der Staat bestimmt - wie in China -, ob und wieviele Kinder auf die Welt kommen. Für die Gemeinschaft und ein Alter in Würde ist ein ausgeglichenes zahlenmäßiges Verhältnis zwischen Jüngeren und Älteren wichtig.

Wir müssen uns damit beschäftigen, wie wir ein besseres Umfeld fürs Kinderkriegen und Erziehen in Deutschland schaffen. Steigerung der Geburtenrate: Das ist die Aufgabe, vor der wir stehen. Ein Gemeinwesen, das glaubt, auf Kinder verzichten zu können, verliert seine Zukunfts- und Innovationsfähigkeit. Es gibt keine Zukunft ohne Kinder!

Nicht der formale Anspruch, sondern die tatsächliche Bedürftigkeit entscheidet über eine Hilfeleistung. Dabei ist sozialstaatliches Handeln vom Menschenbild des freien und eigenverantwortlichen Bürgers her zu definieren.

Wir müssen eine aktive Bevölkerungspolitik betreiben und nicht vor diesem Begriff, weil er in der NS-Zeit diskreditiert wurde, Angst haben. - Zuwanderung ist keine Lösung für unsere demografischen Probleme. Wir würden mit einer unkontrollierten Zuwanderung die Integrationsleistung und -bereitschaft unserer Bevölkerung überfordern und im Ergebnis einer Fragmentierung unserer Gesellschaft Vorschub leisten.

Das Grundgesetz stellt die Familie unter seinen besonderen Schutz. Und nicht von ungefähr haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes auch formuliert: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht".

Die Erziehung der Kinder darf nicht an den Staat delegiert werden, aber die Eltern, die ihrem Beruf nachgehen wollen, müssen die Chance bekommen, für ihre Kinder eine Betreuungsmöglichkeit zu erhalten - das muß nicht die propagierte staatliche Kita sein. Mit einem Erziehungsgeld könnte man zum Beispiel den Eltern die individuelle Entscheidung ermöglichen.

Wir müssen für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sorgen. Keiner will die "Frauen-zurück-an-den-Herd". Aber es dürfen nicht diejenigen verunglimpft werden, die ihren Platz als Hausfrau und Mutter zu Hause sehen und den Familien auf diese Weise dienen.

Wir sollten uns wieder ganz bewußt zur Familie bekennen. Durch die Anerkennung der Arbeit der Hausfrau und Mutter sollte dieser wichtigen Leistung ein neuer Wert gegeben werden. Auch auf die Gefahr hin, daß die Emanzipationsbewegung laut aufschreit. Kinder lernen die Muttersprache - Mütter sind nicht zu ersetzen. Wir sollten ihre Leistungen anerkennend ehren und dies auch bei der Rentenreform berücksichtigen, wie es die Union vorschlägt.

Wir brauchen drittens ein neues Sozialstaatsverständnis, das die bisherigen Erfahrungen berücksichtigt.

Roman Herzog hat völlig recht, wenn er sagt: "Der übertriebene Staat gründet auf einer Lüge: Angeblich hilft er den Menschen, aber in Wirklichkeit macht er sie abhängig von der Versorgung und erstickt ihre Antriebskräfte."

Und er sagt noch etwas sehr Richtiges: "Wir haben so viel Sozialstaat aufgebaut, daß er unsozial geworden ist. In allerbester Absicht haben wir das Gegenteil dessen erreicht, was wir wollten." (Interview mit der Initiative Soziale Marktwirtschaft, Homepage, 22. August 2003) (...)

Dazu gehören mehr Eigenverantwortung und Eigenleistung bei der Renten- und Gesundheitsvorsorge.

Der Sozialstaat ist für Notlagen da und nicht für "Dolce Vita". Sozialhilfe und Rentenauszahlung nach Florida oder der Tauchkurs auf Capri für den schwererziehbaren Jugendlichen führen den Sozialstaatsgedanken ad absurdum.

Gegenwärtig gibt der Staat überwiegend das Geld für den Erhalt des Status quo und nicht für Zukunftsinvestitionen aus. Das bedeutet Stillstand. Wir leben heute von der Substanz.

Es darf künftig nicht mehr heißen: Was bekomme ich? Was können andere für mich tun? Sondern wir müssen fragen: Was kann ich selbst tun? Wie kann ich mich selbst einbringen? Auch der Empfänger von Hilfe kann anderen helfen und dem Gemeinwesen dienlich sein - das Gemeinwesen hilft ihm, und er dankt es - welch altmodischer Begriff - durch die Gemeinleistung, zu der er fähig ist. So verstandene Hilfe ist kein Almosen!

Nicht der formale Anspruch, sondern die tatsächliche Bedürftigkeit entscheidet über eine Hilfeleistung.

Sinn und Ziel einer staatlichen Unterstützung ist die Absicherung von existenz- und lebensbedrohende Risiken. Wir müssen eine politische Grenze sozialstaatlicher Einwirkung ziehen und dann auch danach handeln. Dabei ist sozialstaatliches Handeln vom Menschenbild des freien und eigenverantwortlichen Bürgers her zu definieren.

Viertens: Wohlstand fällt nicht wie eine gebratene Taube in den Mund. Jede Generation muß sich ihren Wohlstand wieder neu erarbeiten. In Deutschland sollten wir uns bewußt werden, daß bis 2010 rund zwei Billionen Euro vererbt werden. "Was Du ererbst von Deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen", sagt ein Klassiker.

"Ein Volk, das seiner Gegenwart und Zukunft gewiß sein will, hat (...) keine andere Wahl, als seine Leistungsbereitschaft zu steigern und sich dessen bewußt zu sein, daß es die richtigen Entsprechungen zwischen Verbrauchen und Sparen, aber auch zwischen Arbeitszeit und Freizeit zu finden und zu wahren hat. Andere Verlockungen sind billig und leichtfertig: sie kommen der Neigung zur Bequemlichkeit entgegen und wirken sich um so fluchwürdiger aus" - so Ludwig Erhard. (Ludwig Erhard: Deutsche Wirtschaftspolitik. Econ-Neuauflage 1992, S. 393)

Unsere Mitbürger müssen am Arbeitsmarkt teilhaben können, jeder nach seiner Leistungsfähigkeit. Ein Bündel von Maßnahmen, die alle bekannt sind, ist durchzusetzen.

Hierbei werden Besitzstände - auch der Organisationen - zugunsten der Mitarbeiter in Frage gestellt. Das reicht vom Kündigungsschutz und vom Bündnis für Arbeit bis hin zum Niedriglohnsektor. Könnten Arbeitnehmer und die Tarifpartner vor Ort nicht besser entscheiden, was für sie richtig ist, als die Funktionäre in fernen Zentralen?

Sobald unsere Bürger die Möglichkeit haben, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten in unserer Sozialen Marktwirtschaft nach ihrem eigenen Willen einzubringen, haben sich andere staatliche Reglementierungen jenen unterzuordnen. Auch verkürzte Schul- und Ausbildungszeiten sind notwendig - ebenso wie verlängerte Lebensarbeitszeiten. Freizeit und Arbeitszeit müßten sich zugunsten der Arbeitszeit verändern.

Ist es wirklich unser Bestreben, als größter Freizeitpark ins Guinness-Buch-der-Rekorde einzugehen? Die Mitarbeiter eines mittelständischen Sägenherstellers zum Beispiel arbeiten in Deutschland jährlich 1.500 Stunden. Ihre Kollegen im Schweizer Werk 1.842 Stunden und in China fast 2.000 Stunden. - Ist die Schweiz etwa ein unsoziales Land?!

Zur Fron kann Freizeit werden, wenn Langeweile vorherrscht!

Viele von uns kennen noch die 48- und die 45-Stunden-Woche und den Samstag als vollen Arbeitstag. Bis 1957 betrug der tariflich festgelegte Jahresurlaub zwölf Tage, Samstage einberechnet. Fühlten wir uns damals ausgebeutet? - Ist es für uns wirklich unzumutbar, wenn wir heute eine oder zwei Wochenstunden Mehrarbeit ohne Lohnausgleich leisten oder auf ein, zwei Urlaubstage verzichten und die Lebensarbeitszeit tatsächlich bis zum 65. Lebensjahr ausschöpfen und gegebenenfalls später bis zum 67. Lebensjahr verlängern?

Das Arbeitseintrittsalter beginnt zu spät. So liegt das mittlere Alter von Hochschulabsolventen in Irland, Japan, Österreich und Großbritannien bei 23 Jahren - in Deutschland bei 26 Jahren. Wir müssen schneller werden! 13 Jahre bis zum Abitur sind einfach zu lang. Das wissen wir, aber was tun wir? - Bisher nichts. Es gilt: Schulzeit verkürzen, Hochschulstudium straffen, Arbeitszeit verlängern.

Fünftens: Lassen wir keine neuen Neiddebatten zu. Zur Freiheit gehört der Unterschied, die Ungleichheit. Gewinn zu erwirtschaften, ist die Grundlage wirtschaftlichen Denkens. Unternehmerischer Erfolg ist keine Schande, sondern Voraussetzung für das Überleben eines Betriebes!

In einer Umfrage des Instituts der Deutschen Wirtschaft im Frühjahr 2001 sahen es nur 8 Prozent der Deutschen als vordringlichste Aufgabe von Unternehmen an, Gewinne zu realisieren und zu investieren. Knapp 40 Prozent aber erwarteten von Unternehmen vor allem, daß sie Arbeitsplätze schaffen und erhalten. - Welch ein Unverstand gegenüber unternehmerischem Wirken und Geist!

Ein Unternehmen kann neue, zukunftssichere Arbeitsplätze nur dann zur Verfügung stellen, wenn es wirtschaftlich erfolgreich ist.

Primäres Ziel des Unternehmers ist es, Gewinn zu machen. Aufgabe des Unternehmers ist es, Ressourcen zu finden, zu bündeln, zu organisieren und so auszurichten, daß Gewinn verwirklicht werden kann: durch Innovation, durch Absatz, durch die Erschließung neuer Märkte, durch Wirtschaftswachstum. Erst in diesem Zusammenhang ergeben sich nachhaltige Arbeitsplätze.

Eine leistungsstarke Wirtschaft mit einem freien und dynamischen Unternehmertum ist die Voraussetzung für einen Staat, der das Notwendige für seine Bürger leisten kann. Deshalb dürfen Kreativität und Unternehmergeist nicht in Bürokratie und in Steuer- und Abgabenlasten ersticken. (...)

Noch scheint vielen Bürgern in Deutschland die Gleichheit aller wichtiger zu sein. Die Gleichheit aller - nach wie vor von "links" propagiert wird - erweist sich als Utopie hinsichtlich der menschlichen Unterschiede in Charakter, Wesen, Bedürfnissen. Schon die menschlichen Grundbedürfnisse in der Familie erfahren wir als grundverschieden. Schon bei unseren kleinen Kindern bemerken wir ganz unterschiedliche Verhaltensweisen und Reaktionen.

Wer die Gleichmäßigkeit aller will, schafft dies durch staatliche Bevormundung und Unfreiheit. Genau das wollen wir nicht!

Die Gleichheit aller ist nach den demoskopischen Aussagen ein hohes Gut in unserer Bevölkerung. Sie hat in der Zustimmung zugenommen.

Wir müssen unseren Bürgern deutlich machen, daß es in unserer Gesellschaft Ungleichheiten unterschiedlichster Art gibt. Ebenso wie es Ungleichheiten im Aussehen, Gang, Geschmack, Bedürfnissen, Geist und sonstigen Talenten gibt, sind unterschiedliche Leistungen vorhanden.

Es geht um Chancengerechtigkeit für alle - sie ist keine Chancengleichheit, weil die Menschen unterschiedlich sind. (...)

Sechstens: Der "Konsensföderalismus" hat uns in eine Sackgasse geführt. Wir müssen das föderale System vom Kopf wieder auf die Füße stellen.

Konsens ist die harmonischste Art des Stillstands. Reformen werden verwässert oder kommen gar nicht erst zustande. Deshalb ist die Reform des föderalen Systems in Deutschland so wichtig.

Es geht nicht darum, das Rad neu zu erfinden. Es geht um die Revitalisierung des Föderalismus, die Wiederherstellung der föderalen Symmetrie, ein Ende der Verfilzung.

Bernhard Vogel hat vor kurzem in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung darauf hingewiesen, daß das Grundgesetz ursprünglich 13 Fälle vorgesehen hatte, bei denen die Zustimmung des Bundesrates erforderlich werden würde. Heute bedürfen fast 60 Prozent aller vom Bundestag verabschiedeten Gesetze dieser Zustimmung. (FAS, 31.August 2003)

Die Föderalismuskommission soll deren Mißbrauch beenden. Aber unabhängig davon müssen wir gemeinsam in dem jetzigen System die wichtigsten Reformschritte beginnen. - Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Es geht um unsere Zukunft. (...)

Wir müssen die Auseinandersetzung politisch an den Grundfragen führen: für Freiheit, Eigenverantwortung, Solidarität, Eigentum oder stattdessen für staatliche Umsorgung, Abhängigkeit, Gleichheit. Sind die Grundfragen beantwortet, können wir die anderen Aufgaben in diesem Sinne lösen. - Weniger Steuerabgaben, weniger staatliche Aufgaben, mehr Eigenverantwortung - auch im Renten- und Gesundheitssystem.

Lassen wir keine neuen Neiddebatten zu. Zur Freiheit gehört der Unterschied, die Ungleichheit. Gewinn zu erwirtschaften, ist die Grundlage wirtschaftlichen Denkens. Unternehmerischer Erfolg ist keine Schande.

Siebtens: Ein rohstoffarmes Hochlohnland wie Deutschland muß auf seine Köpfe setzen. Wir müssen Bildung, Innovation und Leistung fördern! Sie sind die Grundlagen für Wohlstand und Beschäftigung.

Schule wurde in Deutschland zulange "ausprobiert" und die Kinder als "Versuchskaninchen" gesehen. Die SPD-regierten Länder jagten jede Schülergeneration durch einen neuen Schulversuch.

Es war die hessische SPD, die Anfang der siebziger Jahre so elementare Dinge wie das Erlernen der deutschen Rechtschreibung als "sekundär" abtat. Ich zitiere sinngemäß aus den damaligen Rahmenrichtlinien: "Die Überbewertung der Rechtschreibung in Schule und Öffentlichkeit muß korrigiert werden. Die Schule darf die Beherrschung der Rechtschreibung nicht zum Kriterium für Eignungsbeurteilung und Versetzungen machen. (...) Die Rechtschreibung ist dazu da, Mißverständnisse beim Lesen von Texten zu verhindern."

Ergebnis: Viele Schüler scheitern bei ihren Bewerbungen an Grundanforderungen im Lesen, Schreiben und Rechnen.

Die Skepsis gegenüber dem Wettbewerb und dem Leistungsprinzip, das Erheben der Gleichmacherei zum gesellschaftspolitischen Leitbild, hat genau jenes Gleichmaß produziert, an dem wir heute leiden - die 68er lassen grüßen.

Jeder Mensch ist einmalig und ist es wert, daß er seine Chance bekommt. Es gibt keine unterschiedliche Wertigkeit von Menschen. Aber es gibt unterschiedliche Begabungen, Fähigkeiten und Veranlagungen.

Das Abfordern von Leistung ist ein zentrales Anliegen pädagogischen Handelns. Kinder und Jugendliche wollen und können stolz sein auf ihre Leistungen - überall, auch in der Schule.

Es ist gut und richtig, Schwache besonders zu fördern. Ebenso muß es aber normal sein, Starke entsprechend zu fordern, sonst verkümmern Talente, die dringend gebraucht werden.

Nachhilfeunterricht für Schüler mit "Teilleistungsstörungen" gibt es nahezu an jeder Schule, gezielten Förderunterricht für die schätzungsweise 300.000 hochbegabten Kinder dagegen so gut wie nicht.

Nicht für alle das Gleiche, sondern für jeden das Beste! Das muß die Devise sein. Wer in der Schule nicht begreift, daß Leistung zum Leben gehört und auf eigener Anstrengung beruht, der wird sich in unserer Leistungsgesellschaft nicht durchsetzen können. Wer glaubt, mit Ganztagsschulen sei es getan, irrt. "Verwahranstalten" bringen uns nicht weiter.

Alfred Herrhausen hatte recht, als er sagte: "Es ist kein Luxus, große Begabungen zu fördern, es ist Luxus, und zwar sträflicher Luxus, dies nicht zu tun."

Hans-Jochen Vogel, seinerzeit SPD-Vorsitzender, rechnete es sich als Beweis persönlichen Mutes an, die Notwendigkeit von Eliten nicht zu bestreiten und der DGB machte seinen ganzen Einfluß geltend, um eine Elitediskussion im Keim zu ersticken.

Bis zum heutigen Tage werden die Linken nicht müde zu behaupten, Eliten würden im Widerspruch zum "Gleichheitsprinzip" moderner demokratischer Gesellschaften stehen und der "Restaurierung einer hierarchisch-aristokratischen Gesellschaftsordnung" Vorschub leisten. Was für ein Unsinn! Ohne Eliten sind wir nicht leistungs- und wettbewerbsfähig - weder in der Forschung und Wissenschaft noch der Industrie.

Ein Land, das Eliten hat, kann aus den Besten auswählen. In einem Land ohne Eliten regiert dagegen das Mittelmaß. Und darum muß uns die Abwanderung der leistungsfähigen Wissenschaftler, Konstrukteure und Unternehmer, um einige zu nennen, Sorgen machen - da müssen wir gegensteuern und die Ursachen beseitigen. - Wir diskutieren die Zuwanderung und tun nichts, um die Auswanderung der Besten zu verhindern.

Wie steht es denn um den Forschungsstandort Deutschland? Wir müssen im Technologiebereich in der Weltspitze mitspielen, sonst werden wir unsere wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht bewältigen können.

Wir dürfen uns nicht an denen orientieren, die hinter uns liegen. Wir konkurrieren mit den USA und den südostasiatischen Ländern - und nicht mit Albanien. Forschungspolitik muß gestaltet werden - und nicht verwaltet. In der Vergangenheit wurden auch zu viele Dinge zum Tabu erklärt (zum Beispiel in der Gentechnologie) und Schutzzonen - "Bitte nichts ändern" - eingerichtet. Im Ergebnis finden Forschung und Entwicklung zunehmend außerhalb Deutschlands statt. Gleichzeitig verlassen immer mehr deutsche Wissenschaftler unser Land. Sie forschen in der Schweiz, Großbritannien und den USA. Wir müssen den Ursachen für diesen "Brain-Drain" nachgehen. Wir müssen alles tun, daß diese klugen Köpfe wieder zurückkommen und ihre Kreativität hier bei uns einsetzen!

Wir haben die Pflicht, den von Bundespräsident Roman Herzog im April 1997 (!) geforderten "Ruck" nun endlich durch die Gesellschaft gehen zu lassen.

 

Jörg Schönbohm ist Innenminister und Stellvertretender Ministerpräsident des Landes Brandenburg sowie Vorsitzender der CDU Brandenburg. Bei diesem Text handelt es sich um die stark gekürzte Fassung seiner Rede anläßlich der Verleihung des Mittelstandspreises der Bundesvereinigung mittelständischer Unternehmer (BMVU) und des nordrhein-westfälischen Landesverbandes des Bundes der Selbständigen (BDS) am 9. Oktober in Berlin.


 
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