© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/03 31. Oktober 2003

Den eigenen Ast absägen
Föderalismus: Diskussion um Zusammenlegung von Bundesländern ist neu entfacht / Machtverteilung zwischen Bund und Ländern soll ebenfalls neu geregelt werden
Peter Freitag

Das Bundesgebiet kann neu gegliedert werden, um zu gewährleisten, daß die Länder nach Größe und Leistungsfähigkeit die ihnen obliegenden Aufgaben wirksam erfüllen können. Dabei sind die landsmannschaftliche Verbundenheit, die geschichtlichen und kulturellen Zusammenhänge, die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit sowie die Erfordernisse der Raumordnung und der Landesplanung zu berücksichtigen", heißt es seit 1976 im Artikel 29 des Grundgesetzes.

Genau die Sorge um jene Leistungsfähigkeit veranlaßte einige Politiker unterschiedlicher Parteizugehörigkeit, eine Neugliederung der Bundesländer zu fordern. Bereits im Januar dieses Jahres verlautbarten Wolfgang Schäuble (CDU), der baden-württembergische Wirtschaftsminister Walter Döring (FDP) und die Grünen-Politikerin Christine Scheel, daß sie für eine Reduzierung der Zahl der Bundesländer eintreten. Dabei reichen die Vorschläge für die als sinnvoll erachtete Anzahl von sieben bis neun anstelle der derzeit existierenden 16 Länder. Lediglich die großen und finanzstarken Länder Baden-Württemberg, Bayern und Hessen würden nach Dörings Vorstellung in ihrem Bestand unangetastet bleiben; Bremen würde dagegen in Niedersachsen aufgehen, Hamburg mit Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern zusammengelegt, das Saarland mit Rheinland-Pfalz, Sachsen mit Thüringen und Sachsen-Anhalt sowie Brandenburg mit Berlin fusionieren.

Übereinstimmendes Ziel der Vorschläge ist die Reduzierung von Bürokratie und die damit verbundene Kostensenkung im Staatsapparat. Insbesondere bei den kleinen Ländern ist die Höhe der finanziellen Aufwendungen für die politische Führung gemessen an der Einwohnerzahl, die von dieser Führung repräsentiert wird, überproportional groß. Nach Schätzungen des Bundes der Steuerzahler könnte die Halbierung der Zahl der Bundesländer nicht nur Einsparungen in Milliardenhöhe nach sich ziehen, sondern auch den umstrittenen Länderfinanzausgleich obsolet werden lassen.

Bundesländer sollen mehr Eigenständigkeit erhalten

Mit der Neuordnung des krisengeschüttelten deutschen Föderalismus wird sich zukünftig auch ein neuer Ausschuß des Bundes und der Länder unter dem Vorsitz des SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzenden Franz Müntefering und des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber befassen. Zur Debatte steht hierbei zuvorderst jedoch nicht die Neugliederung, sondern die vertikale Machtverteilung zwischen den Ländern und dem Bund. Seit der Verfassungsreform von 1969 hat der Bund die Befugnis, die Länder auf eine einheitliche Konjunktur- und Haushaltspolitik zu verpflichten. Die gesetzgeberische Befugnis der Bundesländer beschränkt sich im wesentlichen auf die Anwendung von Vorgaben des Bundes. Zwar haben die Länder dafür weitergehende Kompetenzen im Bundesrat erhalten, doch wiegt dies den Machtverlust der Landtage bei der Gesetzgebung nicht auf.

Gemäß der Artikel 91a und 91b GG sind Bund und Länder zur gemeinsamen Planung und Finanzierung von Aufgaben verpflichtet, die grundsätzlich in den Kompetenzbereich der Länder fallen. Die finanzschwächeren Länder werden somit in ihrer (vom Bund vorgegebenen) Leistung überfordert und brauchen Zuwendung vom Bund und den stärkeren Ländern. Im übrigen gilt nach Artikel 72 GG der Grundsatz der "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" in den Ländern. Daraus resultiert der horizontal zwischen den Bundesländern praktizierte Finanzausgleich, bei dem die reicheren den ärmeren Ländern eigene Steuereinnahmen zuführen müssen. Das wiederum schränkt neben dem Zugriff des Bundes die Selbständigkeit der Länder ein, was natürlich eher die finanzstärkeren Landesregierungen stört.

Ob und inwieweit die neu eingesetzte Kommission den Föderalismus im Sinne einer Aufwertung der Länder zu stärken vermag, bleibt abzuwarten. Die Tatsache, daß allein in den letzten zwanzig Jahren insgesamt mehr als 30 Kommissionen angetreten, Resolutionen verabschiedet und Beschlüsse gefaßt worden sind, stimmt wenig hoffnungsfroh.

Grundsätzlich herrscht Einigkeit, daß im Zuge der verstärkten Entflechtung zwischen Bund und Ländern letztere zu mehr Eigenständigkeit und damit auch mehr Wettbewerb untereinander gelangen sollen. Dies wiederum setzt aber vergleichbare Ausgangsbedingungen voraus, die unter den gegebenen Zuständen nicht vorherrschen. Weil die kleineren und finanzschwächeren Länder stärker vom Zentralstaat abhängig sind, "verbünden" sie sich mit dem Bund gegen die Interessen der Großen.

Bereits vor dreißig Jahren legte die Ernst-Kommission (so benannt nach ihrem Vorsitzenden, dem ehemaligen Staatssekretär Werner Ernst) einen Bericht vor, der die in wirtschaftliche, finanzielle, politische und administrative Gesichtspunkte unterteilte Leistungsfähigkeit der Länder zum Maßstab ihrer sinnvollen Existenz machte; damit sie verwaltungstechnisch adäquat sind, sollten nach Auffassung dieser Kommission alle Länder über mindestens fünf Millionen Einwohner verfügen. Das trifft derzeit auf gerade einmal weniger als ein Drittel der Bundesländer zu, nämlich auf Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Das Saarland beispielsweise verfügt über weniger Einwohner (1.069.000) als jeder der sieben bayerischen Regierungsbezirke, genauso sieht es bei einem entsprechenden Vergleich von Mecklenburg-Vorpommern (1.776.000 Einwohner) mit den Bezirken des Landes Nordrhein-Westfalen aus. Der im Grundgesetz festgeschriebene Anspruch auf "landsmannschaftlicher Verbundenheit" ist darüber hinaus ein Euphemismus. Denn selbst die Länder, die ihre Grenzen nicht allein Beschlüssen der alliierten Besatzungsmächte verdanken, sondern älteren Ursprungs sind, entstanden eher aus früheren dynastischen Zusammenhängen als auf der Grundlage verwandter Stämme.

Wie stark der einzelstaatliche Egoismus dennoch verhaftet ist, zeigt sich dieser Tage in den Verhandlungen über die "Initiative Mitteldeutschland". Die Länder Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen hatten bereits im Herbst des vergangenen Jahres in verschiedenen Ressorts (hauptsächlich der Innen- und Justizministerien) Arbeitsgruppen zur länderübergreifenden Zusammenarbeit gebildet. Als Zielvorstellung diente in den daraufhin am 1. Mai dieses Jahres vereinbarten "17 Punkten von Gera" die Zusammenlegung verschiedener Behörden und Aufgabenbereiche der drei mitteldeutschen Länder, unter anderem der Statistischen Landesämter, der Feuerwehrschulen, der Forstanstalten, der Materialprüfungsanstalten sowie diverser Gerichte. Außerdem sollten in den Bereichen Soziales, Bergbau und Geologie Aufgaben zusammengelegt werden. Bisher verfügen alle drei Länder über jeweils eine eigene Behörde für derlei Aufgabenbereiche, obwohl sie zusammengenommen weniger Einwohner haben als die Länder Bayern und Baden-Württemberg allein.

Die drei Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer (Sachsen-Anhalt), Dieter Althaus (Thüringen) und Georg Milbradt (Sachsen) beschlossen während eines Treffens in Merseburg am vergangenen Wochenende, daß bis Ende 2004 drei Staatsverträge und drei Ländervereinbarungen die übergreifende Zusammenarbeit vor allem im Straf- und Justizvollzug regeln sollen. Doch bereits im Vorfeld des Treffens wurde der diesbezügliche Elan gebremst; so teilte man mit, daß sich die Zusammenlegung der Kompetenzen schwieriger als erwartet gestalte und eine Behördenfusion im größeren Umfang daher nicht wahrscheinlich sei.

Im Januar hatte es dagegen in einer Pressemitteilung des Justizministeriums Sachsen-Anhalt noch geheißen: "Die Minister waren einig, daß mit der Aufgaben- und Behördenkonzentration erhebliche Einspar- und Synergieeffekte zu erreichen sind." Nun aber tat der Chef der sächsischen Staatskanzlei, Stanislaw Tillich, kund, daß unterschiedliche Strukturen und Arbeitsabläufe ein Zusammengehen der Behörden erschwerten. Tillich: "Da merken wir, daß 1990 beim Aufbau der Verwaltung in Thüringen hessische Berater am Werke waren, in Sachsen-Anhalt die Niedersachsen und bei uns Berater aus Bayern und Baden-Württemberg. Diese drei Kulturen zusammenzubringen, wird etwas länger dauern."

Vor allem aber Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) war vor dem Merseburger Gipfel bereits zurückgerudert und auf Distanz zur "Initiative Mitteldeutschland" gegangen. Eine länderübergreifende Zusammenlegung von Behörden, so Althaus, laufe auf eine Fusion der drei Bundesländer hinaus. Seiner Vorstellung nach müsse jedoch statt dessen die "Identität der Länder gestärkt werden". In der Thüringer Allgemeinen wurde als Grund für diesen Rückzieher spekuliert, daß Althaus vor den Wahlen zum Erfurter Landtag im Juni 2004 keine Debatte darüber gebrauchen könne, welche Standorte Thüringen abgeben muß, zumal das Land beim Arbeitsamt Sachsen-Anhalt-Thüringen und bei der Thüringisch-Hessischen Landesbank bereits das Nachsehen hatte.

Klar ist, daß insbesondere die Länder, deren Selbständigkeit bei möglichen Fusionen auf dem Spiel stünde, gegen derartige Überlegungen mauern. Während Vertreter der niedersächsischen Landesregierung sich schon einmal dahingehend geäußert haben, daß ein Aufgehen Bremens in den benachbarten Flächenstaat sich "anbieten würde", heißt es in Bremen, dies sei kein Thema. Bisher hat einzig der Brandenburger Ministerpräsident Matthias Platzeck neuerliche Pläne für eine Fusion mit Berlin auf die Tagesordnung gesetzt. "Dafür haben wir einen konkreten Fahrplan", so der SPD-Politiker schon zu Beginn des Jahres. Er verwies auf eine mögliche Volksabstimmung darüber im Jahr 2006, die Fusion selbst könnte dann 2009 erfolgen. Seiner Meinung nach könnte diese Verschmelzung "durchaus Vorbildcharakter haben".

Neugliederung der Länder ist schwerlich zu realisieren

Mittlerweile scheint dieser Zeitplan allerdings nicht mehr umsetzbar, da vor allem die desolate Haushaltslage der Bundeshauptstadt einen Hemmschuh für Verhandlungen darstellt. Außerdem hatten schon einmal die politisch Verantwortlichen beider Länder eine Niederlage in der Abstimmung über die Fusion erlitten. 1996 wurde ein Staatsvertrag zwischen Berlin und Brandenburg zwar mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit in beiden Parlamenten angenommen. Bei der für Änderungen der Länderzuschnitte notwendigen Volksabstimmung am 5. Mai 1996 sprachen sich jedoch 62,7 Prozent der brandenburgischen Bevölkerung gegen den Zusammenschluß aus. Die letzte erfolgreiche Länderfusion wurde 1952 mit der Bildung des Südweststaates Baden-Württemberg vollzogen (wobei dies auch erst im zweiten Anlauf gelang, da die Badener ihre Unabhängigkeit zunächst nicht einbüßen wollten).

In einem Beitrag für die Beilage der Zeitschrift Das Parlament stellte der Politikwissenschaftler Arthur Benz kürzlich fest, daß eine "Neugliederung des Bundesgebiets schwerlich zu realisieren ist". Als Grund dafür machte er unter anderem die "Regionalisierung innerhalb der Parteien" verantwortlich: Die Interessendivergenzen zwischen den Landes- und den Bundespolitikern hätten in den letzten Jahre zugenommen.

Da in einem Landtagswahlkampf die Forderung, das eigene Bundesland - und somit die Grundlage der eigenen Machtausübung - aufzulösen, wenig bis überhaupt nicht erfolgversprechend für eine Partei ist, bleibt ein solches Szenario unwahrscheinlich. Nicht nur den Politikern, sondern auch Verbandsfunktionären in den angestammten Strukturen und eingefahrenen Abläufen drohte in einem solchen Fall der Verlust des "Arbeitsplatzes": Mitt einem solchen Maß an Altruismus, sich den eigenen Ast abzusägen, ist daher eher nicht zu rechnen.

Zur notwendigen Reform des bundesdeutschen Föderalismus bliebe, so Benz, diesbezüglich nur die horizontale, regionale Zusammenarbeit zwischen einzelnen Bundesländern. Der aktuelle Verlauf im Fall der Länder Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen zeigt, wie argwöhnisch selbst diese Schritte von denjenigen beäugt werden, die einen daraus resultierenden Verlust von Befugnissen befürchten müssen.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen