© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/03 31. Oktober 2003

Von der Wut weggefegt
Vor achtzig Jahren kämpften rheinische Separatisten für einen eigenen Staat, bis sie selbst den Rückhalt der alliierten Besatzungsmächte verloren
Manfred Müller

Drei Schritt neben mir, an einem Fenster zur Karl-Wilhelm-Straße stehend, starb der junge Polizist Lenssen an einem Kopfschuß. Er war sofort tot. Es war der erste Tote, den ich sah. Er wurde in einer Zeltbahn an mir vorbei weggetragen. Das Blut tropfte zu Boden." Dies erlebte der 18jährige Primaner Paul Kleinewefers (später ein erfolgreicher Industrieller) am 24. Oktober 1923. Als Angehöriger der Hilfspolizei verteidigte er zusammen mit regulären Polizeieinheiten das Krefelder Rathaus gegen 900 schwerbewaffnete, von den belgischen Besatzern begünstigte Separatisten.

Er ahnte nicht, daß um diese Zeit selbst Paul Tirard, französischer Hoher Kommissar bei der interalliierten Rheinlandkommission (höchstes Organ der Besatzungsmächte Frankreich, Belgien und Großbritannien im besetzten Rheinland), die Separatisten als "Hefe des Volkes" und "Landstreicher" abqualifizierte. Deren Führer, die Dorten, Smeets, Matthes und Konsorten, wollten die Existenzkrise des Reiches (galoppierende Inflation infolge der Ruhrbesetzung, Bürgerkriegstendenzen in Sachsen, Thüringen und Bayern) ausnutzen, um nun durch Gewaltaktionen eine Rheinische Republik zu schaffen - sei es als Pufferstaat zwischen Deutschland und Frankreich, als Annexionsobjekt für Frankreich oder als autonomes Gebilde im Rahmen des Reiches, je nach den Möglichkeiten der internationalen Lage. Bei ihrer Propaganda bemühten sich die Separatisten, die wirtschaftliche Verelendung, negative Kulturkampfreminiszenzen und antipreußische Gefühle im Rheinland auszubeuten.

Tirard, der bei allen chauvinistischen Empfindungen keine offene Annexion anstrebte, sondern das Rheinland nur einer dauernden französischen Kontrolle unterwerfen wollte, wußte genau, daß die überwältigende Mehrheit der Rheinländer die Separatisten (Sonderbündler) als "Verräter und Söldlinge des Auslands" betrachtete. Der "Düsseldorfer Blutsonntag" (30. September1923) war ein erschreckendes Vorspiel der Bürgerkriegsszenen des Oktober und November 1923 gewesen. 17 Tote (davon 5 Polizisten) und zahlreiche Verwundete gab es bei der gewalttätigen Massendemonstration, zu der die Sonderbündler ihre Anhänger aus der preußischen Rheinprovinz (samt bewaffneter Einheiten des "Rheinlandschutzes") ins rechtsrheinische Düsseldorf geholt hatten, wo die französische Besatzungsmacht die deutsche Polizei entwaffnete und die Beamten und die reichstreue Bevölkerung der Willkür der Separatisten preisgab.

Am 21. Oktober 1923 schlug der Likörfabrikant Leo Deckers, gedeckt von nationalistischen Scharfmachern der belgischen Besatzungsmacht, mit Einheiten des "Rheinlandschutzes" in Aachen los. In wenigen Tagen waren die meisten Rathäuser der größeren Städte in der belgischen und französischen Zone (von Wiesbaden und Trier bis hin zum Niederrhein) in den Händen der Separatisten. Die beiden Hohen Kommissare wurden durch die Ereignisse überrascht; ihre Regierungen in Paris und Brüssel gaben die Losung aus: "wohlwollende Neutralität" zugunsten der Separatisten, was dann vor Ort meist überaus großzügig ausgelegt wurde. Die Briten aber duldeten in ihrer Zone keinerlei separatistische Gewaltaktionen.

Gegenwehr quer durch alle Parteien und Ideologien

So entstand eine Patt-Situation. Die bewaffneten Separatisten, fast überall von den belgischen und französischen Besatzern unterstützt, maßten sich die politische Herrschaft an, konnten sich aber nicht durchsetzen, da die meisten Bürger und deren gewählte Vertreter jede Zusammenarbeit verweigerten und, wenn die Besatzungsmacht nicht eingriff, auch mit Gewalt gegen die Sonderbündler vorgingen. Tirard erkannte ganz richtig: Die Separatistenherrschaft würde nurmit massiver militärischer und finanzieller Unterstützung durch die Besatzungsmacht bestehen können, anderenfalls wurden die verhaßten Separatisten "von der Volkswut weggefegt werden".

Die nationale Einigkeit und Solidarität ging in dieser Notzeit quer durch die Parteien und weltanschaulichen Richtungen. Exemplarisch hierfür ist eine Resolution des Stadtrates von Neuss aus dem Dezember 1922. In dieser von der SPD eingebrachten und vom Stadtrat einhellig gebilligten Entschließung heißt es im Hinblick auf separatistische Tendenzen: "Damit würde eine uralte Volks- und Kulturgemeinschaft zerrissen, wie sie fester und älter keinen Teil Deutschlands mit dem Reich verbindet. Der Rhein, stets der deutscheste der Ströme, würde zum Symbol größten Völkerunrechts." Einige Monate zuvor hatte der SPD-Fraktionsvorsitzende Max Braun (später SPD-Vorsitzender an der Saar) in einer Massenkundgebung aller Neusser Parteien beteuert: "Wir sind Deutsche und wollen Deutsche bleiben, wir sind Preußen des Freistaats Preußen und wollen zu ihm halten,... Wir stehen zum deutschen Volk und Land."

Anfang November 1923 gelang es Tirard, den französischen Ministerpräsidenten Raymond Poincaré davon zu überzeugen, man müsse die Separatisten fallenlassen, um mit geeigneteren Politikern - wie etwa dem Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer - die Ziele der französischen Außenpolitik zu erreichen. Es galt, die Separatisten so lange zu dulden, wie man sie noch als Druckmittel benutzen konnte. Auch die belgische Regierung ging um diese Zeit immer stärker auf Konfrontation zu den Separatisten, die untereinander zunehmend zerstritten waren. Belgien fürchtete, in den Sog der französischen Politik zu geraten, und bangte um die Eigenständigkeit seiner Außenpolitik. Das negative internationale Presseecho zu brutal-kriminellen Exzessen der Separatisten und die britische Abneigung gegen die Sonderbündler taten ein übriges, daß zum Jahresende hin Belgien und Frankreich mit politischen, aber auch militärischen Mitteln das separatistische Experiment beendeten.

Foto: Separatistenführer Josef Matthes (Mitte mit Baskenmütze) beim Abschreiten der Front in Koblenz: "Hefe des Volkes"


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