© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 45/03 31. Oktober 2003

Religion und Gewalt
von Siegmar Faust

Der 1923 in Avignon geborene und ab 1947 lehrende Literatur- und Kulturwissenschaftler René Girard läßt in seinem berühmten Buch "Das Heilige und die Gewalt" das Thema mit einem Circulus vitiosus beginnen: "Das Opfer zu töten, ist verbrecherisch, weil es heilig ist ... aber das Opfer wäre nicht heilig, würde es nicht getötet." Seit Sigmund Freud will der Begriff "Ambivalenz" den Zirkelschluß aufheben, drückt aber lediglich ein Nebeneinander von entgegengesetzten Gefühlen dar.

Das Phänomen des Opfers ist jedoch mehr als ein Gefühl, sondern eine blutige Tatsache wie etwa ein "Verkehrsunfall". Ob man ihn als unerwünschte Schwangerschaft oder als unbeabsichtigten Zusammenprall von Fahrzeugen auffaßt - die Opfer sind seit alters her von Geheimnissen umwittert und bleiben selbst heute noch im Zwielicht stehen, während in die Täter nicht nur im Fernsehkrimi, sondern auch in der Rechtsprechung mehr investiert wird.

Vor dieser Banalität hat sich gewissermaßen eine Mysterienkult herausgebildet. Klar ist indessen, daß dabei stets Aggression im Spiel war und ist. Obwohl einem Ausbruch von Gewalt meist "Irrationalität" zugeschrieben wird, mangelt es ihr nicht an Beweggründen. Selbst als friedliche Gesellschaftswesen erleben wir täglich, welche Unterschiede wir zwischen uns und "den anderen" machen, wenn man vom noch schlimmeren Zustand der Gleichgültigkeit absieht. Eifersucht, Neid, ungestilltes Begehren kann sich allzu leicht zum Haß steigern, der sich entladen will und muß, nach innen oder außen, einzeln oder kollektiv. So bleibt das Leben immer im Zustand der Ambivalenz, denn man weiß nie, ob unsere Zivilisation "vorkatastrophisch" oder "vorreformatorisch" ist.

Der aggressionsgeladene Mensch sucht und findet meist ein Ersatzopfer, und sei es ein Tier, das sich dadurch ausgezeichnet findet, daß es ein Nutztier ist oder irgendwelche menschlichen Züge aufweist, wie der große Konservative Joseph de Maistre um 1800 meinte. Er sah auch, daß im rituellen Opfer immer ein "unschuldiges" Geschöpf für einen "Schuldigen" zahlt. Der aufgebrachte Mensch heute reagiert sich im Alltag an sich selbst, an harmlosen Geschöpfen, Suchtmitteln oder Gegenständen ab, die sich in Reichweite befinden. Ganz abgeklärte Zeitgenossen beschränken sich auf Schimpfwörter, die interessanterweise auch oft aus dem zoologischen Bereich stammen.

So kann vorhandenes Gewalt-Potential abgebaut werden, leider nicht in jedem Fall. Klassisches Beispiel sind die Brüder Kain und Abel. Beide sind Viehzüchter, das Lammopfer Abels nimmt Gott an, Kains qualmende Feldfrüchte jedoch nicht. Kain erschlägt schließlich enttäuscht seinen eigenen Bruder. Hinter dieser Geschichte wie hinter den vielen Mythen und Märchen, in denen feindliche Brüder vorkommen, verbergen sich grundsätzliche Spannungen.

René Girard ist einem fundamentalen Wirkungsmechanismus auf der Spur: dem einer Gewalt, die Opfer und Täter in eine endlosen Spirale der Rache zieht. Den "Gründungsmythos eines Opfersystems" glaubt Girard in Jakobs Segnung durch seinen dem Sterben nahen Vater Isaak erkannt zu haben: "Zwei Typen von Stellvertretung stoßen hier aufeinander, jene des einen Bruders durch den anderen und jene des Menschen durch das Tier." Die Stellvertretung des Opfers ist mit einer Verkennung verbunden. Sie "zieht die überall vorhandenen Ansätze zu Zwistigkeiten auf das Opfer und zerstreut sie zugleich, indem sie teilweise beschwichtigt".

Diese Erfahrungswahrheit scheint unter modernen Theologen verlorengegangen oder in den reinen Mythos abgedrängt worden zu sein. So sieht sich der Philosoph Friedrich Nietzsche gegen Ende des 19. Jahrhunderts: "Der einzelne wurde durch das Christentum so wichtig genommen, so absolut gesetzt, daß man ihn nicht mehr opfern konnte: aber die Gattung besteht nur durch Menschenopfer. (...) Die echte Menschenliebe verlangt das Opfer zum Besten der Gattung - sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie das Menschenopfer braucht."

Besonders uns Deutsche erschreckt heute eine solche Einstellung. Doch die christliche Theologie, etwa bei René Girard, stützt in gewisser Weise die Notwendigkeit des Opfers mit ihrer Vorstellung der Erbsünde. Sie nimmt also eine allgemeine Verbreitung der Gewaltherrschaft an, hält sie aber nicht für das Wesen des Menschen, sondern ortet sie lediglich im geschichtlich geprägten Raum. Demnach erscheint der Auslöser der Gewalt zumeist als Idealismus, Humanismus oder sonstiges Gutmenschentum. Es ist zwar unbelehrbar, grundsätzlich jedoch zu bezwingen.

"Nur wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt drin um", dichtete Wolf Biermann und verdrehte in einer verkehrten Gesellschaft das Sprichwort ins Passende. Und wann, so müssen wir auch mit Dietrich Bonhoeffer fragen, wird Gewalt gegen unterdrückende Gewaltstrukturen, wird selbst der Tyrannenmord nötig? Die Gewalt ist moralisch offenbar neutral. Immer wieder hat man von der Nähe der Gewalt zur Sexualität gesprochen. René Girard sieht die Sexualität "im Streit mit der Gewalt" liegen, "der sie unzählige Gelegenheiten liefert, sich zu entfesseln". Die Reziprozität der Gewalt, die uns alle zerstören könnte, wäre seiner Auffassung nach nur "durch das versöhnende Opfer, das heißt die Verkennung" aufzuhalten. Andererseits müßte "das Bedürfnis nach Gewalt" befriedigt werden, da es sich ansonsten staut, um eines Tages mit verheerender Wucht zu überborden. Kommt es dadurch zu kriegerischen Handlungen, lassen sich Soldaten wohl kaum durch Tiere ersetzen.

Man könne nicht Menschen opfern, um den Menschen zu retten, behauptete der schon Joseph de Maistre. Diese Auffassung aber läßt sich schon durch den Beginn europäischer Kultur durch die griechische Tragödie, besonders Euripides widerlegen, sondern wird bereits bei jedem gefahrvollen Feuerwehreinsatz entkräftet, auch wenn dieser subjektiv wenig mit einer rituellen Opferbereitschaft zu tun hat. Wenn es hart auf hart kam, hat man im Laufe der Geschichte immer schon Menschen geopfert, nicht nur aus dem "Abschaum der Menschheit", sondern auch solche, die der Gesellschaft "nach oben entglitten" waren, so daß sogar Könige "opferbar" wurden. Wurden die falschen, also zu sehr in der Gesellschaft verwurzelte Menschen geopfert, konnte der Verdacht des Mordes aufkommen und Rache, auch die berüchtigte Blutrache nach sich ziehen. Das konnte und kann in jeder Gesellschaft zu einer gefährlichen Kettenreaktion führen: "Die Rache stellt also einen unendlichen, endlosen Prozeß dar. Wann immer sie an einem beliebigen Punkt innerhalb der Gesellschaft auftaucht, neigt sie dazu, sich auszubreiten und die gesamte Gesellschaft zu erfassen", erklärt Girard.

Martin Heidegger bezieht sich auf Friedrich Nietzsche, wenn er betont, daß es der Erlösung vom "Geist der Rache" bedarf: "Nietzsches Denken gilt einem Geist, der als Freiheit von der Rache vor jeder bloßen Verbrüderung, aber auch vor allem Nur-bestrafen-wollen, vor aller Friedensbemühung und vor jedem Betreiben des Krieges liegt, vor dem Geist, der die Pax, den Frieden, durch Pakte begründen und sichern will. Der Raum dieser Freiheit von der Rache liegt ebenso vor jedem Pazifismus wie vor jeder Gewaltpolitik. Er liegt ebenso vor jedem schwächlichen Gleitenlassen der Dinge und dem Sichdrücken um das Opfer, wie vor dem blinden Handeln um jeden Preis."

Um der Rache und den daraus entstehenden Kriegen ein Ende zu setzen, genügt es nach Girard keinesfalls, nur moralisch von der Verabscheuungswürdigkeit der Gewalt überzeugt zu sein, denn dort, wo sie am strengsten mißachtet werde, triumphiere sie am höhnischsten, und sei es in den modernen Formen des Kalten Krieges, des Mobbing oder der Political Correctness. Hier kann jedermann in irgendeiner Lebensphase zum Opfer werden. Und wenn es dann nicht gelingt, den unweigerlich aufkommenden Haß produktiv zu machen, dann wäre es nach Karl Kraus "gescheiter, gleich zu lieben".

Im Laufe der Zeit wurde der Teufelskreis der gewalttätigen Rache durchbrochen, und zwar in jenen arbeits- und gewaltenteiligen Gesellschaften, in denen das Vergeltungsprinzip institutionalisiert wurde: "Das Gerichtswesen wendet die von der Rache ausgehende Bedrohung ab. Es hebt die Rache nicht auf, vielmehr begrenzt es sie auf eine einzige Vergeltungsmaßnahme, die von einer auf ihrem Gebiet souveränen und kompetenten Instanz ausgeübt wird."

Die urtümlichen Gesellschaften, ebenso jene Gesellschaften, die durch Putsch und Revolution einen Rückfall erlitten, versuchten durch Opferung und Säuberung, zuweilen sogar in vorauseilendem Gehorsam, die Gewalt im Keim zu ersticken, obwohl der Keim der Gewalt nicht auszurotten ist. Dort jedoch, wo sich ein Gerichtswesen entwickelte, was zugleich der Staatsmacht das Gewaltmonopol übertrug, wurde dem rituellen Opfer bald die Berechtigung entzogen. Am Ende haben Menschen der Moderne deshalb kaum noch Verständnis für den Sinn des Opfers, also einer religiösen Konfliktbewältigung, die besonders auf Vorsorge und Vorbeugung setzt. Wir glauben anmaßend, uns gehe das nichts mehr an, aber Tatsache bleibt, daß der Krieg nicht einem einzigen Typus von Gesellschaft vorbehalten ist. Die ungeheure Steigerung der technischen Mittel stellt keinen wesentlichen Unterschied zwischen primitiv und modern dar.

Oder bleiben wir im zivilen Bereich: Bei der sogenannten "Aufarbeitung" der zweiten Diktatur in Deutschland kam es dahin, daß der Mörder Erich Mielke, ehemaliger Minister für Staatssicherheit, aus Alters- und Krankheitsgründen aus dem Gefängnis entlassen wurde und eine Haftentschädigung erhielt, die nach Anwendung der gültigen Gesetze höher war als die seiner zahllosen Opfer. Es zeigt sich immer wieder, daß die Gewalthaber, obwohl gestürzt, immer noch mehr Druck auf die Politik ausüben als die Schwachen, schon allein weil sie die Mechanismen der Macht kennen, die überall gleich sind.

Die Opferung wurde früher als schuldhafte, aber zugleich auch heilige Handlung empfunden. Die regulierte und kanalisierte Gewalt verhinderte zumeist den explosiven Gewaltausbruch oder die endlosen Racheakte, schuf also eine Balance zwischen dem Heiligen und der Gewalt, zwischen Vergewaltigung und Versöhnlichkeit. Was könnte man grundsätzlich anderes von einem funktionierenden Gerichtswesen sagen?

Alle Mittel, lehrt Girard, die wir je anwandten, um uns gegen die endlose Rache zu schützen, lassen sich in drei Kategorien einteilen: erstens Präventivmaßnahmen, die auf opfergebundene Abführung des Rachegedankens zielen; zweitens Maßnahmen zur Dosierung und Erschwernis der Rache durch gütliche Einigung, gerichtlichen Zweikampf usw., drittens das Gerichtswesen, dessen wiederherstellende Effizienz sonst nicht ihresgleichen hat.

Hier ist die Stufenleiter abendländischer Entwicklung zu erkennen. Doch weltweit gibt es diese Entwicklung keinesfalls, so daß wir mit Staaten, Nationen, Völkern, Stammen oder verschiedensten Gemeinschaften konfrontiert werden, die, reich geworden durch Bodenschätze, sich modernste Technologien aneignen konnten, aber mental noch magischen, mythischen oder fundamentalistischen Verhältnissen verhaftet sind. Als "Obervolta mit Atombomben" bezeichnete Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt einmal sarkastisch solche unberechenbaren Territorien.

Das Studium archaischer Gesellschaften läßt uns vieles entdecken, was wir tief in uns selber verbergen. Mögen die sogenannten primitiven Gesellschaften, die kein Gerichtswesen kennen, der Eskalation von Gewalt und damit jener totalen Vernichtungsgefahr ausgesetzt sein, die Girard als "wesenhafte Gewalt" bezeichnet, so wissen wir doch, daß auch unsere Zivilisation gefährdet ist und bleibt. Für die höchstentwickelte wie für die dürftigste Kultur gilt, daß in allen Gesellschaften der Erde immer jene Momente hervorbrechen können, "wo man sich der Gewalt nur noch mit Gewalttätigkeit entgegenstellen kann; dabei ist es unwichtig, ob man gewinnt oder verliert - die Gewalt geht immer als Siegerin hervor".

Max Scheler sah noch, daß die blanke Macht vom Geist ausgeht, was wiederum im Gegensatz zum Wirkungsgesetz der Natur stünde, in der sich seiner Auffassung nach Formen verwirklicht haben, die durch folgenden Satz gekennzeichnet seien: "Mächtig ist ursprünglich das Niedrige, ohnmächtig das Höchste." Weniger paradox, dafür drohender klingt es, wenn Girard behauptet: "Weder den Primitiven noch den Modernen wird es je gelingen, den Erreger jener Pest zu identifizieren, die die Gewalt darstellt." Sexualität und Gewalt, Neid und Eifersucht, Not und Nonsens, Mord und Totschlag, List und Tücke, Blutschande und Opferblut: "Das Blut kann buchstäblich sichtbar machen, daß es ein und dieselbe Substanz ist, die zugleich beschmutzt und reinigt, unrein macht und reinigt, die Menschen in Wut, Wahnsinn und Tod treibt, sie aber auch besänftigt und wiederaufleben läßt."

Werden wir je aus dem geheimnisvollen Spiegel-Kabinett der Dualität herausfinden? Und wenn wir herausgefunden haben sollten, wo würden wir dann hingelangt sein? In eine Welt, in der es keinen Unterschied mehr zwischen guter und böser Gewalt gibt? René Girard antwortet darauf: "Solange das Reine und das Unreine voneinander getrennt bleiben, kann man nämlich selbst die größten Befleckungen reinwaschen. Sind sie einmal vereint, kann nichts mehr gereinigt werden."

"Der Kindermord zu Bethlehem", Holzschnitt von Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1874): Auch Haß und Gewalt gegen Juden gründen ursprünglich in religiösen, nicht politischen Überzeugungen

 

Siegmar Faust, geb. 1944 in Dohna (Sachsen), Schriftsteller, in der DDR wegen "staatsfeindlicher Hetze" zweimal zu Gefängnisstrafen verurteilt, Herausgabe einer Häftlingszeitung, dafür 400 Tage Kellereinzelhaft. 1976 von der Bundesrepublik freigekauft. Publikationen: "Ich will hier raus" (1983); "Der Freischwimmer" (1987). Zuletzt veröffentlichte er den Roman "Der Provokateur" (1999)


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