© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/03 07. November 2003

Der Charme der Einfachheit
Steuerreform: Das Konzept des Unionspolitikers Friedrich Merz wird als "Befreiungsschlag" gefeiert / Vorschläge sind nicht neu / Zweifel an Durchsetzbarkeit
Paul Rosen

Es ist die Zeit großer Konzepte. Nach der Agenda 2010 des Kanzlers, der Gesundheitsreform der großen Parteien und den Herzog-Reformplänen wollte auch Friedrich Merz nicht fehlen. Der ehemalige Fraktionsvorsitzende der Union präsentierte der Öffentlichkeit ein neues Steuerkonzept, das das heutige Einkommensteuergesetz völlig ersetzen soll. Der Charme des Merz-Konzepts ist seine Einfachheit: nur drei Steuersätze und so gut wie keine Ausnahmeregelungen mehr. Der Pferdefuß des Planes ist der Verzicht auf das bewährte Prinzip der Besteuerung nach Leistungsfähigkeit.

Der Plan von Merz ist leicht erklärt: Die Steuersätze sollen künftig sowohl für Arbeitnehmer wie für Firmen nur noch bei zwölf und 36 Prozent liegen. Diesen Stufentarif hat er sich bei der FDP abgeguckt, die schon seit Jahren mit diesem Vorschlag, allerdings mit höheren Prozentwerten, hausieren geht. Ein einheitlicher Grundfreibetrag für alle (also auch für Kinder) soll bei rund 8.000 Euro im Jahr liegen. Steuersenkende Möglichkeiten für Arbeitnehmer, wie etwa Fahrtkosten zur Arbeitsstelle oder die doppelte Haushaltsführung, soll es hier nicht mehr geben. Dafür wird allein der sogenannte Werbungskostenfreibetrag für Arbeitnehmer mit rund 1000 Euro pro Person erhalten bleiben. Auch Sonderzahlungen für Nacht- und Sonntagsarbeit sollen künftig voll versteuert werden müssen.

Merz läßt sich feiern, als hätte er den Stein der Weisen gefunden. Doch so neu sind seine Vorstellungen nicht. Schon eine Steuerkommission zu Zeiten der alten Regierung Kohl unter Führung des Wissenschaftlers Peter Bareis hatte ähnliche Vorstellungen entwickelt. Die meisten Steuerrechtler plädieren heute dafür, den Arbeitnehmern sämtliche Vergünstigungen zu streichen, um das komplizierte Steuerrecht zu vereinfachen. Aus steuerlicher Sicht, so heißt es, müsse die Arbeit am Werkstor beginnen. Wie der Malocher dahinkommt und vor allem wie er die Kosten finanziert, soll seine Privatsache sein.

Merz hat allerdings gerechnet und läßt sich seine Tarifsenkungen natürlich an anderer Stelle bezahlen - von den Arbeitnehmern. Die sollen in Zukunft den bisher steuerfrei ausgezahlten Arbeitgeberzuschuß zur Sozialversicherung als steuerpflichtigen Lohnanteil auf den Gehaltsabrechnungen vorfinden. Damit finanziert sich die Merz-Reform zu einem guten Teil von selbst. Die Belastungen hätten überwiegend Gering- und Mittelverdiener zu tragen, während sich bei den Beziehern hoher Einkommen die Tarifsenkung weit stärker auswirken würde als die Versteuerung des in seiner Höhe begrenzten Arbeitgeberzuschusses zur Sozialversicherung.

Während die CDU-Vorsitzende Angela Merkel von einem "Meilenstein" und von einem "Befreiungsschlag aus dem Dschungel des Einkommensteuerrechts" spricht, muß aber die Gegenrechnung aufgemacht werden. Das Steuerrecht hat in Deutschland nicht nur die Funktion, die Kassen des Staates zu füllen, sondern es soll zugleich gerecht sein. Der Grundsatz heißt Besteuerung nach Leistungsfähigkeit. So ist es völlig klar, daß eine Familie mit mehreren Kindern steuerlich nicht den gleichen Tarifsätzen unterworfen werden kann wie ein kinderloses Arzt-Ehepaar mit gutgehender Praxis. Diesem Grundsatz wird Merz durch die hohen Grundfreibeträge noch einigermaßen gerecht.

Die Probleme beginnen bei den anderen Belastungen der arbeitenden Bevölkerung. Wer heute gezwungen ist, täglich bis zu 100 Kilometer zur Arbeit zu fahren zu müssen, weil er im näheren Umkreis keine geeignete Stelle findet, ist eben nicht so leistungsfähig wie der Kollege, der die Firma mit der Straßenbahn erreichen kann. Bei einer Umsetzung des Merz-Konzepts ohne sozialen Ausgleich würde eine Landflucht ausgelöst. Diejenigen, die arbeiten wollen und müssen, werden gezwungen, in die Ballungsgebiete zu gehen. Auf dem Lande blieben noch Arbeitslose, Kranke und Rentner. Man kann dies als "Amerikanisierung" des Steuerrechts bezeichnen. In der Neuen Welt ist es für Millionen Menschen üblich, der Arbeit mit dem Wohnwagen hinterherzufahren. Dort ist es dem Staat auch ziemlich egal, ob seine Bürger ausreichend sozialversichert sind.

Das Merz-Konzept verströmt soziale Kälte

Das ist in Deutschland aus gutem Grund anders. Die Väter des Grundgesetzes haben das Sozialstaatsprinzip in der Verfassung verankert, um zu verhindern, daß sich ein die Demokratie gefährdender Bodensatz in der Gesellschaft bildet.

Die heutzutage zu sehenden Auswüchse bei der Inanspruchnahme sozialer Leistungen könnten abgestellt werden, ohne daß gleich das ganze Sozialstaatsprinzip auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen werden müßte. Wer steuerliche Sonderausgaben oder außergewöhnliche Belastungen wie Krankheitskosten und ähnliches nicht mehr zulassen will, erhält tatsächlich ein stark vereinfachtes Steuerrecht. Auf der anderen Seite kann es aber nicht angehen, daß Arbeitnehmer auf das Existenzminimum oder darunter gedrückt werden, weil sie eine Zahnarztrechnung bezahlen müssen und steuerlich nicht mehr absetzen können.

Das Merz-Konzept verströmt soziale Kälte. Besser wäre es, die Steuersätze zu senken und begründete Absetzmöglichkeiten zu erhalten. Aber nicht einmal dazu ist die Politik in der Lage. Seit dem Frühjahr wird über das Vorziehen der dritten Stufe der Steuerreform geredet. Wenn es gutgeht, wird der Vermittlungssausschuß im Dezember in die Schlußphase der Beratungen gehen. Es gibt wahrscheinlich keinen Mangel an Konzepten in Deutschland. Das Problem heißt Durchsetzbarkeit.


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