© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/03 07. November 2003

Unerwünscht und verstoßen
Dem nationalsozialistischen Pogrom vom 9. November 1938 ging eine Odyssee der Juden in Polen voraus
Stefan Scheil

Im Herbst des Jahres 1938 ließ sich bereits manches ahnen, was wenig später Wirklichkeit werden sollte. Die radikaler werdenden Konflikte zwischen den Staaten würden bald die Minderheiten treffen und ganz besonders die, die keinen Staat zu ihrem Schutz hatten. In Deutschland sah die NS-Regierung zu dieser Zeit ihre judenfeindliche Politik an die Grenzen stoßen und dachte über neue Methoden nach, um die noch im Lande verbliebenen Betroffenen der Nürnberger Rassegesetze zur Ausreise zu zwingen. Edward Benes scheiterte in Prag mit seinem berühmten Plan fünf, der das aus seiner Sicht lästige Problem der Sudetendeutschen ein für allemal durch die Vertreibung von einer Million Menschen lösen sollte. In Warschau dachte die polnische Regierung ebenfalls über neue Maßnahmen nach, damit die jüdische Minderheit auf dem Gebiet der polnischen Republik baldmöglichst der Vergangenheit angehören würde. Eine der Lösungen, die man dabei gefunden zu haben glaubte, betraf Deutschland, und sie führte zum ersten direkten deutsch-polnischen Konflikt des Jahres und in Deutschland am Ende zum Pogrom vom 9. November 1938.

Antisemitismus war in Polen ein latentes Phänomen

Denn trotz Nürnberger Rassegesetzgebung und massivem Auswanderungsdruck zogen es auch 1938 noch mehrere zehntausend Juden mit polnischem Paß vor, in Deutschland zu leben. Dazu mag beigetragen haben, daß trotz der allgegenwärtigen antijüdischen Gesetzgebung direkte Übergriffe auf Juden in Deutschland immer noch die Ausnahme waren. Die Bevölkerung lehnte den verordneten Antisemitismus mit überwältigender Mehrheit ab, was während der Ausschreitungen im November so deutlich werden sollte, daß von einer Regimekrise gesprochen werden konnte. Die Lage der jüdischen Bevölkerung im Polen der dreißiger Jahre dagegen war gekennzeichnet durch juristische Gleichberechtigung, aber häufigen Terror. Bei gewalttätigen Angriffen im ganzen Land wurden in Polen 1935/36 mehr als 1.200 Juden verletzt und einige von ihnen sogar getötet. Zu dieser Zeit wurde das Fehlen von Gewalt in Zionistenkreisen gelegentlich gar als der Hauptunterschied des deutschen im Vergleich zum polnischen Antisemitismus gesehen, da der deutsche Antisemitismus von oben verordnet sei und bei der Bevölkerung wenig Resonanz finde, während der polnische aus der Bevölkerung selbst komme.

Dennoch wurde die nationalsozialistische Diskriminierung der Juden auch 1938 international schon weitaus heftiger diskutiert als die polnische, obwohl die betroffene jüdische Minderheit dort weitaus größer war. Die Republik Polen hatte mehr jüdische Einwohner als jedes andere europäische Land mit Ausnahme der UdSSR. Die Forderung nach ihrer Vertreibung gehörte zum Programm des regierenden "Lagers der nationalen Einheit", einer Spielart der in Europa damals nicht selten anzutreffenden antisemitischen und autoritären Gedankengänge, die sich als eine auf den polnischen Hausgebrauch zugeschnittene Variante des Faschismus begreifen läßt. Gegenüber den polnischen Juden verfolgte die Warschauer Administration seit 1936 eine Linie, die Außenminister Josef Beck offen formulierte: Die polnischen Juden hatten Polen zu verlassen, und da so viele Millionen Menschen nicht alle nach Palästina auswandern konnten, sollten sie irgendwo in den europäischen Kolonialreichen in Afrika untergebracht werden. Dies war der Hintergrund des in Warschau entwickelten Madagaskar-Plans, ja überhaupt eines der Hauptmotive des polnischen Flirts mit den Westmächten.

Vor dem Völkerbund verlangte die polnische Delegation denn auch die Durchführung internationaler Maßnahmen, um die Juden in jährlichen Kontingenten von einhunderttausend Menschen aus Polen zu vertreiben. Nicht anders, als es die deutschen Nationalsozialisten verlangten, sollten die jüdischen Zwangsauswanderer auch nach den Vorstellungen der polnischen Regierung ihr Geld aber im Land zurücklassen müssen. Auch den britischen Botschafter in Warschau hatte man davon überzeugt, daß es für eine "Lösung der Judenfrage" in Polen keine Alternative zur Auswanderung gäbe. Allerdings lehnte es die britische Regierung ab, dafür Palästina zu öffnen, und gab die Linie vor, die in jenen Monaten und Jahren typisch für die internationale Politik wurde. Die Juden in Mittel- und Osteuropa wurden zum internationalen Problem erklärt, aber die Staaten verweigerten eine Antwort darauf.

Internationale Diskussionen über Vertreibung von Juden

Statt dessen wurde im Sommer 1938 einmal mehr eine Konferenz einberufen. Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt ließ ins schweizerische Evian bitten und wollte dort ursprünglich nur über die deutschen und österreichischen Juden sprechen. Deutschland war in Evian durch eine Beobachterdelegation vertreten. Roosevelt mußte aber erkennen, daß sich im Anschluß daran eine größere Debatte über das Schicksal der Juden in ganz Osteuropa nicht vermeiden ließ, wie sie vor allem von der polnischen Regierung gefordert wurde. Da hierzu aber die Westmächte und die USA nicht wirklich bereit waren, hatte die Konferenz am Ende ihr einzig konkretes Ergebnis darin, daß die Diskussionen über die jüdische Auswanderung und den richtigen Ort dafür an internationaler Seriosität gewonnen hatte. Das Fatale daran war, daß damit die Vertreibung und Ausbürgerung von Juden durch die Anwesenheit von 32 Regierungen überhaupt international diskussionswürdig gemacht worden war, auch für Roosevelt selbst, der in den Folgemonaten beispielsweise bei Benito Mussolini anfragte, ob er denn nicht Äthiopien für die Aufnahme von osteuropäischen Juden zur Verfügung stellen wolle.

Polens Außenminister Beck war noch nicht lange von der Konferenz in Evian zurück, als die polnische Regierung im Herbst 1938 einen drastischen Schritt unternahm und eine Verordnung veröffentlichte, die polnischen Staatsbürgern ab Ende Oktober die Rückkehr nach Polen unter bestimmten Umständen verweigerte. Gemeint waren damit in erster Linie die siebzigtausend in Deutschland lebenden Juden, wie das deutsche Außenministerium vermutete und Warschau dann auf Anfrage bestätigte.

Was immer sich die polnische Regierung bei dieser Maßnahme im einzelnen gedacht hatte, das NS-Regime deutete sie als Provokation. Das nationalsozialistische Deutschland war nicht bereit, durch eine Änderung polnischer Paßgesetze den dauerhaften Aufenthalt von siebzigtausend Juden zusätzlich in Deutschland zu akzeptieren. Diesen Umstand konnte die Warschauer Regierung auch eigentlich kaum übersehen haben. Ganz im Gegenteil begann Heinrich Himmler wenige Tage nach dem polnischen Erlaß, die Ausreise dieser Menschen zu erzwingen, die aber auch schon in diesen Tagen, vor dem vorgegebenen Stichdatum und trotz ihrer noch gültigen polnischen Pässe an der polnischen Grenze abgewiesen wurden. Hier schien der SS-Führung eine Gelegenheit gekommen, die in die Sackgasse geratene antisemitische Kampagne wieder aufzunehmen. Die Republik Polen dagegen wollte ihre Staatsbürger nicht mehr haben. Es folgte jenes Flüchtlingselend im deutsch-polnischen Niemandsland, von dem auch die Eltern jenes Herschel Grynszpan betroffen waren, der aus Verzweiflung darüber einige Tage später ausgerechnet den deutschen Legationsrat Ernst vom Rath an der Botschaft in Paris ermordete und damit den willkommenen Anlaß für die als "Reichskristallnacht" verbrämten Pogrome lieferte.

Die polnische Regierung ihrerseits konterte die deutschen Maßnahmen außerdem damit, daß in Polen lebende Deutsche ausgewiesen wurden - weshalb die deutsche Abschiebungsaktion sehr schnell eingestellt wurde. Man einigte sich schließlich darauf, daß die an der Grenze wartenden Juden nach Polen einreisen dürften, daß aber in Zukunft nur noch etwa einhundert im Monat folgen sollten. Am Ende sollten einige tausend polnische Juden in Deutschland bleiben, denen die Warschauer Regierung die Staatsbürgerschaft vor einer Ausreise aberkannt hatte.

Das Schicksal Herschel Grynszpans blieb ungeklärt

So warf die ganze Affäre ein Schlaglicht auf den Zustand der internationalen Politik und die drohende Gefahr für nationale Minderheiten. Es drohte eine große ethnische Säuberung Osteuropas, die vor keiner Nation haltmachen würde. Andererseits waren die westlichen Großmächte nicht in der Lage, eine Perspektive zu entwickeln, um diese Konflikte abzumildern. Jeder schob das Problem zum anderen.

Typisch daher das Schicksal des Attentäters Herschell Grynszpan. Man müsse doch irgendwo leben können, soll er nach seiner Verhaftung gesagt haben. Mit polnischem Paß und deutschen Visum war er aus Deutschland ausgereist. Später bemühte er sich erfolglos um eine Aufenthaltserlaubnis in Frankreich, dann um die Weiterreise nach Palästina, was die britische Politik nicht zuließ, dann vergeblich um die Rückreise nach Deutschland, und als die französische Regierung gar mit einer Ausweisung nach Polen drohte, tauchte er ganz unter. Der Zorn über die Behandlung seiner Eltern ließ ihn dann den Revolver kaufen. Ob Grynszpan schließlich irgendwo leben konnte, ist nicht bekannt. Er wurde 1940 von der französischen Regierung Petain den deutschen Besatzungsbehörden ausgeliefert und in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht. Zur Vorbereitung des geplanten Schauprozesses holte man ihn 1941 nach Berlin-Moabit. Bis heute konnte man nicht eindeutig festzustellen, ob er 1945 überlebte. Grynszpans Eltern, die nach dem Krieg in Israel ihre Heimat fanden, ließen ihren Sohn erst Jahre später amtlich für tot erklären.

Bekannt sind jedoch die Folgen der Novemberkrise. Das NS-Regime machte sich beim Versuch, die Provokation durch die polnische Regierung und die Ermordung eines deutschen Diplomaten als Vorwand für einen Angriff auf die in Deutschland verbliebenen Juden zu nutzen, zugleich international wie innenpolitisch vollkommen unmöglich. Die polnische Regierung erkannte dagegen endgültig, daß der Weg zur Ausweisung aller polnischen Juden nur über London führen könnte. Über "Kolonien und Juden", wie Außenminister Beck die gewünschten Gesprächsthemen umriß, führte der Weg zum polnisch-britischen Bündnis vom nächsten Frühjahr.

Foto: Warschauer Judenviertel in den dreißiger Jahren: "Man muß doch irgendwo leben können"


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