© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 46/03 07. November 2003

Die Stellvertreter-Debatte
von Angelika Willig

Wer die Rede von Angela  Merkel zum 3. Oktober noch im Ohr hat, kann den Vorschlag der Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) zur Neubewertung von In-vitro-Embryonen nicht überraschend finden. Beim Humboldt-Forum der Universität Berlin hat Zypries in einer Rede zu verfassungsrechtlichen Fragen der Bioethik vorgeschlagen, Embryonen, die nicht auf natürliche Weise im Körper der Frau entstanden sind, erst dann als Menschen im Sinne des Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes zu betrachten, wenn sie in eine Gebärmutter eingepflanzt worden sind. Da die Stammzellforschung jedoch vorher auf die künstlich erzeugten Embryonen zugreift, wäre damit der Bundestagsbeschluß vom April 2002 hinfällig, und es müßte erneut über die Möglichkeiten der Stammzellforschung in Deutschland verhandelt werden - unter der neuen Prämisse wahrscheinlich mit einem anderen, für die Forschung positiven Ergebnis.

Über Parteigrenzen hinweg verstärkt sich das Bestreben, diesem Land den Modernisierungsschub zu geben, den es braucht, um international wieder konkurrenzfähig zu werden - in der Industrie und, was eng damit zusammenhängt, in der Forschung. Merkel drückte sich deutlich aus: "Setzen wir unsere Kraft und Phantasie doch weniger in Regulierung und Bürokratie ein und statt dessen mehr in Zukunftstechnologien. Denn nach allem, was wir wissen, wird zum Beispiel die Biotechnologie (...) darüber entscheiden, wer in den kommenden Jahrzehnten zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern auf der Welt gehört, wer am Fortschritt teilnehmen kann und wer nicht." Auch bei dem Vorschlag von Brigitte Zypries geht es in erster Linie darum, "wer zu den Gewinnern und wer zu den Verlierern auf der Welt gehört" - und nicht um die Frage, wer Träger der "Menschenwürde" nach Art. 1, Abs. 1 GG ist und wer nicht. Denn das haben wir mit der Abschaffung des Paragraphen 218 ja längst zuungunsten früher Embryonen entschieden. Abtreibung ist bis zum dritten Monat erlaubt, bei Mißbildungen sogar über den siebten Monat hinaus. Und da sollen Zellkonglomerate von wenigen Tagen - danach sind es keine embryonalen Stammzellen (ES) mehr - uns in ernsthafte Gewissenszweifel stürzen? Auf den ersten Blick erscheint die seit mehr als einem Jahr laufende Diskussion bloß "hirnrissig".

Doch es handelt sich bei den Stammzellen um eine typische Stellvertreter-Debatte. Dunkel empfinden viele den wissenschaftlichen Zugriff auf das menschliche Erbgut trotz guter medizinischer Absichten als Angriff auf das menschliche Wesen überhaupt. Man ahnt zumindest, daß zwischen "Stammzellen" und "Embryonen" nur ein Unterschied der Perspektive besteht.

Sollen spezialisierte Gewebe für Transplantationen gewonnen werden, so gelten frühe Embryonen als Stammzellmaterial. Doch in diesen Zellen befindet sich das ganze Potential eines menschlichen Organismus. Er mag ohne Gebärmutter (bisher) nicht entwicklungsfähig sein, würde sich aber bestens zu dem eignen, was bei Pflanzen und Tieren schon beinahe Routine ist, die genetische Manipulation hin zu einem "transgenen" Lebewesen. Transgene Getreidearten besitzen außer ihren natürlichen nährenden Eigenschaften zum Beispiel eine gentechnisch eingepflanzte Resistenz gegen Schädlinge, Tomaten gegen das Weichwerden. Zu den vielen genetisch veränderten Organismen (GVO) könnte auch der Mensch gehören. Man brauchte bloß gleich nach der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle fremde Gene einzuschleusen und den Embryo anschließend in eine Leihmutter, eventuell sogar eine tierische, einzupflanzen. Die von Frau Zypries angeführte "Unselbständigkeit" stellt also für die Forschung gar kein Problem dar.

Daß man im Unterschied zur Maus eine Frau nicht zwingen kann, Kinder auszutragen, trifft zwar zu - aber dafür gibt es finanzielle Anreize, die eine Tätigkeit als "Leihmutter" in Kürze zum beliebten Beruf machen würden. Bisher zwar sind solche Experimente am Menschen überall auf der Welt streng verboten. Aber das heißt gar nichts; auch die Abtreibung ist bis vor relativ kurzer Zeit verboten gewesen. Über die medizinisch begründete Stammzellforschung gelangen die Forscher genau an das Material, das sie für einen "Eingriff in die menschliche Keimbahn" respektive die Schaffung eines "transgenen Menschen" brauchen würden. Zwischen Gewebezüchtung für Transplantationen und Menschenzüchtung für Olympiaden gibt es im Ansatz überhaupt keinen Unterschied. Dazwischen steht nur noch die gesetzliche oder Willensentscheidung. Und diese Situation ist es, die den Leuten Angst macht.

Richtig weist Brigitte Zypries auf die erst langsam aufgehende Bedeutung des sogenannten "Retortenbabys" von 1978, also der ersten künstlichen Befruchtung beim Menschen, hin. Geschaffen im Interesse unfruchtbarer Paare, hat die In-vitro-Fertilisation den Fortpflanzungsmedizinern ein magisches Gut in die Hände gespielt, das vorher stets unsichtbar und tief im weiblichen Körper geruht hatte. Romantiker dürfen ruhig an den heiligen Gral denken.

Jetzt liegt es nackt und bloß zum Greifen nahe vor den Augen der Wissenschaft. Bei jeder künstlichen Befruchtung entstehen mehr Embryonen als notwendig. Diese werden in flüssigem Stickstoff bei sehr niedriger Temperatur gelagert, so daß sie jahrelang haltbar bleiben und jederzeit wiederbelebt werden können. Das kostbare Material ruft geradezu nach einem Werkzeug, um es nach Art des homo faber zu bearbeiten und zu perfektionieren. Mit "Genschere" und "Genkleber", also mit Enzymen, Virentaxis und ähnlichen biochemischen Techniken, werden fast täglich neue Möglichkeiten erschlossen. Wie bei der sogenannten "Krebsmaus", die längst patentiert ist, oder den grün oszillierenden Haustieren, die man in Japan bereits im Handel anbietet, könnten aus "Stammzellen" jederzeit vollständige menschliche Organismen entwickelt werden - bei denen sich wiederum ein Streit entzünden würde, ob das nun "Menschen" sind oder nicht und wie man mit ihnen umgehen soll. Die verbreitete Angst geht also nicht dahin, daß Embryonen im Labor getötet , sondern daß sie dort nicht getötet werden könnten.

Diese Angst ist nicht mehr kulturell zu verstehen wie jener Respekt vor dem Individuum, der sich in Kants ethischer Forderung niederschlägt, den Menschen niemals zu instrumentalisieren. Diese europäische Art der "Menschenwürde" kennen andere Kulturen zum Teil gar nicht. Und auch bei uns fungiert diese ethische Verpflichtung eher als ein äußerster Anspruch denn als tatsächliche Praxis. Menschen als "Mittel zum Zweck" zu benutzen, ist ja keineswegs der Forschung vorbehalten. Jeder Händler benutzt seine Kunden als Mittel zum Zweck des Geldverdienens. "Instrumentalisiert" werden wir überall, und anders würde ein geschichtlicher Fortschritt wahrscheinlich auch gar nicht zustande kommen. Nun aber ergreift uns die tiefere urtümliche Furcht vor eine Relativierung des Menschen überhaupt.

Um den Menschen vom Zeitpunkt der Zeugung an als solchen zu erkennen, brauchen wir die Religion nicht. Ein einfacher Gentest gibt darüber Auskunft. Das ist keine Frage der Autonomie oder Rationalität, sondern einfach der Chromosomenzahl. Auch schon vor jeder Genforschung läßt sich die Zugehörigkeit zu einer biologischen Art daran ablesen, wo das betreffende Lebewesen herkommt. Fortpflanzung ist nur innerhalb derselben Art möglich, und was von Hunden geboren ist, ist ein Hund, auch wenn er (noch) nicht bellen kann.

Doch mit der biologischen Feststellung, daß der Embryo von Anfang an zur menschlichen Art gehört, ist noch lange nicht gesagt, daß man dieses Wesen nicht unter bestimmten Umständen töten dürfe. Zu allen Zeiten haben Menschen andere Menschen umgebracht, ob im Krieg, im Zuge von Hinrichtungen, Pogromen und Kreuzzügen oder durch Abtreibung. Im Vergleich zu anderen Arten greift der Mensch sogar besonders häufig zu diesem Mittel. Und jedesmal schließt man das Opfer durch eine bestimmte Charakterisierung aus, etwa als "Unmenschen", "Untermenschen" oder hier "Noch-nicht-Menschen", um sein Vorgehen zu legitimieren.

Die Behauptung, der Mensch fange ausgerechnet im dritten Monat an, ist noch unlogischer als die von Frau Zypries vorgeschlagene Klassifizierung. Doch darum geht es nicht. Unser Zeitalter stellt den Wert der Freiheit des Einzelnen, in diesem Fall der Frau, höher als den Wert des menschlichen Lebens schlechthin. Solange es dem gesellschaftlichen Konsens entspricht, regt sich kaum einer über solche Opfer auf. Und blickt man auf die Geschichte, so gibt es auch keinen Grund dazu, sich über staatlich sanktionierte Tötungen noch zu wundern.

Woher kommt dann seit inzwischen zwei Jahren die Aufregung über die Forschung mit embryonalen Stammzellen? Sie beißt sich an dem werdenden individuellen Leben fest, weil die Bedrohung der menschlichen Spezies von den beteiligten Wissenschaftlern mit Argumenten heruntergespielt wird, denen der Laie nur schwer etwas entgegensetzen kann. Sie können nicht abstreiten, daß Embryonen verbraucht werden, aber sie streiten ab, daß die Forschung mit menschlichen Stammzellen der erste Schritt auf dem Weg zum genetischen Experiment mit Menschen ist. Weil dieser Schritt bisher nicht wissenschaftlich sinnvoll ist, gibt es auch keinen zwingenden Grund, ihn zu machen. Rational muß man sich damit zufriedengeben. Aber sollte einmal ein Protein gefunden werden, das jede Krebsentstehung verhindert, welche Eltern würden noch ein Kind ohne dieses Protein wollen? Könnte man es überhaupt ethisch verantworten, noch Kinder ohne diese Sonderausstattung zu fabrizieren?

Das sind viele Wenns, mit denen ein wissenschaftliches Denken nicht operieren darf. Wir wollen schließlich nicht vage Ideen und ferne Möglichkeiten von den Forschern geliefert bekommen, sondern schnell wirkende zuverlässige Mittel. Aber jenseits des Rationalen baut sich etwas auf, das dann mehr schlecht als recht auf ein vermeintlich sicheres Terrain projiziert wird - auf den Lebensschutz.

Daß der Mensch ein spezielles "Arterhaltungsinteresse" habe, wie noch Konrad Lorenz behauptete, ist inzwischen wohl wissenschaftlich überholt. Doch vor 30 Jahren schrieb Richard Dawkins sein Buch "The Selfish Gene" (dt. "Das egoistische Gen"). Daraus läßt sich wunderbar erklären, weshalb jeder mögliche Ansatz einer Veränderung und Perfektionierung des menschlichen Genoms die meisten lebenden Menschen in helle Empörung versetzt. Man könnte sogar den weniger Empörten einen Mangel an gesundem Instinkt vorwerfen, da sie sich offenbar nur ungenügend mit ihrer weiteren Verwandtschaft identifizieren.

Ein transgener Mensch, egal mit welchen Eigenschaften, wäre durch einen Sprung von uns entfernt, der weiter ist als jeder individuelle oder rassische Unterschied. Es ist nur natürlich, wenn wir bei diesem Gedanken mental unsere Stacheln aufrichten oder zumindest Augen und Ohren zuhalten wie die berühmten drei Affen.

Was sich aufbäumt, ist ein ähnliches Empfinden, wie es früher viele Menschen gegen den Anblick fremdartiger Völker hatten - nur heimlicher und schlimmer, weil die gefürchteten Wesen noch gar nicht erschienen sind und weil es nicht unbedingt Menschen sein werden. Daneben gibt es die Ufo-Liebhaber, die solche Vorstellungen genießen. Das sind die Dümmsten und die Klügsten. Und es sind nicht die, die in der Debatte gehört werden. Je kleiner der Abstand zu anderen Rassen und Völkern in Folge der Globalisierung wird, desto stärker betont man das "Menschsein" als oberste Qualifikation. Genau wie in den Nationen gibt es hier eine "selbstsüchtige" Solidarität, wenn es gegen die Gefahren der Gentechnik geht. Es ist die Bedrohung einer fremden, bislang noch unvorstellbaren Spezies, die uns die Herrschaft auf Erden streitig machen könnte.

Gegenüber dieser Zukunftsvision erscheint nun der alte Abtreibungsarzt geradezu mittelalterlich. Wie ein Junge, der Nester ausnimmt, zerstört er, was die Natur auf den Weg gebraucht hatte. Mag das im strengen Sinne Mord sein, so ist Mord doch keineswegs das schlimmste Verbrechen, das ein Mensch begehen kann. Das Schlimmste ist, wir wissen es aus der Bibel, "sein zu wollen wie Gott". Und genau das wird auch schon mit der Stammzellforschung assoziiert. Realistisch mögen solche Befürchtungen zwar (noch) nicht sein, doch erst sie geben der Debatte ihre ethische Brisanz. Embryonen opfern, erst recht solche im Frühstadium, das dürfte doch wirklich kein Thema mehr sein, wo jährlich Hunderttausende abgetrieben werden. Die ganze Stammzelldebatte ist eine Stellvertreterdebatte. Es geht nicht um das Schicksal von Embryonen, es geht um die Zukunft des Menschen.

Wer die Stammzellforschung und die daran anknüpfenden Möglichkeiten konsequent ausschalten will, müßte zunächst einmal die Abtreibung und dann die künstliche Befruchtung wieder verbieten. Und wenn diese schon vorgenommen wird, dürfte man die Embryonen nicht einfrieren, sondern müßte sie gleich in den Ausguß spülen. In jedem Fall dürfte man sich nicht mehr an menschlichen Interessen orientieren, weder denen der Lebenden noch der Ungeborenen, sondern nur noch an dem Interesse "des" Menschen. Doch dazu sind wir viel zu sehr Individualisten.

 

Dr. Angelika Willig, Jahrgang 1963, studierte Philosophie und Lateinische Philologie in Freiburg und München.


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