© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/03 14. November 2003

Bloß nicht mehr denken!
Erinnerungskultur: Negative Mythen stiften keine Tradition, sondern zerstören sie
Günter Zehm

Allmählich, so scheint es, erhält der Volkstrauertag, der jeweils im November zusätzlich zum Totensonntag über uns kommt, seine alte, ihm ursprünglich zugemessene Gestalt zurück. Das ist erfreulich und verdient, genauer betrachtet zu werden.

Man erinnere sich: Am Volkstrauertag sollte nach dem Willen seiner Gründer ausdrücklich und in würdiger Form generell der Opfer der Weltkriege gedacht werden, der Geisterarmeen gefallener Soldaten über alle Fronten hinweg, der Toten des Bombenkrieges, der ruchlos Ermordeten und in den Lagern Umgekommenen. Unter der Herrschaft der 68er ist diese originäre Absicht dann immer mehr deformiert worden, so daß man in den offiziellen Reden nur noch der NS-Opfer gedachte, speziell der ermordeten Juden. Es gab nun Opfer erster und zweiter Klasse. Der Tag wurde "umfunktioniert", wurde zu einem Tag der "political correctness".

Jetzt schlägt das Pendel langsam zurück, und zwar ganz spontan, gleichsam als Naturprozeß und gegen den Willen der amtlichen Stellen, der politischen Parteien, der großen Medien und der meisten geweihten oder gesalbten Pfaffen. Schriftsteller lenken den Blick auf gespenstische Bombennächte, apokalyptische Schiffsuntergänge und grelle Vergewaltigungsexzesse gegen deutsche Frauen, und sie finden breiteste Resonanz. Filmemacher graben Dokumentarstreifen beispielsweise über das sich oft jahrzehntelang hinziehende Nachkriegsleid der deutschen "Kriegsgefangenen" (recte: Sklavenheere) aus und kriegen sie immer häufiger sogar gesendet. Ganze Katakomben geflissentlich übersehener Opfer treten ans Licht, Mitgefühl heischend, das schlechte Gewissen noch verbliebener gewissenhafter Historiker aufwühlend. Es ist wie ein Karfreitag der "Erinnerungskultur".

Erinnerungskultur - darunter verstand und versteht eine einflußreiche Gruppierung aus Historikern und Großpädagogen ein Projekt, an dem sie schon lange arbeitet und für das sie vom Staat aus vielerlei Schatullen hoch subventioniert wird. Es geht um nichts weniger als darum, den Deutschen einen neuen "Gründungsmythos" zu verpassen, und zwar einen negativen.

Die Deutschen sollen sich nicht mehr als Volk von dieser und jener Herkunft, dieser und jener, aus Frühzeit und Mittelalter stammender Sagen- und Schriftüberlieferung, Geistes- und Sozialtradition definieren, sondern ausschließlich als "Volk der Täter", sprich: Volk der Mörder. Das "Dritte Reich" des Nationalsozialismus, obwohl gar nicht aus mythischen Tiefen stammend, sondern geschichtlich neueren Datums, wird zur unübersteigbaren Grenze aufgebaut, an der alle vorherigen geschichtlichen Züge angeblich seinslogisch und unheilträchtig enden und auf die sich alle gegenwärtigen Diskurse, pädagogischen Programme und Festreden gebetsmühlenartig und nach streng festgelegtem Ritus zu beziehen haben.

Die Interpretation des Dritten Reichs ihrerseits wird der historischen Forschung weitgehend entzogen. In den medialen Diskursen, Trainingsprogrammen und Festreden erscheint es nicht im konkreten historischen Kontext, sondern als brütendes Verhängnis, als Manifestation und Ausbruch einer mörderischen Kollektivseele. Deshalb ist in den Pandekten und Sendern nicht der auskühlende, trocken referierende Stil genuiner, vergleichender Geschichtswissenschaft angesagt, sondern die planvoll geschürte Dauererregung, die allerkräftigste Schwarzweiß-Malerei, die ewige Tribunal-Attitüde, gesichert durch schwerste Sanktionsdrohungen gegen Abweichler, welche sich nicht von vornherein gewissen Sprachregelungen fügen.

Es ist klar, daß sich die professionellen Betreiber solcher Mythisierung durch das jetzt aufgebrochene Interesse für die deutschen Opfer des Krieges und für die alliierten Kriegs- und Nachkriegsverbrechen empfindlich gestört fühlen müssen. Sie können es gar nicht begreifen und artikulieren sogleich die finstersten Verdächtigungen. Man dürfe "nicht vergleichen", zetern sie, man dürfe "nicht aufrechnen", deutsche und nichtdeutsche Opfer gehörten nie und nimmer "in den gleichen Topf" usw.

Die "Affäre Hohmann/Günzel" paßt genau in diesen Kontext, auch wenn an den inkriminierten Stellen des Hohmannschen Referats gar nicht an deutsche Opfer erinnert wurde, sondern an russische, ukrainische, weißrussische. Jene Millionen planvoll Erschossener und zu Tode Gehungerter kamen ins Bild, die von den Bolschewiken mitten im Frieden, ohne Kriegshandlung, umgebracht wurden, auf Kommando eiskalter Politkommissare, von denen viele nun einmal jüdischer Herkunft waren. Allein das Nennen dieser Tatsache genügte den Mythisierern, um Alarm zu geben und sich wieder einmal künstlich und ausführlichst über unzulässige Vergleiche und Aufrechnungen aufzuregen.

Dabei ging es, wie jeder nachlesen kann, gar nicht ums Aufrechnen, höchstens ums Zusammen-Addieren. Und vergleichen muß man auf jeden Fall; wer das Vergleichen verbieten will, der muß auch das Denken verbieten, denn Denken ist nun einmal Vergleichen, nämlich Gleichheitszeichen setzen, ein Subjekt durch eine Copula mit einem anderen verbinden. Doch hier liegt offenbar des Pudels Kern: Das Denken soll in der "Erinnerungskultur" durch den blinden Glauben ersetzt werden, der Logos durch den Mythos, das eigene Nachsehen durch die verordnete Ferndistanz zu irgendwelchen höllischen Altären, die von selbsternannten Priestern gehütet werden.

Dabei weiß man längst: Mythen sind notwendig, auch nationale Gründungsmythen, sie strukturieren das Leben bis in den kleinsten Alltag hinein, nicht weniger intensiv als rationale Überlegungen. Nur eben: Damit sie diese Wirkung entfalten können, müssen sie (wie man übrigens schon bei Roland Barthes in seinen schlichten "Mythen des Alltagslebens" nachlesen kann) positiv aufgeladen sein. Negative Mythen stiften keine Tradition, sondern zerstören sie. Bewahrt, erinnert und durch die Generationen fortgetragen werden nur positive Mythen, flankiert von kulturellen Ansehnlichkeiten, an denen man sich nötigenfalls aufrichten und wärmen kann.

Zu glauben, ein Volk, und sei es das deutsche mit all seinen Götterdämmerungen, werde sich je widerstandslos in die mythisch zurechtgemachte Tradition eines "Volkes der Täter", Volkes der Mörder, einfügen, deutet auf schlimme Hybris und Wirklichkeitsferne. Wer mit voller Absicht auf negative Traditionsstiftung aus ist, muß naturnotwendig damit rechnen, daß eines Tages in einem spontanen, von unten kommenden Erinnerungsprozeß einiges richtiggestellt wird.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen