© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 47/03 14. November 2003

Das dankbare Opfer
Fall Hohmann: Die CDU bewies schon in den Fällen Jenninger und Heitmann, daß sie auf Kampagnen gegen Parteimitglieder keinesfalls resistent reagieren kann
Peter Freitag

Nachdem sich die Schlinge um den Hals des Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann (CDU) zugezogen hatte, wurden seinen Fraktionskollegen Henry Nitzsche und Axel Fischer Fallstricke ausgelegt. Wer als Unionspolitiker dem Volk aufs Maul schaut und mit seinen Aussagen der "herrschenden Meinung" widerspricht, löst ein immer gleiches Ritual aus: Dem medialen Aufruhr, nicht selten inszeniert vom politischen Gegner, folgen in rascher Folge jene besorgten oder empörten Parteifreunde, die unverzüglich eine "Distanzierung" einfordern, den "Rücktritt" vom Amt oder Mandat nahelegen oder ein Schweigegebot erlassen.

Daß man sich - wie im Fall Hohmann - mit einer einzigen Rede um die Fortsetzung der eigenen politischen Karriere bringen kann, hat bei den Christdemokraten eine Tradition, die sogar noch älter ist als die Bundesrepublik. Nachweislich erster Protagonist solchen Unglücks war der CSU-Mann Johannes Semler, Vorgänger Ludwig Erhards als Direktor des bizonalen Frankfurter Wirtschaftsrates. 1948 hatte sich Semler während einer Rede in Erlangen über die Qualität amerikanischer Lebensmittellieferungen mit den geschichtsträchtigen Worten beschwert: "Was hat man uns getan? Man hat uns Mais geschickt und Hühnerfutter, und wir zahlen es teuer. Bezahlen es in Dollar aus deutscher Arbeit und deutschen Exporten. Und sollen uns noch dafür bedanken. Es wird Zeit, daß deutsche Politiker darauf verzichten, sich für diese Ernährungszuschüsse zu bedanken." Immerhin blieb der Union damals die aufwendige Ausübung innerparteilichen Drucks erspart; da nicht wie heute allein den Politikern, sondern dem ganzen Staat die Souveränität fehlte, entließ die amerikanische Militärverwaltung durch einfache Order den allzu drastischen Anwalt deutscher Interessen aus seinem Amt. Der "Hühnerfutter-Semler" hatte sich damit zwar in die Herzen der darbenden Bevölkerung, aber auch politisch um Kopf und Kragen geredet.

Jenningers politisches Grab gruben ihm die Parteifreunde

Gut vierzig Jahre später widerfuhr dem CDU-Politiker Philipp Jenninger das ähnliche Schicksal, wegen einer - im doppelten Sinne des Wortes - "historischen" Rede aus dem Amt gedrängt zu werden. Am 9. November 1988 hatte Jenninger als Bundestagspräsident die Feierstunde des Parlaments aus Anlaß des fünfzigsten Jahrestages der antijüdischen "Reichskristallnacht"-Pogrome geleitet und war in seiner Ansprache "für manche fortschrittlichen Gemüter zu deutlich auf die Ursachen des Nationalsozialismus" eingegangen, wie die FAZ damals kommentierte. Bereits während seiner schon kurz darauf als "unselig" bezeichneten Rede waren die Abgeordneten der Grünen sowie Teile der SPD- und sogar der FDP-Fraktion unter Protest aus dem Hohen Haus gezogen, um lautstark ihren Unmut über Jenningers Wortwahl zu äußern. Seine Schilderungen der Ereignisse seien, so die Vorwürfe, ohne "erkennbare Distanzierung" vom nationalsozialistischen Vokabular, ohne Gespür für die "Empfindsamkeit der Opfer" gewesen. Ein FDP-Parlamentarier, immerhin Koalitionspartner der Union, verstieg sich gar zu der Formulierung, der Präsident sei "mit geistigen Knobelbechern durch die Geschichte" marschiert. Die harsche Kritik entzündete sich beileibe nicht an etwaigen sachlichen Falschaussagen oder fehlerhaften Rückschlüssen; dem Redner wurde zudem seine "lautere Gesinnung" allgemein bestätigt. Selbst seine Gegner konnten und wollten Jenningers eingangs der Rede ausgedrückten Schuldbekenntnisse nicht verschweigen oder ihre Ernsthaftigkeit in Zweifel ziehen. Es sei nur eben unsensibel und dem Anlaß nicht gemäß gewesen, vom "Faszinosum" Hitlers zu sprechen und davon, daß im Bewußtsein der Zeitgenossen doch zwischen 1933 und 1938 "tatsächlich eine Revolution" stattgefunden habe. Der Spiegel meinte dazu: "Auch wenn seine Worte als eine kritische Auseinandersetzung mit dem Schreckensregime der Nazis gemeint war - Jenningers mißglückte Vergangenheitsbewältigung mußte zu dem Mißverständnis führen, er habe die Haltung der Deutschen in der Nazi-Zeit entschuldigen wollen."

Daß die damaligen Oppositionsparteien SPD und Grüne, daraufhin Jenningers Rücktritt von seinem Amt forderten, verwundert nicht weiter. Neben ihrer ideologischen Differenz zum Gesagten, die den überparteilich fungierenden Bundestagspräsidenten damit in ihren Augen untragbar erschein ließ, mag dabei auch der Wunsch federführend gewesen sein, der schwächelnden Kohl-Regierung eins auszuwischen. Die Spannungen zwischen Union und FDP kamen diesem Unterfangen gerade recht, außerdem plagten den Kanzler sinkende Umfragewerte und Regierungskrisen in den unionsgeführten Ländern Rheinland-Pfalz und Niedersachsen (die einige Zeit später tatsächlich zum Machtverlust der CDU dort führten). Doch hätte Jenninger all dies kein wirkliches Kopfzerbrechen bereiten müssen, denn eine Abwahl des Bundestagspräsidenten ist nicht möglich; man hätte die Sache aussitzen können, bis Gras darüber gewachsen wäre; die Erfordernisse des parlamentarischen Alltags hätten einen dauerhaften Boykott des Mannes an der Spitze des Parlaments unmöglich gemacht. Man hätte sich mit Jenningers Entschuldigung, er habe es nicht so gemeint, wie seine Rede verstanden worden sei, und es tue ihm leid, wenn er Gefühle verletzt habe, abfinden können. Man hätte.

Denn Jenningers politisches Grab wurde von den eigenen Leuten geschaufelt, deren Verhalten richtungsweisend in das für solche Fälle angewandte Exerzierreglement der Union Eingang finden könnte. In der eigenen Fraktion herrschte im Anschluß an die Gedenkfeier einhellig "Betroffenheit" und "Entsetzen"; während ihrer Sitzung, so berichtete später eine Abgeordnete, habe es niemanden gegeben, der die Rede verteidigen wollte. Zunächst hatte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Theo Waigel noch taktierend vorgeschlagen, Jenninger im Amt zu belassen und den Skandal in einer gemeinsamen Erklärung zu rügen. (Man beachte die Parallelität zu aktuellen Vorgehensweisen). Als jedoch neben SPD und Grünen auch der FDP-Fraktionschef Otto Graf Lambsdorff dem Präsidenten das Vertrauen entzog, war Jenningers Schicksal besiegelt. Die Unionsfraktion lehnte Waigels Vorschlag mehrheitlich ab. Und dahinter stand - trotz aller öffentlichen Beteuerungen der Treue zum Freund - kein Geringerer als Helmut Kohl selbst. Der nämlich sah nicht nur seinen ohnehin arg gebeutelten Koalitionsfrieden in Gefahr, sondern fürchtete auch um einen nicht unwesentlichen Anteil an außenpolitischem Renommee. Denn in der Woche nach dem Aufruhr um Jenninger stand eine Reise des Kanzler in die USA auf dem Programm, in deren Verlauf er Simon Wiesenthal anläßlich dessen 80. Geburtstag mit einer Rede in New York ehren wollte. Alles konnte Kohl auf dem Weg dorthin gebrauchen, nur nicht ein Bild seiner Partei, das der Spiegel wie folgt verzerrend malte: "Die Union, das machte Jenninger auf bedrückend einfältige, aber bezeichnende Art klar, wird die Schatten der Vergangenheit nicht los. Unter rhetorischen Floskeln, hinter bestem Willen und lauterer Gesinnung schimmern unübersehbar Denkfiguren rechten Spießertums, Weltbilder einer kaum belehrbaren Stammtischbrüderschaft." Die Sorge, ohne Jenningers Demission könne sein Auftritt vor amerikanischen Juden ein Fiasko werden, habe in Kohls Kalkül sicher mitgespielt, mutmaßte das Nachrichtenmagazin.

Ironie der Geschichte: Es war Jenninger, der überhaupt die parlamentarische Gedenkveranstaltung am 9. November für notwendig erachtete und gegen den Widerstand aus Teilen der Unionsfraktion durchgesetzt hatte. Inhalt und Duktus der Rede war als Auseinandersetzung mit der Parteirechten gedacht, die sich seinerzeit um den Fraktionsvorsitzenden Alfred Dregger scharte und die nichts mehr von der Vergangenheit hören wollte, so Jenninger empört. Dregger hatte doch schließlich die Deutschen aufgefordert, endlich "aus dem Schatten Hitlers herauszutreten". Zu allem Überfluß ist die Person Dreggers (der während besagter Bundestagssitzung krankheitsbedingt fehlte) wiederum einer der Schlüssel für die Tatsache, weshalb der Machtpolitiker Kohl seinen Freund Jenninger so schnell fallenließ: Kohl erhoffte sich, Dregger als Nachfolger des zum Rücktritt Gedrängten zu installieren, um den alten Konservativen politisch entsorgen und durch einen Kohl-Getreuen an der Spitze der Fraktion ersetzen zu können. Der gewiefte Dregger mag das geahnt haben und lehnte dankend ab.

Auch auf die aktuelle, vermeintliche "Hohmann-Affäre" trifft das Resümee zu, das Jenninger damals aus Anlaß seines erzwungenen Rücktritts zog: "Man muß daraus lernen. Nicht alles darf man beim Namen nennen - in Deutschland." Immerhin, das ist der wesentliche Unterschied zum aktuellen Fall, fand Jenninger auch publizistische Fürsprecher in der konservativen Tagespresse. So urteilte der FAZ-Herausgeber Günther Nonnenmacher damals (auch mit Blick auf den zwei Jahre zurückliegenden "Historikerstreit"), die zelebrierte Empörung sei "Symptom einer Verwirrung in der historisch-politischen Debatte in der Bundesrepublik".

Parteiliche Solidarität als Waffe nicht wahrgenommen

Wenig später zog denn auch der CDU-Bundesgeschäftsführer Peter Radunski nach eingehender Lektüre des Redemanuskripts und Sichtung der Post aus der Parteibasis, die im Adenauerhaus eingegangen war, die Notwendigkeit des Jenninger-Rücktritts in Zweifel. Aber was wogen solche Erkenntnisse angesichts der schlichten machtpolitischen Kosten-Nutzen-Rechnung des Oggersheimers!

Ähnlichen Mut zum Dolchstoß zeigte er fünf Jahre später, als am 25. November 1993 Steffen Heitmann (CDU) seinen Rückzug von der Kandidatur zum höchsten Staatsamt erklärte. Der Sachse Heitmann - zu DDR-Zeiten Kirchenjurist und Bürgerrechtler in der "Wende" - war beim damaligen Bonner Establishment auf Ablehnung gestoßen, nachdem er sich in seinen Bewerbungsreden als Unionskandidat für das Bundespräsidentenamt mit genuin konservativen Positionen vorstellte. Er plädierte dafür, "die Mutterschaft wieder mehr ins Zentrum der Gesellschaft zu rücken" (was Rita Süssmuth zum Schäumen brachte), hielt den "europäischen Bürger"‚ für eine "wirklich intellektuelle Spinnerei" (was Friedbert Pflüger zu offenem Widerstand herausforderte). Und zu allem Überfluß wagte er festzustellen, daß es mit der seiner Vergangenheit geschuldeten Sonderrolle Deutschlands auch mal ein Ende haben müsse: "Mit der deutschen Einheit ist die Nachkriegszeit zu Ende. Die Deutschen müssen ein normales Volk unter normalen Völkern werden." Als Kohl klar wurde, daß sich Heitmann mit seinen Positionen über die "als herrschend anerkannten Ansichten der Bundesrepublik, kurz gesagt über ihren Konformismus" (Friedrich Karl Fromme in der FAZ) hinweggesetzt hatte, daß aber nur mit konformen Positionen die knappe Mehrheit in der Bundesversammlung erreichbar war, ließ er den Unbequemen, allen Beteuerungen nach außen zum Trotz, fallen. Nahezu 100 Wahlmänner der Union hätten - so Mutmaßungen - gegen den eigenen Kandidaten gestimmt, vielleicht sogar für den SPD-Mann Rau, damit der aus Nordrhein-Westfalen verschwände und so Norbert Blüm der Landtagswahlkampf erleichtert werde. Daraufhin entzog Kohl dem Sachsen durch die Hintertür das Vertrauen, indem er ihm eine Vorstellungstour in die USA verbaute; Heitmann verstand und erklärte "aus selbständiger Entscheidung heraus" seinen Rückzug. Nach Analyse des Spiegel hatte den letzten Ausschlag für Kohls Entscheidung die Tatsache gegeben, daß kurz zuvor Vertreter jüdischer Organisationen ein Treffen mit Heitmann in Brüssel platzen ließen. Was blieb am Ende der "Affäre Heitmann"? Zwar wurden fraktionsintern die beiden Haupt-Torpedierer Süssmuth und Pflüger ob ihres intriganten Verhaltens schwer angegangen, doch während Heitmann politisch in der Versenkung verschwand, blieb Süssmuth bis 2002 im Bundestag und zählt Pflüger mittlerweile zu den profiliertesten Außenpolitikern der Union.

Die politische Linke lehrt und praktiziert den Grundsatz, wonach Solidarität eine Waffe ist. Warum verhält sich die Union nicht demgemäß? Die Sozialdemokraten mögen sich innerparteilich noch so oft in den Haaren liegen; droht Ungemach von außen, herrscht das Prinzip der "Schildkröte" römischer Legionen: Schilde hoch und Spieße voran. Trat Oskar Lafontaine auf Druck der Partei vom Amt des saarländischen Ministerpräsidenten zurück, als er 1992 unrechtmäßig erhaltene Bezüge zurückzahlen mußte oder ein Jahr darauf überführt worden war, einer lokalen Rotlicht-Größe Steuervorteile verschafft zu haben? Ließ die SPD ihren brandenburgischen Regierungschef Manfred Stolpe fallen, nachdem ihn 1993 seine Vergangenheit als Stasi-IM "Sekretär" eingeholt hatte und mit dem daraufhin erfolgten Rücktritt Marianne Birthlers sein Kabinett zu bersten drohte?

Beim Versuch, die Gründe zu erforschen, warum den Christdemokraten ein vergleichbares Beharrungsvermögen gegen Angriffe von außen fehlt, müssen an dieser Stelle Spekulationen reichen. Da mag zum einen die bei den Bürgerlichen mangelnde Fähigkeit, den politischen Gegner zu erkennen, mitverantwortlich sein und - daraus resultierend - der fehlende Wille, diesen Gegner zu bekämpfen; ihr grundsätzliches Unbehagen gegenüber Ideologischem, dem ein vermeintlich überlegener Pragmatismus entgegengesetzt wird. So ist in zahlreichen Studien festgestellt worden, daß die Union nie eine Programm- sondern immer mehr eine Regierungspartei gewesen ist, daß inhaltliche Debatten, die über sogenannte Sachfragen hinausgehen, keine Rolle spielen. Zudem sind die Christdemokraten eine relativ junge Partei ohne "Bürgerkriegserfahrung". Im Gegensatz zur Sozialdemokratie erlitten sie keine Verfolgung, haben sie keine "Märtyrer der Bewegung", die - wenigstens in Sonntagsreden - als Mahnung zur Geschlossenheit angeführt werden können. Der Union fehlt der integrativ wirkende Zentralismus, sie ist im eigentlichen Sinne nicht eine Partei, sondern besteht aus verschiedenen Landesverbänden und in Vorfeldorganisationen zusammengeschlossenen Interessengruppen. Letztere verlieren zwar zunehmend an Bedeutung, die potentielle Zersplitterung befördern sie dennoch.

So nimmt es nicht wunder, daß derartige innerparteiliche Antagonismen auch in den aktuellen "Affären" eine Rolle spielen. So sind beispielsweise die ersten heftigen Anwürfe gegen Martin Hohmann, Vertreter aus dem "rechten" Landesverband Hessen, von Vertretern des "liberalen" Nordrhein-Westfalen (Jürgen Rüttgers und Ursula Heinen) zu werten. Auch daß Hohmann, organisiert im "Bund der Selbständigen", vom Arbeitnehmerflügel CDA (Uwe Schummer) attackiert wurde, spielt eine ebensolche Rolle. Auch Henry Nitzsche bot mit seinen Äußerungen einen willkommenen Anlaß für den Vertreter des zahlenmäßig vollkommen unerheblichen Deutsch-Türkischen Forums in der Union, Bülent Arslan, sich zu profilieren.

Man mag nun die mangelnde Geschlossenheit der C-Parteien larmoyant bedauern, es wird sich kaum etwas daran ändern lassen. Ursächlich allerdings für das schnelle Fallenlassen all derjenigen, die insbesonders nach rechts ausscheren, ist heute wie früher in erster Linie eine Parteiführung, die weniger am inhaltlichen Streit um den Wahrheitsgehalt bestimmter Aussagen interessiert ist als vielmehr am makellosen Erscheinungsbild, welches Voraussetzung für den Machtgewinn oder -erhalt ist. Denn in der Anpassung, so lehrt nicht nur die Natur, liegt das Geheimnis des Erfolgs.


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