© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 48/03 21. November 2003

Der totale Wohlstand
Schöne Neue Welt: Zur Aktualität von A. Huxleys Utopie
Magdalena S. Gmehling

Es gibt natürlich keinen Grund, warum der neue Totalitarismus dem alten gleichen sollte. Ein Regieren mittels Knüppeln und Erschießungskommandos, mittels künstlicher Hungersnot, Massenverhaftungen und Massendeportationen ist nicht nur unmenschlich (darum schert sich heutzutage niemand viel); es ist beweisbar leistungsunfähig - und in einem Zeitalter fortgeschrittener Technik ist Leistungsunfähigkeit die Sünde wider den Heiligen Geist. Ein wirklich leistungsfähiger totalitärer Staat wäre einer, worin die allmächtige Exekutive politischer Machthaber und ihre Armee von Managern eine Bevölkerung von Zwangsarbeitern beherrschen, die gar nicht gezwungen werden brauchen, weil sie ihre Sklaverei lieben ..."

Prophetische Düsternis spricht aus diesen, dem Vorwort des Romans "Brave New World" entnommenen Zeilen. Vor fünfzig Jahren erschien er erstmals in deutscher Sprache.

Aldous Leonard Huxley, der am 26. Juli 1894 in Godalming, Surrey, geboren wurde und vor 40 Jahren, am 22. November 1963 in Hollywood starb, beschreibt in seinem Welterfolg das Zeitalter eines konsequent verwirklichten Wohlstandes. Totale Herrschaft garantiert der formierten Gesellschaft ein genormtes Glück. Der utopische Roman karikiert eine künftige und heute schon weithin verwirklichte degenerative Normalität. Huxley deckt die psychologischen Manipulationen auf, die jede Art von Individualismus als "asozial" erscheinen lassen.

Welch ungeahnte Wirkung seinerzeit das Werk des aus einer bedeutenden Gelehrtenfamilie stammenden und in Eton erzogenen Aldous Huxley hatte, mögen die Worte eines Zeitzeugen belegen. Ein mir verwandter hochbetagter Biochemiker, der ein Menschenalter in London lebt, versicherte kürzlich: "Wir standen in den dreißiger Jahren vor den Druckereien, um die ersten Exemplare der Schönen Neuen Welt farbfrisch zu ergattern. Huxley war für uns eine Offenbarung."

Nun lohnt es sich zweifellos, im Zeitalter menschenverachtender Klonversuche näher auf die utopischen Visionen des Engländers, der sich vom Satiriker zum Lebensreformer wandelte, einzugehen.

Wenn die Firma Clonaid samt Sektengründer Rael letztes Jahr mit dem angeblich ersten Klonkind protzt (wobei sie den Gennachweis schuldig bleibt), so kann jeder Belesene nur müde lächelnd konstatieren: nihil novi sub sole, es gibt nichts Neues unter der Sonne. Huxley beschreibt die Brut- und Normzentralen in seiner grausigen Voraussage. Das Bokanowsky-Verfahren erzeugt "identische Simultangeschwister, aber nicht lumpige Zwillinge oder Drillinge wie in den alten Zeiten des Lebendgebärens, als sich ein Ei manchmal zufällig teilte, sondern Dutzendlinge, viele Dutzendlinge auf einmal".

Angestrebt wird ein wissenschaftlich kontrolliertes Kastensystem. Die künstlich gezeugten Typen der Alphas, Betas, Deltas, Gammas und Epsilons werden durch ausgeklügelte Methoden der Sauerstoffzufuhr selektiert und bereits vor ihrer "Entkorkung" schichtspezifisch genormt. Hypnopädisch bemächtigt sich der Staat dieser Geschöpfe. "Bis endlich der Geist des Kindes aus lauter solchen Einflüsterungen besteht und die Summe dieser Einflüsterungen selbst der Geist des Kindes ist. Und nicht nur des Kindes, auch des Erwachsenen - auf Lebenszeit."

Diese polyandrische und empfängnisfreie Welt kennt kein Leid, alle Gefühle sind nivelliert und durch die Glücksdroge Soma kontrolliert. "Heutzutage ... arbeiten die alten Männer, erfreuen sich ihrer Geschlechtskraft, sind immer beschäftigt. Das Vergnügen läßt ihnen keine Muße, keinen freien Augenblick, um sich hinzusetzen und nachzudenken. Und selbst wenn sich durch einen unglückseligen Zufall eine Lücke in der ununterbrochenen Kette ihren Zeitvertreibs auftut, ist immer Soma zur Hand, das köstliche Soma. Ein halbes Gramm genügt ..." Auch der unvermeidliche, aber in körperlicher Jugendlichkeit erfolgende Tod ist rationalisiert. Leichen dienen der Phosphorgewinnung und nützen der Allgemeinheit. Bereits jeder Dreikäsehoch verbringt zwei Vormittage der Woche in einer Moribundenklinik. An Sterbetagen gibt es Schokoladencreme ...

Huxley, dessen Selbstversuch mit Rauschgift einstmals großes Aufsehen erregte, weiß, wie sehr ein Diktator die Verbindung von Drogen, Medien, sexueller Freiheit und Tagtraum schätzt, um seine Untertanen mit ihrem Los der Sklaverei zu versöhnen. Er legt dem Aufsichtsrat Mustafa Mannesmann die Quintessenz solchen Lebens im Luststaat des allmächtigen Ford in den Mund: "Siebeneinhalb Stunden leichter, nicht ermüdender Arbeit, dann die Soma-Ration, Sport und unbeschränkte Paarung und Fühlkinos. Was können sie mehr verlangen?"

Die Spannkraft der utopischen Handlung wird sichtbar in der Figur des "Wilden", Michel. Mit seiner Mutter Filine, der ehemaligen Geliebten des Brut- und Norm-Direktors, dem der Sohn äußerst peinlich ist, wird der junge Mann zu Forschungszwecken aus der Reservation in die Schöne Neue Welt verbracht. Während Filine, eine ehemalige Beta, unter Duftorgeln von Soma umwölkt stirbt, leistet Michel erbitterten Widerstand. "Ich brauche keine Bequemlichkeit. Ich will Gott, ich will Poesie, ich will wirkliche Gefahren und Freiheit und Tugend. Ich will Sünde."

In einem alten Leuchtturm probt der "Wilde" den Aufstand. Ihm bietet sich die Wahl eines wahnwitzigen oder primitiven Lebens. Sein simpler Masochismus endet in einer tobsüchtigen Bußorgie. Die kollektive Raserei holt ihn ein. Er erhängt sich.


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