© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/03 05. Dezember 2003

Vorkämpfer des islamischen Orients
Türkei: Bombenanschläge als Anlaß für eine neue Militärdiktatur? / Terrorpate und Premier einst in derselben Islamistengruppe
Ivan Denes

Als am 20. November die Nachrichten von der zweiten Serie der bluti-gen Terroranschläge in Istanbul eintrafen, waren sich die meisten Sicherheitsexperten sofort einig: Dahinter steckt das islamistische Netzwerk al-Qaida. Erst der Istanbuler Synagogen-Anschlag, jetzt das britische Generalkonsulat und eine britische Bank, und das während des Besuchs von US-Präsident George W. Bush in London: "Das sind klare Signale", so der Geheimdienst-Koordinator der Bundesregierung, Ernst Uhrlau.

Auch die türkische Regierung sieht inzwischen Verbindungen zu al-Qaida. Nach den bislang vorliegenden Informationen hätten die vier Selbstmordattentäter und die anderen in die Anschläge verwickelten Verdächtigen Kontakte zu al-Qaida gehabt, erklärte Vizepremier Abdullatif Sener letzten Montag.

"Zahnlose" Terrorgruppe aus dem Osten der Türkei

Das ist bestenfalls nur als halbe Wahrheit zu betrachten. Man kann die gesamte Entwicklung auch als einen klassischen Fall politischer Kurzsichtigkeit ansehen: Anfang Oktober kamen führende Figuren des türkischen Geheimdienstes mit westlichen Kollegen zusammen, um über die terroristischen Gefahren zu sprechen, die die Türkei bedrohen. Zu jenem Zeitpunkt betrachtete die US-Regierung die kurdischen Rebellen der Arbeiterpartei PKK-Kadek im Nordirak als eine Bedrohung der amerikanischen Nachschubtrassen und schien entschlossen, die etwa 5.000 Mann zählende Truppe der militanten linken Kurden zu zerschlagen.

Die türkischen Experten legten ihren Kollegen eine Liste mit den zehn bedrohlichsten Terroristenorganisationen im Lande vor. An erster Stelle stand natürlich die PKK-Kadek. An letzter Stelle auf der Liste stand eine Gruppierung, die seit 1984 unter den Namen "Front der Vorkämpfer des islamischen Orients" agiert (IBDA-C). Ein westlicher Teilnehmer fragte, ob die Bedrohung, die von der Front ausginge, nicht höher eingestuft werden müßte.

"Nein", antwortete einer der türkischen Vertreter: "Ich kann Ihnen persönlich garantieren, daß diese Organisation zahnlos geworden ist. Sie kann nichts mehr unternehmen. Alle ihre Mitglieder sitzen im Gefängnis von Metsian." Er bezog sich auf etwa 300 inhaftierte Mitglieder der Gruppe, einschließlich ihres Anführers, Salih Izzet Erdis ("Kampfname": Salih Mirzabejoglu), der 1998 festgenommen und seither in Einzelhaft gehalten wurde.

Am 15. November ließ die IBDA-C zwei Autobomben vor den Synagogen Neve Schalom und Beth Israel in der Bosporus-Metropole hochgehen. Der Planer und der Bombenbauer verließen das Land über den internationalen Flughafen von Istanbul drei Stunden vor der Explosion in Richtung Abu Dhabi, wo ihre Spur verschwindet; sie konnten offenbar nach Pakistan oder in den Iran weiterfliegen. Fünf Tage nach dem ersten Bombenmassaker schlug die IBDA-C wieder zu: Diesmal explodierten zwei Autobomben vor dem britischen Konsulat und dem Sitz der britischen HSBC-Bank in Istanbul. Innerhalb von nur sechs Tagen gelang es der "zahnlosen" Terrorgruppe, über fünfzig Menschen zu töten und fast 800 zu verletzen.

Wie aus Abwehrkreisen verlautet, besteht erst seit drei oder vier Jahren eine Beziehung zwischen IBDA-C und al-Qaida. Nachdem Mirzabejoglu und der größte Teil seiner Gefolgschaft verhaftet wurden, gelang es 50 bis 70 Mitgliedern der Organisation, aus der Türkei zu fliehen; sie gingen nach Afghanistan, Tschetschenien, Griechenland, Bosnien und Deutschland. In Afghanistan und in Tschetschenien übten einige türkische Terroristen den Schulterschluß mit al-Qaida und kämpften Seite an Seite mit den Männern Osama bin Ladens. Andere IBDA-C-Männer wurden in Bosnien weiter ausgebildet, während diejenigen, die nach Griechenland geflohen waren, unter die Fittiche dortiger Geheimdienstoffiziere gelangten, die die Organisation für Sabotagezwecken in der Türkei anwarben.

Endziel ist die Zerschlagung der laizistischen Republik

Trotz der Zusammenarbeit mit al-Qaida unterscheidet sich die IBDA-C von den islamischen Fundamentalisten. Ihr Endziel ist die Zerschlagung der 1923 gegründeten laizistischen Kemalschen Republik. Sie ist grundsätzlich antieuropäisch und gegen die Nato. Obwohl ihre Mitglieder Moslems sind, bekennt sich die Gruppe zu einer trotzkistischen Version des Kommunismus. Mirzabejoglu war in seiner Jugend Boxprofi und Mitte der siebziger Jahre aktives Mitglied der Jugendorganisation "Junge Kämpfer" der islamistischen Nationalen Heilspartei MSP.

Besonders pikant: Ab 1976 hieß der Istanbuler Chef der Jungen Kämpfer Recep Tayyip Erdogan, inzwischen Chef der "gemäßigten" Islamistenpartei AKP und seit 11. März 2003 türkischer Ministerpräsident. Der im April 2001 wegen versuchten gewaltsamen Staatsstreichs zum Tode verurteilte (inzwischen in lebenslang umgewandelt) Mirzabejoglu hat über 40 Bücher verfaßt. Er beschreibt seine "Lehre" als eine Mixtur von Plato, Hegel, Trotzki und Sufi-Islam, die verkündet, daß es keinen realen Unterschied zwischen Gut und Böse gibt und daß Allah den Willen des Menschen bestimme. Der Sufismus ist unter den türkischen Kurden besonders verbreitet, wodurch sich der IBDA-C ein guter Nährboden bietet. Das südanatolische Bingöl, aus der die Attentäter gekommen sind, ist eine Hochburg des Sufismus und des Derwisch-Ordens.

Die Frage, die zur Zeit die Nachrichtendienste beschäftigt: Wie kommen die Sufi-Kämpfer der IBDA-C aus einer anatolischen Kleinstadt zu solchen Mengen von Sprengstoff wie bei den vier Anschlägen eingesetzt? Wer hat ihnen das terroristische Handwerk auf so hohem Niveau beigebracht, daß ihnen das koordinierte, synchrone Zuschlagen gleich zweimal gelang? Welche Mengen von Sprengstoff stehen im Untergrund weiter bereit?

Diplomatische Kreise in Ankara behaupten, daß die Regierung gezwungen würde, den Notstand auszurufen, wenn es der Allianz von IBDA-C und al-Qaida gelingen sollte, zwei oder drei Großanschläge der Dimension der vier vorangegangenen durchzuführen. Dies wäre lediglich die Vorstufe zu einer weiteren Militärdiktatur. Schon jetzt wirke es bedenklich, daß in den Tagen nach den Anschlägen reguläre Truppen Seite an Seite mit der Polizei die Straßen der türkischen Städte abzusichern versuchen. Die letzte Machtübernahme der Generäle fand wegen einer Terrorwelle von Linksextremisten statt.


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