© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/03 05. Dezember 2003

Anspruchsdenken und Hilflosigkeit
Wohlfahrtsstaat: In den 40 Jahren ihres Bestehens ist die Sozialhilfe immer mehr zum gesellschaftlichen Notanker für Kinderarmut und gescheiterte Integration geworden
Ronald Gläser

Mitte November widmete die Süddeutsche Zeitung ihre Wochenendbeilage dem Thema Steuern. Unter der Überschrift "Steuern machen süchtig" eröffnete Deutschlands auflagenstärkste Tageszeitung einen Generalangriff auf den Sozialstaat. Bis in die politische Mitte hat sich herumgesprochen, daß die finanziellen Belastungen der Bürger durch hohe Steuern der Volkswirtschaft abträglich sind.

Auch die andere Seite des Sozialstaates, die Alimentierung immer weiterer Teile der Bevölkerung, gerät in die Kritik. Dies wurde deutlich, als das Statistische Bundesamt am 18. November seine Studie "40 Jahre Sozialhilfe" vorstellte. Mittlerweile ist eine ganze Generation von Menschen in Deutschland mit einem ausgeprägten sozialen Netz aufgewachsen. Die Anspruchshaltung vieler Deutscher und hier lebender Ausländer hat sich ebenso prächtig entwickelt wie viele Facetten der staatlichen Wohlfahrt. 24,7 Milliarden Euro wandten die deutschen Kommunen 2002 für Sozialhilfe auf.

Seit ihrer Einführung 1962 sind die Ausgaben der öffentlichen Hand kontinuierlich gestiegen. Mitte der siebziger Jahre erreichten sie die Fünf-Milliarden-Euro-Marke. In den achtziger Jahren explodierten sie exponentiell. Im Schnitt erhielt ein Sozialhilfe beziehender Haushalt 2002 monatlich 396 Euro.

Integration erfolgt vermehrt mit Geldern der Sozialhilfe

Mit der Wiedervereinigung, der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und dem Asylbewerberzustrom war Mitte der neunziger Jahre mit etwa 27 Milliarden Euro der Höhepunkt erreicht. Weil die Leistungen für Asylbewerber seit 1994 nicht mehr hinzugerechnet werden, fielen die Ausgaben vorläufig. 1,5 Milliarden Euro werden derzeit für 279.000 Asylbewerber zusätzlich aufgewandt. Seit dem Jahr 2000 steigen die Kosten für Sozialhilfe wieder. Ferner übernimmt seit Mitte der neunziger Jahre die Pflegeversicherung Aufgaben, die zuvor vom Sozialamt geleistet werden mußten.

Sozialhilfe wird in zwei Kategorien unterteilt: die Hilfe zum Lebensunterhalt und die Hilfe in besonderen Lebenslagen. Zu letzterer gehört die Hilfe zur Pflege, deren Kosten rapide sinken. Dafür stieg die Zahl der Hilfebedürftigen wegen Krankheit auf 626.000 Personen. Die Eingliederungsmaßnahmen für Behinderte umfaßten einen Personenkreis von 578.000 Menschen. Diese Hilfe in besonderen Lebenslagen stellt mit rund fünfzehn Milliarden den größeren der beiden Posten dar.

Stetig ansteigend und gesellschaftlich bedenklicher sind jedoch die zehn Milliarden Euro, die für Hilfe zum Lebensunterhalt von der Allgemeinheit geleistet werden. Dies sind die direkten Transferzahlungen in einer Größenordnung von 8,8 Milliarden Euro, die immer mehr Menschen zu Kunden des Wohlfahrtsstaates machen. 2,76 Millionen Menschen in Deutschland empfingen Ende 2002 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt - die Sozialhilfe im engeren Sinne.

Die 1,44 Millionen Haushalte, die ihr Einkommen allein oder teilweise aus Sozialhilfe beziehen, repräsentieren 3,3 Prozent der Gesamtbevölkerung. Unter Deutschen beträgt die sogenannte Sozialhilfequote 2,9 Prozent. Unter Ausländern liegt sie mit 8,4 Prozent deutlich darüber. 22 Prozent aller Sozialhilfeempfänger sind Ausländer. Sie erhalten 1,6 Milliarden Euro an Transferzahlungen. Die 1,5 Milliarden Euro, die an Asylbewerber nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ausgezahlt werden, sind darin noch nicht enthalten.

Der Ausländeranteil in Deutschland beträgt 8,9 Prozent. Unter den Sozialhilfeempfängerhaushalten liegt der Anteil von Ausländern jedoch bei 19,2 Prozent, die obendrein 22,8 Prozent aller finanziellen Leistungen in Anspruch nehmen. Daß 19,2 Prozent Ausländerhaushalte 22,8 Prozent der Leistungen erhalten, liegt daran, daß ein Ausländerhaushalt im Schnitt neunzig Euro mehr kassiert als ein deutscher Haushalt. Nur 63 Prozent aller Geldleistungen (Sozialhilfe plus Asylbewerberleistungen) gehen an Deutsche - darunter zählen natürlich auch die eingebürgerten Ausländer und Doppelstaatler. Zehn Prozent der Sozialhilfeempfänger aus dem Ausland sind Angehörige eines Staates der Europäischen Union. Die weitaus größte Gruppe sind jedoch Bürger aus anderen Staaten wie der Türkei oder aus dem arabischen Raum.

Die höheren Sozialleistungen für Ausländer begründet das Statistische Bundesamt wie folgt: Erstens sind Ausländer im Schnitt jünger als Deutsche, und Jüngere sind tendenziell stärker von Armut betroffen. Zweitens beträgt die Arbeitslosenquote 19,1 Prozent (der Durchschnitt lag im Jahr 2002 bei 10,1 Prozent). Und schließlich sind sie schlechter qualifiziert und damit nicht vermittelbar. Hinzu kommen noch Leistungen wie Kindergeld, die den oftmals kinderreichen Einwandererfamilien ebenfalls überproportional zugute kommen.

Mehr junge Familien, weniger Alte auf Hilfe angewiesen

Unter den Beziehern finden sich besondere Bevölkerungsgruppen, die teilweise langfristig von der Hilfe der Allgemeinheit abhängig sind - so zum Beispiel alleinerziehende Mütter. Insgesamt sind Frauen überproportional repräsentiert, ihre Zahl sinkt jedoch. Die Altersstruktur hat sich in den letzten Jahren stark verändert: Der Anteil der minderjährigen Bezieher von Leistungen ist seit der Einführung der Sozialhilfe leicht auf 37 Prozent gestiegen. Dafür ist die Anteil der Senioren (ab 65 Jahre) von 28 auf sieben Prozent gesunken. Altersarmut ist demnach weniger ein Thema unserer Tage. 1965 war jeder zweite Sozialhilfeempfänger über 50 Jahre alt.

Heute sind nur noch 19 Prozent aller Sozialhilfeempfänger älter als 50 Jahre. Damit ist die absolute Zahl zwar leicht gestiegen, aber der Anteil der Alten ist relativ gesunken. Dies ist dem exorbitanten Anstieg des Anteils der 18- bis 49jährigen geschuldet. Waren 1965 nur 18 Prozent der Sozialhilfeempfänger aus dieser Altersgruppe, so sind dies heute 44 Prozent. Die minderjährigen Sozialhilfeempfänger sind ebenso wie der hohe Anteil von Sozialhilfeempfängern in Großstädten ein Indiz für das Auseinanderbrechen der Familie als soziale Einrichtung. 2002 wohnten von etwa einer Million anspruchsberechtigter Kinder 558.027 bei einer alleinerziehenden Mutter. Zirka 344.000 wuchsen in Familien oder eheähnlichen Haushalten auf.

Die Gründe für den Bezug von Sozialhilfe liegen auf der Hand. Ausnahme-tatbestände liegen nur bei 25 Prozent der betroffenen Haushalte vor. Dies sind zum Beispiel Trennung/Scheidung, Kinderreichtum oder Suchtabhängigkeit. Die restlichen drei Viertel fallen unter die Kategorie "Erwerbstatus". Ende 2002 waren 732.000 Sozialhilfeempfänger im erwerbstätigen Alter arbeitslos gemeldet. Die Zahl derjenigen, die keine Arbeit finden, steigt absolut und im relativen Verhältnis zu den anderen Sozialhilfeempfängern. Eine Viertelmillion davon erhielten auch Leistungen nach dem Arbeitsförderungsrecht (also insbesondere Arbeitslosengeld und -hilfe).

Diese Sozialleistungen reichen nicht aus, um das "soziokulturelle Existenzminimum" zu gewährleisten. Die Bundesregierung ist mit der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe also auf dem richtigen Weg. Es gibt aber auch eine Reihe von Sozialhilfeempfängern, die noch ein anderes Einkommen haben. 3,5 Prozent haben eine nicht ausreichend bezahlte Vollzeit- und fünf Prozent eine Teilzeitstelle.

In der Summe sind dies 143.000 Menschen, für die Sozialhilfe nur eine zusätzliche Unterstützung darstellt. Dagegen sind 483.000 schon zu lange arbeitslos oder haben noch nie gearbeitet, so daß sie keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosengeld oder -hilfe haben. 118.000 gehen einer Aus- oder Fortbildung nach und können deswegen nicht vermittelt werden. Für weitere 277.000 trifft das gleiche zu, weil sie häuslich gebunden sind. Über 400.000 sind wegen Krankheit, Alter und ähnlichem nicht vermittelbar.

Wenngleich der Wohlfahrtsstaat immer bedrohlicher auszuufern droht, gibt es auch positive Trends. Ein beträchtlicher Teil der Bedürftigen ist bemüht und auch erfolgreich, sich aus der Bedürftigkeit zu befreien.

Die Sozialhilfe unterliegt einer erheblichen Dynamik. 43 Prozent der Ende 2001 Sozialhilfe beziehenden Haushalte waren Ende 2002 aus der Sozialhilfe ausgeschieden. Dafür sind jedoch 48 Prozent (gemessen am Endbestand 2001) neu hinzugekommen. Immerhin haben diese 43 Prozent - und sei es nur temporär - die Sozialhilfe verlassen. Alleinstehende Männer und Ehepaare mit Kindern weisen eine überdurchschnittliche Fluktuationsrate auf. Das beweist unter anderem, daß zumindest in Hinblick auf Familien mit Kindern das Sozialamt eine Einrichtung ist, die in akuten Notlagen hilft, ohne die Abhängigkeit vom Staat zu fördern.

Die 606.000 Haushalte, die die Bedürftigkeit überwinden konnten, hatten eine durchschnittliche Bezugsdauer von siebzehn Monaten. Insgesamt waren von den Ende 2002 arbeitslos gemeldeten Sozialhilfebeziehern 37 Prozent kürzer als ein Jahr arbeitslos gemeldet. Bedenken müssen jedoch die 31 Prozent verursachen, die seit mehr als drei Jahren keiner geregelten Arbeit nachgegangen sind. Zu ihnen gehören meistens gering oder gar nicht Qualifizierte. 44,7 Prozent der Bezieher von Sozialhilfe haben einen Hauptschulabschluß als höchste schulische Ausbildungsstufe absolviert. 51,2 Prozent haben keine Lehre oder Ausbildung.

Die Statistiker haben das Potential errechnet, das dem Arbeitsmarkt realistischerweise zur Verfügung gestellt werden kann. Von den 2,76 Millionen Sozialhilfeempfängern könnte eine Million sofort einer Arbeit nachgehen, weil sie keiner Fortbildung nachgeht, nicht häuslich gebunden ist etc. Die Menschen, die 2002 aus der Sozialhilfe ausgeschieden sind, lassen sich in zwei große Gruppen einteilen: Zum einen haben 37 Prozent eine Arbeit gefunden. Zum anderen handelt es sich um Menschen, die eine höhere staatliche Leistung in Anspruch nehmen, hier wird wohl insbesondere der Eintritt ins Rentenalter verantwortlich sein. Die restlichen Ex-Sozialhilfeempfänger hatten entweder schon einen schlecht bezahlten Job und haben jetzt einen besser bezahlten gefunden (sechs Prozent). Oder sie werden von privater Seite unterstützt (3,2 Prozent). 3,5 Prozent sind gestorben. 0,8 Prozent haben den Partner fürs Leben mit einer gefüllten Brieftasche gefunden. Weitere 12,6 Prozent haben ihren Wohnsitz ins Ausland verlegt.

Mitteldeutschland nähert sich dem hohen Westniveau an

Regional sieht die Entwicklung wie folgt aus: Der Osten hat sich mit 3,0 Prozent der Sozialhilfequote im Westen von 3,2 Prozent angenähert. Im Westen ist die Quote jedoch nur wegen des höheren Ausländeranteils so hoch. Im Osten ist es die Massenarbeitslosigkeit, die Ländern wie Sachsen-Anhalt eine Quote von 3,6 Prozent bescheren. Spitzenreiter ist Bremen (8,9), vor Berlin (7,4) und dem Saarland (4,3). Ansonsten gibt es im Westen ein Nord-Süd-Gefälle - analog zur Arbeitslosigkeit.

Studien haben gezeigt, daß jede staatliche Wohlfahrtsorganisation folgenden negativen Effekt in sich birgt: Die Menschen fangen an, sich so zu verhalten, wie das System zugeschnitten ist. Arbeitslose finden meistens dann wieder einen neuen Job, wenn ihr Anspruch auf Arbeitslosengeld ausläuft. Das liegt daran, daß sie so lange nicht danach suchen, wie sie öffentlich alimentiert werden. In den USA wird ein halbes Jahr lang Unterstützung gewährt. Kurz bevor die 25. Woche seit dem Leistungsbeginn erreicht wurde, finden die meisten US-Amerikaner wieder einen Job. Bei uns werden die meisten fündig, sobald ein Jahr herum ist.

Deshalb kann es richtig sein, daß in der jetzigen Reformdebatte auch Sanktionen gegen unwillige Arbeitsfähige anerwogen werden, denn nur etwa die Hälfte der Sozialhilfeempfänger schafft die Befreiung aus der Alimentierung, wenn sie erst einmal von ihr profitiert. Allerdings kann diese Politik nur einem Teil der Hilfebedürftigen weiterhelfen, da die meisten dem Arbeitsmarkt überhaupt nicht zur Verfügung stehen.


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