© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/03 12. Dezember 2003

Macht über Europa
Bundesstaat oder Staatenbund: Worum es bei der EU-Verfassung wirklich geht
Andreas Mölzer

Rechtzeitig vor der EU-Osterweiterung am 1. Mai 2004 wollte sich die Union eine Verfassung geben. Die italienische Präsidentschaft hatte ursprünglich den hohen Ehrgeiz, die Verabschiedung dieser Verfassung durchzusetzen. Nunmehr gibt man sich bereits bescheidener: Möglicherweise bekommen die Iren nach dem turnusgemäßen Wechsel an die EU-Spitze den Schwarzen Peter. Tatsächlich wird nämlich die Debatte um diese EU-Verfassung zunehmend zur Hypothek für die Europapolitiker.

Wie verfestigt die Fronten sind, zeigte sich zuletzt am Dissens zwischen Berlin und Warschau. Die Polen, die in Wahrheit nur unter Mithilfe der Deutschen (Stichwort: "historische Verantwortung") und beträchtlichen diplomatischen und finanziellen Anstrengungen die Anwartschaft auf die Aufnahme schafften, erweisen sich nun bereits bei erster Gelegenheit als überaus undankbare Nachbarn. Während Berlin nämlich eisern an der im Verfassungsentwurf vorgesehenen Konzeption von der "doppelten Mehrheit" festhält, will Neu-Mitglied Polen just das Gegenteil.

Diese doppelte Mehrheit bedeutet, daß für Beschlüsse des EU-Ministerrats 50 Prozent der Staaten und 60 Prozent der von ihnen repräsentierten Bevölkerung notwendig sein sollen. Damit würde die Einwohnerzahl entsprechend berücksichtigt, was naturgemäß den deutschen Einfluß gewaltig stärken würde. Polen, das nur etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerungszahl hat, will hingegen die derzeitige Regelung beibehalten, nach der es fast so viele Stimmen hätte wie Deutschland.

Insgesamt stellt sich die Frage, ob das EU-Europa sich im Falle der eher unwahrscheinlichen Annahme des Verfassungsentwurfs des EU-Konvents nicht unumkehrbar in Richtung Bundesstaat entwickeln würde. Eine konstitutionelle Bindung der Mitgliedsstaaten, aber insbesondere Abstimmungsmechanismen, die einzelne vor allem kleinere Mitgliedsstaaten majorisieren könnten, würden zwangsläufig zu mehr zentraler Unions-Macht führen. Bisherige Mechanismen, die die Union eher als Staatenbund auswiesen, gaben allen Mitgliedsstaaten mehr oder minder die gleichen Rechte und verhalfen insbesondere durch die Veto-Möglichkeit einzelner Mitglieder denselben zur Möglichkeit, eine Majorisierung durch die Mehrzahl der anderen EU-Mitglieder oder durch größere Mitgliedsstaaten zu verhindern.

Wenn nun ausgerechnet Österreich sich zum Sprecher der kleineren EU-Staaten machte, die die Beibehaltung des Prinzips "Ein Kommissar pro Mitgliedsstaat" verlangten, ist dies kein Zufall. Lange Jahrzehnte vor dem EU-Beitritt wurde die kleine Alpenrepublik nämlich immer vom größeren bundesdeutschen Nachbarn protegiert, wenn es um die Belange gegenüber der seinerzeitigen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) ging.

Bis zum Ende der Ära von Bundeskanzler Helmut Kohl galt dieses stillschweigende Einverständnis, wonach Wien von Bonn unterstützt wurde, wenn es um vitale Interessen innerhalb Europas ging. Seit dem Amtsantritt der rot-grünen Regierung Schröder/Fischer ist diese unterschwellige Verbundenheit vollends verschwunden. Nunmehr ist Österreich darauf angewiesen, Partner unter den übrigen kleinen Mitgliedsstaaten der Union zu finden.

Dänemark, Griechenland, Portugal und ähnliche EU-Mitgliedsstaaten haben allerdings in den meisten Belangen völlig andere Interessenslagen als Österreich. Dennoch findet man sich gegenwärtig im Versuch, eine allzu dominante Stellung der großen EU-Mitgliedsstaaten - speziell ein "Direktorium" aus Frankreich und Deutschland - zu verhindern.

Sollte die EU-Verfassung nicht angenommen werden, rechnen politische Beobachter mit einer stärkeren Tendenz hin zu einem "Europa der zwei Geschwindigkeiten". Frankreich und Deutschland - und je nach passender Regierungszusammensetzung noch die EWG-Gründungsstaaten Italien, Niederlande, Belgien und Luxemburg - würden sich dann wohl enger zu einem Kern-Europa zusammenschließen. Die übrigen Mitgliedsstaaten würden in einer gesonderten Entwicklung eher lose um diesen Kern kreisen. Ob die ins Haus stehende EU-Osterweiterung in einem solchen Fall überhaupt noch wirkliche Integration der betreffenden Staaten mit sich brächte, muß bezweifelt werden.

Bedenkt man weiter anvisierte Erweiterungsschritte der Union hinein in den tieferen Balkan, aber auch in Richtung Türkei und die Maghrebstaaten, wird klar, daß die EU ihre integrative Kraft vollends verlieren könnte. Da liefe die Mitgliedschaft bei der Europäischen Union Gefahr, ähnlich belanglos zu werden wie etwa eine Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen: nämlich alles und nichts zu bedeuten.

Eigentlich wären gerade die Deutschen durch ein Urteil ihres Höchstgerichts, das bekanntlich das künftige Europa als Staatenverbund definiert hatte, berufen, für eine Beibehaltung der nationalen Identitäten und Souveränitäten in der Union einzutreten. Die Berliner Bundesregierung aber macht sich zunehmend zu einem Vorkämpfer für einen europäischen Bundesstaat.

Daß Deutschland als mit Abstand stärkster Nettozahler innerhalb der Europäischen Union auch auf entsprechenden Einfluß in den Entscheidungsprozessen pocht und dies mit der Konzeption der "doppelten Mehrheit" glaubt erreichen zu können, mag verständlich sein. Gleichzeitig allerdings bewirkt es als Vorkämpfer einer Vertiefung der Union zunehmend auch einen eigenen Souveränitätsverlust.

Deutschland als EU-Musterknabe mag also einerseits an Gewicht innerhalb des künftigen integrierten Europas gewinnen, mit der Selbstauflösung aller eigenen nationalen Kompetenzen allerdings bewirkt es auch die Auflösung jenes Faktors, der da Einfluß nehmen könnte. Dies aber zeigt, wie konzeptionslos letztendlich die deutsche Europapolitik ist. Wer ständig lauthals und vollmundig betont, daß es einzig und allein von Bedeutung sei, von ganzem Herzen Europäer sein zu wollen, und die eigene Identität samt dem eigenen Staatswesen verleugnet, gibt letztlich auch jenen Faktor preis, für den er vordergründig um Einfluß innerhalb der Union ringt.

So wird die deutsche Volkswirtschaft wohl weiter zur primären Finanzierung der EU samt ihren Projekten herhalten müssen. Ob das deutsche Volk allerdings deshalb mehr Einfluß im Europa der Zukunft gewinnen wird, darf bezweifelt werden. Aber das scheint man in Berlin ohnedies nicht ernstlich zu wünschen.


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