© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/03 19. Dezember 2003 u. 01/04 26. Dezember

"Wir sind überall!"
Innere Sicherheit: Die richterliche Kontrolle über Telefonüberwachungen ist mangelhaft - Der Mißbrauch bestätigt alle Prognosen der Gegner des "großen Lauschangriffs"
Christian Roth

Es ist fast eine symbolische Zahl. 149 Seiten umfaßt der Regierungsentwurf. 149 Paragraphen beinhaltet er. Das Bundeskabinett hatte diesen Entwurf für ein neues Telekommunikationsgesetz (TKG) am 15. Oktober verabschiedet. Hintergrund ist ein Richtlinienpaket der EU-Kommission. Dieses will die rot-grüne Bundesregierung nun in nationales Recht umsetzen. Doch dieses Projekt ist seit langem heftig umstritten. Kritisiert werden vor allem die neuen Wettbewerbsregeln sowie die für die Unternehmen kostspieligen Überwachungsauflagen des Gesetzes. Vor allem die Deutsche Telekom geht auf die Barrikaden, beklagt eine "Verschlimmbesserung". Doch abseits von wettbewerbsrechtlichen und technischen Fragen steht auch die politische Tragweite auf der Tagesordnung.

Abhöraktionen werden zu Standardmaßnahmen

Telefonüberwachungen nehmen immer mehr zu. "Die richterliche Kontrolle ist mangelhaft, die Lauschaktionen kostspielig und viel zu oft von nur mäßigem Erfolg. Es gibt keinen Anlaß, dabei an der strikt rechtsstaatlichen und an den Grundrechten orientierten Ausrichtung der grünen Vorschläge zu zweifeln. Wir wollen die Qualität und Verantwortung der Richter für die von ihnen zu verantwortenden Grundrechtseinschränkungen der Überwachung der Telekommunikation erhöhen und sicherstellen, daß nicht mehr abgehört werden kann bei Bagatellen, die erkennbar nur mit Geldstrafen oder kurzen Freiheitsstrafen geahndet werden", forderte beispielweise der bayerische Grünen-Vorsitzende Jerzy Montag.

Nach übereinstimmenden Presseberichten weist die Statistik der Regulierungsbehörde für Telekommunikation für 2002 mit 21.874 Abhöraktionen gegenüber 2001 einen erneuten Anstieg um diesmal zehn Prozent aus. Mit der gleichen Konstanz kritisierte der Bundesdatenschutzbeauftragte Joachim Jacob erneut diese Tendenz und forderte zum wiederholten Male schärfere Kontrollen. Er habe den Verdacht, daß Abhöraktionen inzwischen zu "Standardmaßnahmen" von Sicherheitsbehörden geworden sein könnten, sagte Jacob. Insbesondere nach den Anschlägen in den USA am 11. September 2001 scheint eine regelrechte Hysterie ausgebrochen zu sein. Die Hatz nach wahrhaftigen und mutmaßlichen Terroristen scheint keine Grenze mehr zu kennen. "Das ganze ufert aus", findet auch der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle und mahnt zu Nachdenklichkeit: "Es widerspricht den Grundsätzen einer liberalen Demokratie, daß bei jeder Kleinigkeit das Telefon angezapft wird."

Datenschützer Jacob fühlt sich durch die neuen Zahlen in seiner Forderung nach einer Erfolgskontrolle bestätigt. "Wir müssen endlich herausfinden, was die wahren Gründe für diesen Anstieg sind." Der Anstieg läuft parallel zu den Bemühungen, die rechtlich zulässigen Überwachungsmöglichkeiten immer mehr auszudehnen, wie es in einem im Oktober verabschiedeten Entwurf zur Novelle des Telekommunikationsgesetzes und der daran gekoppelten Telekommunikationsüberwachungsverordnung (TKÜV) umgesetzt worden ist.

Von einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Journalistenüberwachung fühlen sich neuerdings diejenigen bestätigt, die auch auf die bisher ausgenommenen Telefone der Berufsgeheimnisträger wie Geistliche, Ärzte, Anwälte und Journalisten zugreifen wollen. Die Polizei darf seit dem höchstrichterlichen Urteil vom 12. März auf die Verbindungsdaten der Telefonate von Journalisten zugreifen. Voraussetzung ist, daß sie aus beruflichen Gründen in Kontakt mit gesuchten Straftätern stehen. Ein solcher Eingriff in die Pressefreiheit und das Fernmeldegeheimnis ist zulässig, wenn die Erfassung der Verbindungsdaten von Festnetztelefonen und Mobiltelefonen zum Aufenthaltsort eines gesuchten Verbrechers führen kann. Dafür verlangt der Erste Senat des höchsten deutschen Gerichts eine genaue Prüfung durch den zuständigen Richter.

Damals wurde die Klage von zwei Journalisten zurückgewiesen, auf deren Verbindungsdaten Ermittler zugriffen. Ein ZDF-Reporter hatte mit dem ehemaligen Baulöwen Jürgen Schneider telefoniert, der wegen Milliardenbetrugs gesucht wurde. In dem anderen Fall konnten die Ermittler anhand der Telefondaten einer Stern-Journalistin den Terroristen Hans-Joachim Klein auffinden. Nach Ansicht der Verfassungsrichter sind schwerwiegende Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis verhältnismäßig und zulässig, wenn die aufzuklärende Straftat eine wichtige Bedeutung hat. Außerdem müsse gesichert sein, daß der Journalist mit dem mutmaßlichen Straftäter Kontakt hat. Doch diesen Nachweis zu erbringen, ist mehr als schwierig. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht bestimmt, daß "Bagatellen von den Überwachungsmaßnahmen auszuschließen seien", doch auch dem Ersten Senat schwant Böses: "Die Kontrolle der Durchführungen muß gewährleistet sein."

Daran hapert es allerdings in der Bundesrepublik. Denn an vorderster Front stehen die Hardliner: Der bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU), der rechtzeitig vor der Landtagswahl im Freistaat im September die Zerschlagung einer "brauen Terrorgruppe" vermelden konnte, fordert schon länger ein generelles Abhörrecht. So berichtete der Spiegel Ende Mai, daß die CSU-Landtagsfraktion einen Entwurf zur Novellierung des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes vorgelegt habe, der erstmals in Deutschland die präventive Telefonüberwachung vorsieht. Konkret heißt das, daß die CSU-Fraktion dies auch bei Personen zulassen will, die lediglich von sogenannten Störern "bestimmte oder von ihnen herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben". Der Bespitzelung unverdächtiger Personen ist damit Tür und Tor geöffnet.

Die Strafverfolgungsbehörden lassen Sensibilität vermissen

Keine Berufsgruppe wird von den Schlapphüten verschont. "Wer nichts verbricht, hat nichts zu befürchten", tönt Beckstein und lobt das vorgeschlagene Verfahren in höchsten Tönen. So solle bei der Umsetzung "die Verhältnismäßigkeit" gewahrt werden. Doch daran zweifelt unter anderem der Bund Deutscher Zeitungsverleger (BDZV), der sich um die Pressefreiheit in Deutschland sorgt: "Wir fürchten nach diesem Urteil zur richterlich angeordneten Auskunft über Verbindungsdaten um das Vertrauensverhältnis zwischen der Presse und den Informanten", heißt es in einer Erklärung des BDZV. Die Hoffnung der Pressevertreter ist trügerisch: "Das Urteil beinhaltete den klaren Auftrag an den Gesetzgeber, den Informantenschutz zu stärken." Der Zusatz folgte auf den Fuß: "Die Erfahrung hat aber gezeigt, daß die Strafverfolgungsbehörden nicht immer die 'notwendige Sensibilität' zeigten, zwischen dem Grundrecht der Pressefreiheit und den Strafverfolgungsinteressen richtig abzuwägen."

Bis zu einer neuen gesetzlichen Regelung erwarten die Zeitungsverleger von den Ermittlungsrichtern eine noch strengere Prüfung. Fazit des BDZV: "Wenn Informanten und Journalisten stets mit der Möglichkeit rechnen müßten, von den Strafverfolgern geortet und abgehört zu werden, könnte die Presse ihre öffentliche Funktion nicht mehr erfüllen."

Der dem linken Grünen-Flügel zugeordnete Abgeordnete Hans-Christian Ströbele sieht in dem Urteil "eine Aufforderung an den Gesetzgeber, die seit langem geforderte Reform der Telekommunikationsüberwachung in Regierungskoalition und Parlament zügig anzugehen". Dabei sollen Journalisten und andere Berufsgeheimnisträger grundsätzlich weder gezielt noch als bloße Gesprächsteilnehmer abgehört werden. Auch will er den der Telefonüberwachung zugrunde liegenden Straftatenkatalog auf schwerwiegende Delikte beschränken. Ströbele fordert auch, daß in einer richterlichen Überwachungsanordnung die Verdachts- und Beweislage sowie die Abwägung der Belange der Betroffenen dargelegt und begründet werden soll. Er will damit Blankoschecks für die Staatsanwaltschaft verhindern. Auch sollen "nur besonders qualifizierte Richter" die Anordnungen unterschreiben dürfen.

Dabei verlaufen die staatlichen Abhöraktionen nicht immer pannefrei. Beispielsweise hatte es im Herbst 2002 nach Informationen der Frankfurter Rundschau einen schwerwiegenden Patzer gegeben. Demnach war aus Telefonrechnungen zu schließen, daß Anschlüsse abgehört wurden. Die Belauschten seien dafür sogar zur Kasse gebeten worden, berichtete die Zeitung. Die Verdächtigen, deren Telefon abgehört wurde, erhielten demnach von einem Mobilfunk-Anbieter ungewöhnliche Rechnungen. Sie enthielten eine Vielzahl von "abgehenden Mailbox-Verbindungen" zu der immer gleichen Festnetz-Rufnummer. Dabei handelte sich um eine Nummer, über die die Sicherheitsbehörden belauschte Gespräche aufzeichnen. Es gehe insgesamt um eine zweistellige Zahl von Rechnungen, darunter eine einstellige Zahl von Fällen, in denen das BKA selbst habe abhören lassen.

Betroffen sind nach Recherchen der Frankfurter Rundschau sowohl Abhöraktionen der Polizei als auch der Geheimdienste. Nach den gesetzlichen Regelungen dürfen Behörden nur unter strengen Auflagen bei Verdacht auf schwere Delikte wie Landesverrat, Geldfälschung, Mord oder Menschenraub Telefone abhören. Datenschützer Jacob beschleicht angesichts dieser Fehler ein mulmiges Gefühl. "Es darf nicht der Eindruck entstehen, daß die Bürger Freiwild sind, daß ein Gefühl der Repression entsteht." Doch die offiziellen Reaktionen bleiben kühl. Bundesjustizministerin Brigitte Zypries wies Jacobs Kritik umgehend zurück. Die Telefonüberwachung habe sich als "unverzichtbares und effizientes Mittel" zur Strafverfolgung erwiesen.

Eine Studie des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht widerlege auch die vielfach geäußerte Kritik, Deutschland sei der Überwachungs-Weltmeister. Im Vergleich mit anderen Ländern Europas liege Deutschland lediglich im Mittelfeld, sagte die Ministerin. Es gebe Deliktbereiche, in denen ohne die Überwachung der Telekommunikation eine Strafverfolgung unmöglich sei. Das gelte für die organisierte Kriminalität sowie für die Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Die Überwachung werde überwiegend bei schweren Straftaten wie Rauschgifthandel, Menschenhandel und räuberischer Erpressung eingesetzt.

In den vergangenen Jahren habe es bei Überwachungsanordnungen für Mobiltelefone wegen des geänderten Kommunikationsverhaltens der Bevölkerung eine Steigerung gegeben, während die Zahlen bei den Festnetzanschlüssen konstant geblieben seien. Allerdings sei die Überwachungsdichte von 1997 bis 2001 von 0,46 auf 0,32 je 1.000 Mobiltelefone zurückgegangen. Zudem sei die Anklagequote in Verfahren, bei denen Telefone überwacht wurden, mit 58 Prozent etwa doppelt so hoch wie in anderen Verfahren. Die Verurteilungsquote liege bei 94 Prozent. Der Bericht zeige aber auch Schwachstellen. So seien die richterlichen Anordnungen in vielen Fällen zu allgemein. Außerdem würden in fast zwei Drittel der Fälle die Betroffenen entgegen der gesetzlichen Pflicht nicht nachträglich benachrichtigt. "Da muß nun nachgearbeitet werden", kündigte Zypries an. Bei Fragen der Umsetzung des Gesetzes müsse man nun an die Länder herantreten, zudem müsse man auch einige Gesetzesregelungen überdenken.

Im Rahmen der Untersuchung wurden unter anderem 6.000 Praktikern aus Polizei, Staatsanwaltschaft und der Gerichte ein Fragebogen zugeschickt, den 46 Prozent ausfüllten und zurückschickten. Die Studie vom Max-Planck-Institut belegt allerdings auch, was lange befürchtet wurde: Die deutsche Lauschpraxis basiert auf einem permanenten Rechtsbruch. Die gesetzlich vorgeschriebene Information der Betroffenen nach Abschluß der Überwachungsmaßnahme erfolgt lediglich in 27 Prozent der Fälle. Auch der Richtervorbehalt funktioniert nicht als Korrektiv: Für ein umfangreiches Aktenstudium haben die Richter keine Zeit, die Zahl der abgelehnten Lausch-Anträge liegt im Promillebereich. Von den 21.874 Richterlichen Anordnungen auf Telefonüberwachung im Jahr 2002 dürften nach einer Hochrechnung des kriminologischen Instituts der Universität Münster knapp vier Millionen Bürger betroffen sein. Bei den abgehörten Anschlüssen müssen nämlich auch die Telefonpartner der Verdächtigen als Abgehörte gewertet werden. Diese Zahl bezieht sich ausschließlich auf die von Richtern nach den Paragraphen 100 a und b der Strafprozeßordnung angeordneten Abhörmaßnahmen. Geheimdienstliche Überwachungsmaßnahmen sind hierbei nicht erfaßt.

Keiner kann ausschließen, abgehört worden zu sein

Nach einer aktuellen empirischen Studie der Universität Bielefeld sind die richterlichen Anordnungen zur Telefonüberwachung (TÜ) in der Regel fehlerhaft. Otto Backes und Christoph Gusy haben anhand von 554 TÜ-Anordnungen ermittelt, daß 75,8 Prozent der Richterbeschlüsse unvollständig sind. In der Regel übernähmen die Richter wörtlich die Anträge der Staatsanwaltschaften (92,3 Prozent), die ebenfalls in der Mehrzahl unvollständig seien, beispielsweise aufgrund fehlender Begründungen für die TÜ. Telefonüberwachung wird von der Polizei ohnehin offenbar mittlerweile als Standardmaßnahme bei Ermittlungen angesehen. Auch Generalbundesanwalt Kay Nehm hat kürzlich deutlich gemacht, daß er das im Grundgesetz garantierte Fernmeldegeheimnis für überholt hält. Laut telefonierende Handybenutzer in Zügen, so Nehm, seien ein Zeichen, daß Telefonieren nicht mehr als vertraulich angesehen werde.

Angesichts dieser Einschätzung meldet sich auch die Bundesrechtsanwaltskammer zu Wort. Vizepräsident Ulrich Scharf warnte vor einer schleichenden Aushöhlung der Grundrechte durch eine Ausweitung des Überwachungsstaates. Die Überwachungen würden oft sehr leichtfertig und ohne die notwendigen rechtlichen Grundlagen durchgeführt, sagte Scharf und verwies auf die Studie der Uni Bielefeld, daß nur jeder vierte richterliche Abhör-Beschluß den gesetzlichen Kriterien entspräche.

Ausdruck dieser allgemeinen Tendenz seien die nach Protesten zunächst zurück gestellten Pläne der bayerischen Landesregierung, durch eine Änderung des Polizeirechts ohne konkreten Tatverdacht vorbeugend Telekommunikationsverbindungen zu überwachen. Derartige Versuche, die Bürgerrechte einzuschränken, wird die Anwaltschaft nicht hinnehmen, erklärte Scharf. Vielmehr müsse man zwischen Freiheit und Sicherheit eine vernünftige Balance finden. "Wir wollen vermeiden, daß wir uns immer mehr in eine Bunkermentalität begeben", betonte der Kammer-Vize und fügte hinzu: "Kein unbescholtener Bürger kann mehr ausschließen, daß er nicht schon längst abgehört wurde."


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