© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 01/05 31. Dezember 2004

Das Leben im leeren Raum
Semperoper: "Carmen"
Konrad Pfinke

Denn was nur lebt, will lieben" - es scheint, als habe die Carmen, die nun an der Semperoper zu erleben ist, diesen Satz Richard Wagners vollständig verinnerlicht, und nicht nur, weil die phänomenale Waltraud Meier auf der Bühne steht. Mit dieser Rolle, die sie vorher bereits an der New Yorker Met sang, fügt sie jener Figur, die doch angeblich zum Klischee geronnen ist, eine außergewöhnliche Farbe hinzu.

Mag sein, daß erst ihre Erfahrung mit den großen Bayreuther Rollen, der Kundry und der Isolde, auch zu einer speziellen, unverwechselbaren Zeichnung der Carmen-Figur führen konnte. Was wir in Dresden sehen, ist zumindest nicht die Figur, die immer noch in den verschiedensten Varianten der Vulgarität auf mancher Bühne zu sehen ist. Meiers Carmen ist nobel, stolz, geheimnisvoll, im besten Sinne vollweiblich, mit einem Wort: unglaublich erotisch und ausdrucksstark. Mit dem kleinen Finger vermag diese Sängerin immer noch mehr Personencharakterisierung zu geben als manche Trapezkünstlerin der "Liebe".

Diese Carmen ist nicht kompromißlos, weil sie frei sein will, sondern ihren Gefühlen ausgesetzt: Das macht sie zum Menschen, der in der höchst dramatischen Schlußszene zum bedauernswerten Nervenbündel geworden ist. Die Liebe kommt, die Liebe geht, was bleibt, ist die Angst. Das ist nicht tröstlich, aber wenn Meier die starke Frau - eine Frau von der Unbedingtheit einer Wagner-Heroine und der Sensibilität einer Bizet-Heldin - als fühlendes Individuum zeigt, ist's mehr wert als manch "heißer Kampf", der eher dem Schaubedürfnis als der Wahrhaftigkeit verpflichtet ist.

Es funktioniert schon deshalb, weil Meier sich mit ihrem Mezzo diesmal weniger auf gelind agressiven Höhen als in der souveränen Mittellage bewegt: selbst dann, wenn sie ihr "Chanson bohème" auf einer weitschwingenden Schaukel singt - und wie sie singt!

Nein, diese "Carmen" spielt, in der schauspielorientierten Inszenierung Konstanze Lauterbachs, nicht mehr in einem Phantasie-Sevilla, sondern im Zwischenraum des Irgendwo, in dem die Gefühle schon deshalb ständigen Schwankungen ausgesetzt sind, weil der Raum der Freiheit auch ein trostloser Raum der Leere sein kann - das Leben als antibürgerliche Existenz im fast leeren Raum, in dem sich die beeindruckende Choreographie des wie immer vortrefflichen Staatsopernchores unter dem Dirigenten Jacques Delacote ebenso entfalten kann wie das intime Spiel der Gefühle. Nur mit den Figuren des Don Quijote, des Sanco Panza und der Dulcinea erweist die Regie dem Mythos Spanien eine ironische Reverenz.

Zum Meckern war an diesem Abend wirklich kein Anlaß, weder vokal noch orchestral - nicht nur, aber vor allem dank Waltraud Meier.


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