© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 01/05 31. Dezember 2004

Die Mauer ist ihm vor die Füße gefallen
Ein ehemaliger Parteisprecher Helmut Kohls zerstört das Bild des Kanzlers der Einheit
Hans-Ulrich Pieper

Wenn ein ehemaliger Kollege über den gemeinsamen Chef ein Buch schreibt, wird man naheliegend neugierig. Wenn der Chef dann noch Bundeskanzler wurde und als "Kanzler der Einheit" in die Geschichte eingehen könnte, dann sind Fragen nötig - insbesondere, wenn man diese Geschichte anders erlebt hat.

Karl Hugo Pruys, in den siebziger Jahren Parteisprecher Helmut Kohls, hat jetzt ausgepackt. Und Pruys hat nicht nur die richtigen Fragen gestellt. Er gibt auch Antworten, die den Mythos des Einheitskanzlers fundiert in Frage stellen. Fünfzehn Jahre nach dem Fall der Mauer kommen in diesem Buch Tatsachen ans Licht der Öffentlichkeit, die eine Korrektur der Geschichtsschreibung erforderlich machen: die den heute weithin gefeierten "Kanzler der Einheit" ernsthaft in Bedrängnis bringen. Anhand aktueller Aussagen maßgeblicher Zeitzeugen schildert der Autor den Weg zur Einheit, den Kohl nicht sehen und gehen wollte. Er glaubte seine politische Führungsrolle in Gefahr, befürchtete, daß 17 Millionen vermeintliche DDR-Kommunisten ihn nicht wählen würden, und entsorgte deshalb die deutsche Einheit als "eine Frage, die nicht auf der Tagesordnung der Weltgeschichte" stehe. Kohls ehemaliger Pressesprecher belegt seine Angriffe auf die "Einheits-Legende" mit viel intimer Kenntnis:

Trotz des Umstandes, daß die Bonner Führung 1986 erste Hinweise erhielt, wonach die Sowjets "die Existenz zweier deutscher Staaten im Herzen unseres Kontinents für eine Anomalie" hielten, "die die Sicherheit Europas ernstlich bedrohte" (Eduard Schewardnadse), ging man in der CDU zunehmend von der Forderung nach der Wiedervereinigung ab. 1987 ist es noch der Intervention des Bundestagsabgeordneten Jürgen Todenhöfer zu verdanken, daß die deutsche Einheit als nationales Ziel überhaupt im CDU-Programm verbleibt. Kohl war bereit, sie sang- und klanglos unter den Tisch fallen zu lassen. "Die Einheit" findet als deutschlandpolitische Grundidee in der CDU-Programmatik seitdem nur noch unter "Vermischtes" einen Platz.

Bereits in den 1970er Jahren hatten die deutschlandpolitischen Ratgeber der Unionsführung immer wieder gefordert, Konzepte für den Fall der Wiedervereinigung zu veranlassen. Entsprechende Vorstöße des deutschlandpolitischen Referenten der CDU/CSU-Fraktion, Harald Rüddenklau, seines Kollegen bei der CSU-Parteiführung, Ekkehard Wagner, und des Rezensenten als Referent für Deutschland- und Ostpolitik im Konrad-Adenauer-Haus, stießen auf taube Ohren. Die Einheit sei "eine Frage der Geschichte" und stehe "nicht auf der Tagesordnung", und hinter vorgehaltener Hand kam stets - für "Parteisoldaten" - das Totschlagargument von der Unkalkulierbarkeit des Wahlverhaltens der DDR-Deutschen, die jeden Unionserfolg verhindern könnten.

Als 1989 dann die Mauer fiel, gab es weder in der Regierung noch in der Union ein Konzept für die Deutsche Einheit und mit dem 1:1-Umtauschkurs unsinnige Wahlgeschenke, die allerdings Kohls Wahlchancen steigen ließen. Den mangelnden Einheitswillen des Kanzlers bestätigen auch die zahlreichen Versuche, das DDR-System zu stabilisieren. Im Oktober 1988, etwa ein Jahr vor dem Fall der Mauer, erhöht die CDU-geführte Bundesregierung die Transitpauschale von 500 auf knapp 900 Millionen Mark. Sie verbindet diese großzügige Aufstockung der von Ost-Berlin dringend benötigten Devisen mit dem politischen Signal (Weiter so!) und einer - zunächst - zehnjährigen Garantie dieser Zahlungen. Und dies, obwohl jedem Transit-Reisenden offenkundig war, daß das Geld nicht in die Modernisierung der maroden Transit-Autobahnen gesteckt wurde.

Dem Kanzleramt liegen seit Mitte der 1980er Jahre Analysen des DDR-Devisenexperten Alexander Schalck-Golodkowski vor, wonach das SED-Regime exakt im Jahre 1987 einer unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit entgegensieht. Ein angeblich von Franz Josef Strauß "eingefädelter", in Wahrheit vom Kanzleramts-Staatssekretär Philipp Jenninger auf Kohls Geheiß (unter Einschaltung Strauß') lancierter Milliardenkredit hilft der maroden DDR über die buchstäblich letzte Runde. Zu alledem lehnt Kanzler Kohl im vertraulichen Gespräch mit Kreml-Chef Michail Gorbatschow am 24. Oktober 1988 in Moskau das Angebot ab, über einen Modus der Vereinigung des geteilten Deutschlands im Rahmen der bevorstehenden Umwälzung in Europa zu verhandeln. Streitpunkt bildet die Kreml-Forderung, ein vereintes Deutschland dürfe nicht der Nato angehören. Die Nato ist dem deutschen Kanzler, der dem Grundgesetz verpflichtet ist, wichtiger als die Einheit der Deutschen.

Diskret, aber zäh verfolgte die reformfreudige Sowjetführung ihre Deutschlandpolitik. Doch wie reagiert der Kanzler? Er ignoriert nicht nur die zunehmenden Signale der Moskauer Führung in Richtung Westen, sondern immer dann, wenn man ihn damit konfrontierte, kanzelt er selbst eigene Parteifreunde als "Tagträumer" und "Hirngespinste politisch Unfähiger" brüsk ab. Besonders hart traf es den CDU-Abgeordneten Bernhard Friedmann. Immer dann, wenn dieser hellhörige Parlamentarier den Kanzler bei dessen Auftritten in Fraktionssitzungen der CDU/CSU auf "Einheitssignale aus Moskau" hinzuweisen versuchte, pflegte Kohl nach Angaben von Sitzungsteilnehmern regelmäßig allergisch bis zu regelrechten Wutausbrüchen auf Friedmann zu reagieren.

Erstmalig bestätigt der damalige deutsche Botschafter in Moskau, Andreas Meyer-Landrut, jetzt die nachhaltigen Einheitsinitiativen der Russen: "Ich habe im März 1989 die bevorstehende Vereinigung in meiner Berichterstattung vorhergesagt und empfohlen, daß Bonn sich gedanklich-politisch darauf einstellt. Dies ist meines Wissens aber weder geglaubt noch sind irgendwelche Konsequenzen daraus gezogen worden". Pruys wirft dem Kanzler vor, insofern "wertvolle Zeit verstreichen zu lassen, die Einheit herbeizuführen". Mit Recht: Das Ost-Berliner Regime hat sich bekanntlich in seinem letzten Jahr von der unmenschlichsten Seite gezeigt, indem es Hunderttausende Deutsche mit oft brutaler Gewalt daran zu hindern suchte, dem Herrschaftsgebiet der NVA, Volkspolizei und Stasi den Rücken zu kehren.

Und auch längst nach dem Fall der Mauer will der deutsche Bundeskanzler die staatliche deutsche Einheit nicht. Am 28. November 1989 präsentiert Kohl - ohne Abstimmung mit dem Auswärtigen Amt und dem Vizekanzler Genscher - ein "Zehn-Punkte-Programm". Es schlägt "eine Konföderation" mit der DDR vor. Ein gefährlicher Plan, weil er die staatliche Wiedervereinigung auf Jahre hinaus verzögern konnte, wenn nicht sogar zu einem gänzlichen Abbruch des Vereinigungsprozesses geführt hätte. Denn dessen weitere Verzögerung durch die Schaffung völkerrechtlicher Strukturen der Zusammenarbeit, auf die eine Konföderation hinauslaufen mußte, hätte den Schwung der Entwicklung so abnutzen müssen, daß das Fenster der Geschichte wieder geschlossen wäre, bevor wir überhaupt gemerkt hätten, wie weit offen es stand.

1995 veröffentlicht der inzwischen aus dem Amt geschiedene Gorbatschow sein Erinnerungsbuch "Wie es wirklich war". Er wundert sich noch Jahre später, daß es Kohl mit der Einheit "überhaupt nicht eilig hatte". So habe dieser gefragt: "Was wird mit den Deutschen?" Und gleich selbst geantwortet: "Auf diese Frage muß die Geschichte antworten." Dann weist Kohl auf die Verbesserung der deutsch-deutschen Beziehungen hin: "Honecker weiß, daß ich nicht beabsichtige, ihm das Leben schwerzumachen." 

Foto: Kohl in Erfurt auf Wahlkampftour, Februar 1990: Mit der Einheit hatte er es überhaupt nicht eilig

Karl Hugo Pruys: Helmut Kohl. Der Mythos vom Kanzler der Einheit. Edition q im bebra Verlag, Berlin 2004, 136 Seiten, gebunden, 16,80 Euro

 

Hans-Ulrich Pieper war in den siebziger Jahren Referent für Deutschland- und Ostpolitik in der CDU-Bundesgeschäftsstelle.


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