© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/04 09. Januar 2004

Erdrutschsieg der Nationalisten
Serbien: Bei den Parlamentswahlen haben die bislang regierenden westlich-liberalen Parteien eine klare Niederlage erlitten
Carl Gustaf Ströhm

Tomislav Nikolic, "interimistischer" Chef der Serbischen Radikalen Par-tei (SRS), die bei den Parlamentswahlen am 28. Dezember 27,7 Prozent erreichte und die Anzahl ihrer Mandate von 23 auf 82 fast vervierfachen konnte, erklärte in einem seiner ersten Interviews, die "großserbische Idee" - wie sie Ex-Präsident Slobodan Milosevic verkörperte - sei an sich nicht schlecht gewesen, man habe sie nur nicht verwirklicht.

Jene SRS, die während der Kriege in Bosnien und Kroatien zutiefst in Kriegsverbrechen verwickelt war und die mit dem "Führer" Vojislav Sesselj (der sich in Haft des internationalen Jugoslawien-Tribunals in Den Haag befindet) als Spitzenkandidaten angetreten war, ist nun mit Abstand stärkste Fraktion im 250köpfigen Belgrader Parlament. Auch Ex-Heereschef Nebojsa Pavkovic und der frühere Vize-Innenminister Sreten Lukic hatten kandidiert, obwohl beide ebenfalls in Den Haag angeklagt sind.

Westliche Kommentatoren versuchten, die neue Situation zu bagatellisieren, indem sie erklärten, die SRS und die Sozialisten von Milosevic (8,0 Prozent, 22 Sitze/-15) würden keine Koalitionspartner finden und damit außerhalb einer künftigen serbischen Regierung bleiben. Die angeblich pro-westlichen und "europäischen" Kräfte hätten eine Mehrheit bekommen. Doch diese bislang regierenden Parteien gelten im einfachem Volke als Söldlinge des Westens und als korrupt. Auch die Demokratische Partei (DS) des ermordeten einstigen West-Lieblings Zoran Djindjic (DS) ist inzwischen in Korruptionsskandale verstrickt. Der DS werden auch Verbindungen zu "fragwürdigen Geschäftemachern" und kriminellen Kreisen vorgeworfen. So erhielt die DS trotz (oder wegen) ihres im Westen zur Ikone stilisierten Mordopfers Zoran Djindjic nur noch 12,6 Prozent (37 Sitze/-7) - ähnlich wenig wie die neue wirtschaftsliberale G-17-plus-Gruppe des Ex-Nationalbankpräsidenten Miroljub Labus (11,7 Prozent, 34 Sitze). Hier zeigt sich eine interessante Parallele zwischen den beiden slawisch-orthodoxen Nationen - den Russen und den Serben. Beide verpaßten bei jüngsten Parlamentswahlen den westlich-liberalen Kräften eine fast vernichtende Niederlage.

Koalition mit Nationalisten und Monarchisten möglich

Doch eine "gemäßigte" serbische Regierung wäre auf die Stimmen des als hypernationalistisch bekannten "Neo-Tschetnik" Vuk Draskovic mit seiner "monarchistischen" Serbischen Erneuerungsbewegung (SPO/NS, 23 Sitze) angewiesen. Das wäre eine ziemlich unsichere Verbindung. Draskovic wurde noch zu Lebzeiten des jugoslawischen Diktators Tito als Autor eines Romans mit dem Titel "Das Messer" bekannt, in dem er schilderte, wie bosnische Moslems ihr Messer in den Unterleib eines orthodoxen Serben stießen - um es dann genüßlich umzudrehen. Dieser Roman gilt als psychische Vorbereitung auf die Massaker von Srebrenica. Doch auch eine solche Dreier-Koalition hätte keine Mehrheit.

Denn inzwischen hat SRS-Chef Nikolic dem "gemäßigten Nationalisten" Vojislav Kostunica, der mit seiner Demokratischen Partei Serbiens (DSS) 18 Prozent und 53 Mandate erzielen konnte, ein Koalitionsangebot gemacht. Auch ohne die Milosevic-Sozialisten hätte eine solche Zweier-Koalition eine klare Mehrheit im Parlament.

Damit gerät Kostunica in die Zwickmühle: Akzeptiert er (was unwahrscheinlich ist) das "radikale" Angebot, verliert er jede Unterstützung im Westen und unter den Demokraten im Lande. Weist er aber das Angebot zurück, dann gilt er unter den frustrierten serbischen Volksmassen, die nicht nur von einem besseren Leben, sondern auch von der verlorenen Größe und Macht Serbiens träumen, in Verruf. Für Kostunica gilt der Spruch des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard: "Hänge dich auf, du wirst es bereuen; hänge dich nicht auf, beides wird dich gereuen."

Es sollte zu denken geben, daß die stärkste unter den "demokratischen" Parteien Serbiens zugleich "nationalistisch" ist. Hier zeigt sich das unauflösliche Dilemma serbischer Politik: Die Arbeitslosigkeit liegt bei 50 Prozent. Nur ein Wirtschaftswunder größten Ausmaßes könnte Serbien konsolidieren und die Träume von serbischer Größe und Macht verblassen lassen. Wie in seiner ganzen Geschichte leidet das Land unter der Tatsache, zu groß, um klein - und zu klein, um wirklich groß zu sein.

Schon jetzt zittern die vier potentiellen Koalitionspartner (DSS, DS, G17, SPO) davor, daß eine instabile serbische Regierung bald auseinanderbrechen könnte und Neuwahlen unvermeidlich würden. Diese aber könnten einen noch größeren Erdrutsch-Sieg der radikalen SRS mit sich bringen.

Zwar beschwichtigen Belgrader Politologen, daß der Weg Serbiens unvermeidlich nach Europa führen müsse - aber bis zum Erreichen dieses Endziels sind vielerlei unliebsame Überraschungen möglich. Man sollte nicht vergessen, daß die Serben mehrmals in ihrer Geschichte ziemlich "irrationale" Entscheidungen trafen: so 1914, als sie durch ihr Verhalten nach dem Mord von Sarajevo eine friedliche Lösung verhindern halfen und den Ersten Weltkrieg mit auslösten - oder auch 1941, als die Belgrader Volksmassen mit der Parole "Lieber König als Dreimächtepakt, lieber das Grab als die Sklaverei" den bis dahin ziemlich friedlichen Balkan in das größte Blutbad verwickelten.

Über zwei Millionen serbische Wähler haben radikal und damit anti-europäisch votiert - für die Zukunft ist das wenig verheißungsvoll.


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