© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/04 09. Januar 2004

Der Übergang vom Morast in den Sumpf
Kießling-Affäre 1984: Die Schmutzkampagne gegen einen General schwächte Truppe und Ministerium / Ein MfS-Spion zog an der entscheidenden Stelle die Strippen
Ortwin Buchbender

Bücher und Affären haben etwas Gemeinsames: Beide haben ihr jeweils eigenes Schicksal. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen immer die handelnden Personen, die in den Strudel der Ereignisse gezogen werden. Die Frage nach der Verantwortung oder Schuld der Beteiligten wird aus der Distanz der Geschehnisse immer wieder gestellt. Eine Affäre, die sich zu dem wohl spektakulärsten Sittenskandal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland entwickelte, war die sogenannte "Wörner-Kießling-Affäre" vor genau zwanzig Jahren.

Wie frühere oder spätere Skandale bis zur Gegenwart verläuft auch diese Affäre in ihren einzelnen Entwicklungsstadien nach dem alten Muster, das die Blindheit und Befangenheiten der verantwortlichen Personen deutlich werden läßt. Sie verlieren in unterschiedlicher Intensität den Blick für die Realitäten und werden letztlich das prominente Opfer ihrer eigenen mentalen Disposition, auf die die Aussage des griechischen Philosophen Heraklit von Ephesus (550-480 v. Chr.) zeitlos zutrifft: "Der Charakter ist das Schicksal des Menschen!"

Versucht man diese spektakuläre Affäre um einen Vier-Sterne General der Bundeswehr, der eine Bilderbuchkarriere durchlaufen hat, in verkürzter und vereinfachter Form nachzuzeichnen, präsentieren sich die deprimierenden Ereignisse in ihrem Ablauf wie eine antike Tragödie, die sich in ihrem letzten Akt zur Tragikomödie entwickelt. Es beginnt wie immer in ähnlichen Fällen unauffällig und harmlos mit einem Gespräch. Am 27. Juli 1983 treffen sich im Bundesministerium der Verteidigung auf der Hardthöhe in Bonn zwei Beamte. Es sind der stellvertretende Vorsitzende des Hauptpersonalrates, Werner Karrasch, und der Regierungsdirektor Artur Waldmann aus dem Amt für Sicherheit der Bundeswehr (ASBw), der Zentrale des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) in Köln. Während dieses Gesprächs erwähnt Karrasch beiläufig, daß General Günter Kießling, der Stellvertreter des Obersten Alliierten Befehlshabers in Europa, General Bernhard W. Rogers, offensichtlich homosexuell sei und daher wegen seiner Veranlagung nicht mehr von Rogers empfangen werde. Waldmann ist über diesen Hinweis hochalarmiert. Nach dem Gespräch verfaßt er einen entsprechenden Vermerk über die Aussage von Karrasch.

Der Abteilungsleiter I im ASBw, Oberst Oskar Schröder, ordnet daraufhin erste Ermittlungen zur Sicherheitsüberprüfung des General Kießling an, mit der er die MAD-Gruppe III in Düsseldorf betraut. Es soll gezielt in der Kölner-Szene recherchiert werden, die als ein Mekka für Homosexuelle bekannt ist. Diesen Auftrag erteilt der Leiter der Gruppe, Oberst Heinz Kluss, seinem Stabsfeldwebel Peter Idel, der persönliche Kontakte zur Fahndungsabteilung der Kölner Kriminalpolizei unterhält und diese hin und wieder mit Erfolg nutzen kann.

Den glückliche Zufall, daß zeitgleich die Mordkommission gegen den Mörder eines Strichjungen ermittelt, nutzt Idel geschickt für sein Anliegen und übergibt den Kriminalbeamten ein retouchiertes Foto von General Kießling. In der Nacht vom 5. auf den 6. September 1983 fahnden die beiden Kriminalbeamten Rösch und Simon nach dem Mordverdächtigten und nutzen die Gelegenheit, gleichzeitig unter Vorlage des Fotos in der einschlägig bekannten Homoszene im Café Wüsten und in der Disco Tom-Tom zu erkunden, ob die auf dem Foto abgebildete Person im Milieu bekannt ist. Sie landen offensichtlich einen Ermittlungsvolltreffer! Stabsfeldwebel Idel verfaßt einen Bericht, der in die Geschichte des MAD eingehen und selbst spektakuläre Geschichte machen wird. Aus diesem Grund soll er hier zitiert werden: "Durch geeignete Ermittlungen in der Kölner Homo-Szene konnte festgestellt werden: Café Wüsten: einschlägig bekannt als Lokal für 'Schwule und Lesben'. Hier wurde der zu Überprüfende aus einer Serie von Fotos eindeutig als 'Günter von der Bundeswehr' erkannt. 'Günter' sei bereits vor zwölf Jahren ein guter Gast gewesen, in den letzten Jahren sei er kaum noch erschienen.

Disco Tom-Tom: einschlägig bekannt als Disco für jugendliche Stricher und Straftäter. Auch hier wurde der zu Überprüfende eindeutig als 'Günter von der Bundeswehr' identifiziert. 'Günter' verkehre dort auch heute noch monatlich und pflege Kontakt zu jugendlichen Strichern gegen Bezahlung. Da die ersten beiden Anlaufstellen positiv waren, werden, um die Unruhe in der Szene zu vermeiden, weitere Ermittlungen nicht vor Ablauf von drei Wochen geführt."

Erkenntnisse waren zuerst als "nicht bewiesen" eingestuft

Diesen Bericht schreibt Idel auf rot umrandetes Schreibpapier, auf sogenanntes Austria-Papier, das als ein internes, vertrauliches Papier des MAD eingestuft ist und damit vom Inhalt her als "nicht bewiesen" oder "nicht vorhaltbar" beurteilt wird. Es ist mehr oder weniger eine Momentaufnahme ohne tiefergehenden Aussagewert, was zusätzlich die Tatsache verdeutlicht, daß der General selbst nicht genannt wird, sondern nur von einem "zu Überprüfenden" (z. Ü.) die Rede ist. Am 9. September berichtet Oberst Kluss dem neuen Amtschef des ASBw, Brigadegeneral Helmut Behrendt, über das Austria-Papier.

Wie Brigadegeneral Behrendt später vor dem Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestages aussagen wird, habe Oberst Kluss in einem zusätzlichen Vier-Augen-Gespräch von "einer eindeutigen Identifizierung der Generals" gesprochen, bei der "keinerlei Zweifel oder Bedenken" beständen. Der Bericht des Ausschusses vermerkt jedoch dazu: "Demgegenüber sagte Oberst Kluss aus, er habe das Ergebnis der Ermittlungen gemeldet, den Amtschef aber auf Schwächen der Meldung hingewiesen. Dieser Widerspruch in der Zeugenaussage konnte auch nicht durch Gegenüberstellung geklärt werden."

Diese unterschiedliche Bewertung eines Berichts, der lediglich den Stellenwert eines internes Papier für den Hausgebrauch des MAD besitzt, sollte nicht nur desaströse, sondern geradezu katastrophale Folgen für den weiteren Verlauf der Affäre bekommen. Er ist der eigentliche Auslöser des späteren Skandals. Brigadegeneral Behrendt meldet den Vorgang dem Bundesminister der Verteidigung, Manfred Wörner (CDU), indem er die eindeutige Identifizierung des Generals in der homosexuellen Szene betont. Wörner ist offensichtlich so beeindruckt, daß er über den Generalinspekteur Wolfgang Altenburg General Kießling am 15. und 19. September 1983 zu sich bestellt, ihn mit den Vorwürfen konfrontiert, die der General empört zurückweist und als zusätzlichen Beweis für seine Unschuld sein Ehrenwort gibt. Die Herren einigen sich schließlich auf einen Kompromiß. Der General solle sich ab 3. Oktober 1983 krankmelden und werde am 31. März 1984 mit einem Großen Zapfenstreich in den vorläufigen Ruhestand verabschiedet. Alle weiteren Ermittlungen sollten umgehend eingestellt werden.

Doch die Beteiligten haben ihre persönliche Rechnung ohne den Staatssekretär Joachim Hiehle gemacht. Hiehle, der den Ruf eines besonders gewissenhaften Beamten preußischen Formats besitzt, tritt seinen Dienst nach längerer Krankheit am 2. November 1983 wieder an, erfährt von dem "gentlemen's-agreement" zwischen Minister und General und ist entsetzt. Von der Schuld des Generals offensichtlich schon zu diesem Zeitpunkt nach Auskunft der Beteiligten überzeugt, kann er Wörner überreden, die Ermittlungen gegen den General wieder aufzunehmen und einen Abschlußbericht durch den MAD anzufordern. Dieser trifft allerdings ohne weitere Ermittlungen des MAD am 6. Dezember im Ministerium ein.

Ein übereifriger Staatssekretär entfachte den Skandal neu

Zum Erstaunen aller enthält dieser Bericht zum ersten Mal den eindrucksvollen Passus: "Durch den MAD veranlaßte Ermittlungen des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf bestätigen die behauptete Veranlagung des Dr. K. Er wurde in der Homo-Szene Köln eindeutig identifiziert. Das LKA ist gegebenenfalls bereit, durch polizeiliche Maßnahmen - Gegenüberstellung - die Beweisführung anzutreten." Das ist die entscheidende Aussage für die Entscheidung des Ministers, seine Zusage vom 19. September aufzuheben und General Kießling bereits am 31. Dezember 1983 in den vorläufigen Ruhestand zu schicken. Das Landeskriminalamt überzeugt: Die Vorwürfe gegen den General sind nun ganz offensichtlich hundertprozentig als zutreffend belegt.

Das Ende der Affäre ist allgemein bekannt. Im Januar entwickelt sie sich zu einem Medienskandal bisher unbekannten Ausmaßes, der in seiner düsteren Endphase letztlich durch groteske Fehlentscheidungen des Ministers bei der Auswahl von angeblichen seriösen Zeugen, die die Schuld des Generals beweisen wollen, sich aber als Betrüger entpuppen, so eskaliert, daß Bundeskanzler Helmut Kohl persönlich eingreift und die Rehabilitierung des Generals erzwingt. Sie erfolgte am 1. Februar 1984. Als politische Bauernopfer wurde Staatssekretär Hiehle in den vorzeitigen Ruhestand geschickt und MAD-Chef Berendt mußte die Führungsspitze räumen.

Der Medienskandal mit seinen politischen Auswirkungen führt zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses des Bundestages in "Sachen Kießling", der am 20. Januar 1984 seine Arbeit beginnt und am 7. Juni 1984 mit der Verabschiedung eines Berichts seine Arbeit beendet, in dem das ganze Ausmaß dieser Affäre in ihren grotesken Fehlentscheidungen und unberechtigten Verdächtigungen verdeutlicht wird. Besonders kennzeichnend für die allgemeine Stimmungslage ist der Kommentar des Vorsitzenden Alfred Biehle (CSU): "Wir haben den Übergang vom Morast in den abgrundtiefen Sumpf erlebt!"

Nicht bekannt war zu dem Zeitpunkt die Tatsache, daß Oberst Joachim Krase, der Stellvertretende Amtschef des ASBw und Leiter der Gegenspionage des MAD, ein Topagent des MfS seit 1973 war! Er stirbt im Juli 1988 an den Folgen eines Krebsleidens und wird erst offiziell im Oktober 1990 als Agent enttarnt. Nicht nur der Schock vor allem im Bereich der Bundeswehr, sondern auch das Medienecho sind beträchtlich! Allgemeiner Tenor der Pressemitteilungen (u.a.: Bild am Sonntag vom 21. Oktober 1990: "Auch im Fall Kießling hatte die Stasi ihre Finger drin!"; Kölner Express, 21. Oktober 1990: "Kießling-Affäre: Es war der Stasi!"; Welt am Sonntag, 21. Oktober 1990: "Stasi-Spion im MAD fädelte Affäre Kießling ein!") besteht in der Vermutung, daß das Ministerium für Staatssicherheit in Ost-Berlin über seinen Topagenten Krase die Affäre ausgelöst habe, um den Verteidigungsminister zu stürzen, was allerdings mißlingt.

MfS-Spion Krase hat die Falschmeldung begünstigt

Die Gerüchteküche kocht noch heute bei der Frage, wie Oberst Krase dieses angebliche Kunststück bewerkstelligt habe. Durch Zufall stieß der Verfasser bei der Durchsicht der Unterlagen auf ein interessantes Detail, dessen Brisanz in der Hektik der Ereignisse offensichtlich untergegangen ist. Wie bereits erwähnt, besaß das Landeskriminalamt in Düsseldorf, das als Ermittlungsbehörde eine Erfindung des MAD und damit eine spektakuläre Falschmeldung war, einen sehr hohen, wenn nicht den entscheidenden Stellenwert für den Beweis, daß General Kießling homosexuell sei. Der Ideenlieferant für diese Behauptung war nach der Aussage von Brigadegeneral Behrendt sein Vertreter, Oberst Joachim Krase!

Auf dem Epitaph von Oberst Johann Friedrich Adolph von der Marwitz in der Kirche zu Friedersdorf stehen die Worte "Wählte Ungnade wo Gehorsam nicht Ehre brachte." Nach der Aussage eines asiatischen Kollegen ist diese Aussage das bewegendste und überzeugendste Zeugnis für einen Offizier, der beispielhaft preußische Tugenden vorlebte. Ein damaliger Insider, der die Ereignisse aus nächster Nähe im Verteidigungsministerium miterlebte, meinte resigniert: "Leider gibt es heute keinen von der Marwitz mehr!" Auf der Todesanzeige von Oberst Joachim Krase, der am 24. Juli 1988 verstirbt, steht als Motto ein Zitat von Antoine de Saint-Exupéry aus dem "Kleinen Prinzen": "Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar." Ein Offizier des MAD meinte dazu. "Krase hätte für sich keine treffendere Aussage machen können!"

 

Dr. Ortwin Buchbender ist Militärhistoriker. Neben zahlreichen Publikationen hat er sich der Thematik auch in seinem Werk "Günter Kießling. Staatsbürger und General", Frankfurt 2000, gewidmet.


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